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Annette Seemann
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Von Annette Seemann
Die heute nur wenigen Lesern bekannte Autorin Gabriele Reuter (1859–1941) war zwischen 1895 und 1922 in Deutschland eine Bestsellerautorin und moralische Instanz, die die Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts gern für sich reklamierte. Vier Bücher von ihr, darunter ihr Roman von 1895, Aus guter Familie, wurden in 20 bis 25 Auflagen verkauft. Die Weltwirtschaftskrise der 1920er Jahre setzte der Karriere der Autorin ein Ende.
Die relativ späte (uneheliche) Mutterschaft im Alter von 38 Jahren war der große persönliche Einschnitt in Reuters Leben, doch bezeichnenderweise ist von dieser wichtigen Erfahrung in der Autobiographie nicht die Rede, endet Reuter ihre Lebensgeschichte mit dem Jahr des Erscheinens ihres Hauptwerks 1895 und der daran gekoppelten Übersiedlung von Weimar nach München.
Reuter schildert in diesem Buch ihre Entwicklung zur erfolgreichen Schriftstellerin und widmet es wichtigen Freunden, dem Bildhauer Max Kruse und seiner Frau Käthe, der berühmten Puppenmacherin. Ein Widmungsgedicht ist Lili zugedacht – sie ist die zumeist verheimlichte Tochter Reuters.
Der Leser erfährt von der märchenhaft anmutenden Kindheit Reuters in Ägypten. Sie ist das älteste Kind eines Import-Export-Kaufmanns und wächst in luxuriösen Umständen auf – regelmäßige Reisen nach Deutschland gemeinsam mit der Mutter und den (zuletzt) vier jüngeren Brüdern bieten abwechslungsreiche Szenarien. Ein sorgloses Leben, das jäh durch den plötzlichen Tod des Vaters unterbrochen wird: Der komplette Vermögensverlust, geschuldet der Unterschlagung eines im Familienbetrieb beschäftigten Verwandten bedingt den Absturz in Armut. Urplötzlich ist die Tochter zur Küchenmagd degradiert, ist auch ihr Bildungsweg unterbrochen, nicht jedoch ihr Bildungsdrang. Gabrieles Begabung zum Schreiben fiel schon zuvor auf, so scheint es nahe zu liegen, dass sie auf Anraten der Mutter die Haushaltskasse durch kleine Feuilletons aufbessert. Sie selbst jedoch träumt schon mit 14 Jahren von wahrer Schriftstellerkunst: »Mein Gesicht glühte, die Tränen brannten mir in den Augen, aber ich lächelte – nicht sorglos fröhlich, wie ein Kind zu lächeln pflegt – es mag wohl ein anderes Lächeln gewesen sein – ein hartes, starkes Lächeln, das da plötzlich an das Höchste, an die kühnsten Träume glaubte. – Von dem Abend an wusste ich, dass ich eine Schriftstellerin werden müsste.«
Bis dahin ist jedoch ein langer, zum Teil auch dorniger Weg zu absolvieren. Das zurückhaltende, zugleich stolze Wesen der jungen Gabriele macht ihr den Verkehr mit Menschen, auch solchen, die sie schätzt, nicht leicht. Insbesondere Verliebtheiten beantwortet sie mit ambivalentesten Reaktionen: Sie erlebt eine Jugend im wilhelminischen Kaiserreich mit all den Restriktionen und Prüderien, denen gerade die weibliche Jugend unterworfen wird. Reuters klarer analytischer Blick und ihr selbstdistanzierter Humor lassen sie Situationen und Zwänge im nachhinein klar durchschauen, doch Handeln war nicht ihre Stärke. Sie bezeichnet sich als energie- und zuweilen auch mutlos. Allein im Beschreiben zeigte sie dann jedoch bald großen Mut: Erbarmungslos kennzeichnete sie gerade auch in der Autobiographie die Lebenslügen der guten Gesellschaft. Das in der Jugend selbst Erlebte ging bald schon eins zu eins in ihre Bücher ein, und speziell die Parallelen zwischen den Szenen der Autobiographie und dem Roman Aus guter Familie sind zahlreich. Die wiederholten Schilderungen der Besuche in Weimar bei den Verwandten, schließlich jene der Übersiedlung in die Klassikerstadt beeindrucken: Nicht zuletzt beschreibt die Dichterin der weiblichen Seele ihre Verehrung Goethes glaubhaft. In zahlreichen intellektuellen Zirkeln Weimars erlangte sie die geistigen Anregungen, deren sie so bedurfte: Ihre durch Elisabeth Förster-Nietzsche vermittelte Nietzsche-Begeisterung und das Aufgreifen des damals hochaktuellen Naturalismus wurden zu den wichtigsten Ingredienzien ihrer intellektuellen Ausstattung: »Auf mich wirkte er [Nietzsche, A.S.] wie ein wundervoller Rausch. Zum erstenmal, seit ich die ›Moderne‹ studierte, wurde ich von einer starken Dichterkraft durch und durch geschüttelt. […] Hier öffneten sich Königreiche voll gewaltiger Schätze …«
Wer die wilhelminische Lebenswirklichkeit und die sich aus ihr heraus kontrovers entwickelnden kulturellen Strömungen aus weiblicher Perspektive betrachtet kennenlernen möchte, wer sich stärker mit den intellektuellen Netzwerken in Weimar und München kurz vor der Jahrhundertwende beschäftigen möchte, wird die Lektüre von Gabriele Reuters Autobiographie als großen Gewinn ansehen.
Abb. 1: Bucheinband / Abb. 2: Aufnahme um 1896, unbekannter Fotograf.
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