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Literarisches Thüringen um 1800
Christoph Schmitz-Scholemann
Thüringer Literaturrat e.V.
Goethe, Wieland, Schiller, Herder – viele große Schriftsteller kamen von überallher nach Thüringen und machten hier ihr Glück. Bei Jakob Michael Reinhold Lenz war das genaue Gegenteil der Fall. Sein halbes Jahr in Weimar und Umgebung 1776 war für ihn der Beginn eines tragischen Abstiegs.
Jakob Michael Reinhold Lenz, der »arme Lenz«, wie man ihn mitleidsvoll nannte, hatte seine großen Werke schon geschrieben, als er, 25jährig, nach Weimar kam. Die Stücke »Die Soldaten« und »Der Hofmeister« galten und gelten als die Haupt-Geniestreiche des ewig unangepassten Lenz und werden bis heute immer wieder aufgeführt, bearbeitet, vertont und verfilmt. Die Stücke sind ein Kondensat aller Sehnsüchte und Verstörungen der Jugend, deshalb sind sie »forever young« – genauso wie Georg Büchners Novelle »Lenz«, die vom Irrewerden an der Welt handelt, wie es Lenz nach seinem unfreiwilligen Abschied aus Weimar widerfuhr. Aber der Reihe nach:
Geboren wurde Lenz am 23. Januar 1751 in dem Ort Seßwegen in Livland (heute Lettland). Ein Pfarrerssohn, wie so viele Größen der deutschen Literatur. Sein Vater war berüchigt für seine endlos langen Predigten. Er liebte es, dem Landvolk mit einer fast sadistischen Meisterschaft die Höllenqualen zu schildern, die sie im Jenseits zu erwarten hätten, wenn sie nicht endlich mit dem Saufen und dem Huren aufhörten. Als er 12 war, schrieb Lenz sein erstes Gedicht; es ist ein Gebet, in dem er Gottvater darum bittet, seinem weltlichen Vater noch viele grausige Strafpredigten einzugeben: »Segne Vater, meinen Vater .… Lass den Herzen seinen Vortrag lauter Spieß und Nägel sein.« Eine merkwürdige Fürbitte – und wir ahnen etwas von der Hassliebe, die Lenz zeitlebens mit seinem Vater verband.
Dass sein Sohn ein Sprachgenie war, muss auch dem Vater aufgefallen sein. Er glaubte, Jakobs Gaben am besten durch ein Theologiestudium fördern zu können – predigen sollte er und ein ordentliches Leben zum Lobe Gottes führen. So schickte Vater Lenz den Sohn nach Königsberg. Aber die Stadt hatte mehr und viel Besseres zu bieten als Theologie, zum Beispiel den Philosophen Immanuel Kant. Lenz wurde einer seiner Schüler. Er lernte die französischen Aufklärer kennen, nebenher las er Shakespeare und lateinische Komödien, begann zu übersetzen und zu dichten. Als der Vater merkte, woher der Wind wehte, nämlich auf keinen Fall aus der theologischen Fakultät, begann er mit dem Geld zu knapsen, um den Sohn wieder an den heimischen Herd zu zwingen. Natürlich tat der Sohn das Gegenteil: Statt nach Osten reiste er nach Westen, er suchte »das Weite«, und er machte sich, als Sekretär zweier Barone, der Brüder von Kleist, auf den Weg nach Straßburg.
Straßburg war Anfang der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts nicht nur eine Garnisonsstadt, was die soldatesk gesonnenen Barone entzückte, sondern es war auch das Zentrum der allerneuesten literarischen Mode. »Sturm und Drang« hieß sie, nach einem Stück des Dichters Friedrich Maximilian Klinger. Zur Gruppe der Stürmer und Dränger gehörte auch ein Jura-Student aus Frankfurt, Johann Wolfgang Goethe. Lenz und Goethe wurden bald ein Herz und eine Seele. Man badete in empfindsamen Gefühlen, man hielt Vorträge, man schrieb wie im Rausch, dichtete, schwärmte – nur dass Lenz immer ein kleines bißchen dezenter, bescheidener, selbstironischer, schüchterner auftrat. Das galt auch für das Verhältnis zu Friederike Brion. Goethe war der Herzensbrecher, Lenz der geborene nachsorgende Tröster. Eine ähnliche Rolle scheint er auch für die beiden Barone gespielt zu haben. Er hatte ein trauriges Talent für alle Spielarten unerfüllter Liebe, das ihm bis in seine letzten Jahre treu bleiben sollte
In dem halben Jahrzehnt, das Lenz in Straßburg und Umgebung verbrachte, entstand der größte Teil seines literarischen Werks. Er war, das gehörte zum Pflichtprogramm im »Sturm und Drang«, ein leidenschaftlicher Verehrer des Shakespear’schen Theaters. Die zweitausend Jahre alte aristotelische Lehre, nach der ein Theaterstück die Einheit von Ort, Zeit und Raum zu bewahren hatte, warfen die Stürmer und Dränger über Bord. Am radikalsten beim Entrümpeln war Lenz. Wer nur einmal in einer Ausgabe der »Soldaten« oder des »Hofmeisters« blättert, dem fällt sofort der häufige Szenenwechsel auf. Statt der ruhigen Erzählweise und gesetzten Problementwicklung der traditionellen Dramaturgie, zu der die Weimarer Klassiker bei allen modernen Experimenten später zurückkehrten, peitschte Lenz sein Personal durch eine turbulente Abfolge kurzer und kürzester Szenen, als habe er die rasante Schnitt-Technik mancher zeitgenössischer Gangster-Filme vorwegnehmen wollen.
Diese neue Art, Theaterstücke zu bauen, enstand nicht aus einer naiven Aufwallung. Dahinter war eine ausgeprägte Theorie. Man wollte Handlung zeigen, ungeschminktes Leben, keine Ideale, sondern Charaktere, wie Lenz in seinen 1771/1772 geschriebenen »Anmerkungen übers Theater« in überaus geistreicher und witziger Form dargelegt hat. Für diese neue Dramaturgie war Lenz zu einigem bereit: »Wenn man uns auf der Erde keinen Platz vergönnen will, dann müssen wir wohl in der Hölle spielen!« heißt es in den »Anmerkungen«. Damit hängt es zusammen, dass die Lenz-Stücke so frisch wirken. Lenz lässt, wie der Weimarer Germanist Lothar Ehrlich sagt, Charaktere und Situationen, »unversöhnt nebeneinander« stehen. Lenz schafft damit, so Lothar Ehrlich, eine Erlebniswelt, in der zeitlose Themen wie Sexualität, Erziehung, gesellschaftliche und familiäre Zwänge, Verrohung durch Kriegserlebnisse, Verlogenheit in Familien in bitterster Offenheit zur Sprache kommen. Es ist also kein Wunder, dass man die Stücke auch heute immer wieder spielen kann. Und es ist auch kein Wunder, dass eine der genialsten und gewagtesten Opern des 20. Jahrhunderts, nämlich Bernd-Alois Zimmermanns »Die Soldaten«, nach dem gleichnamigen Stück von Jakob Michael Reinhold Lenz geschrieben wurde.
Am 2. April 1776, Goethe ist schon seit einem guten halben Jahr hier, kommt Lenz nach Weimar. Er steigt vorerst im Hotel »Zum Erbprinzen« ab. Seine Hoffnung ist, die künstlerisch und menschlich so fruchtbaren Straßburger Zeiten wieder aufleben zu lassen. Es fängt auch gut an. Lenz, Goethe und der junge Haudrauf Carl August lassen in den ersten Wochen die Korken knallen. Aber recht bald macht sich Missstimmung breit.
Irgendetwas passte nicht mehr. Lenz hatte sich nicht verändert. Seine Kunst und sein Leben waren für ihn eins. Dass eine so radikal aus künstlerischen Ansprüchen sich definierende Existenzweise auch in die Katastrophe führen könnte, hat er, vielleicht sogar mit einer gewissen Vorlust, geahnt. In einem seiner Theaterstücke heißt es: »So drauf zu gehen, ihr glaubt nicht, welche Wollust darin steckt.« Er war »forever young« – vollkommen unfähig, sein Leben in einem ernsteren Sinne zu »führen«. Goethe dagegen war ein Mann der Selbstkontrolle, der die schöpferische Glut in sich schützen musste und zu schützen wusste. Lothar Ehrlich sagt: »Die künstlerischen und menschlichen Dispositionen der beiden waren nicht mehr miteinander vereinbar. Das musste zu einer Trennung führen.« Aber nicht nur das: Während Lenz noch, ganz im Straßburger Geist, den Staub von den Perücken pusten wollte, hatte sich Goethe im Frühjahr 1776 schon »auf den Marsch durch die Institutionen« gemacht, wie man das in den 68er Zeiten in Frankfurter Studentenkreisen genannt hätte. Es ging, so Lothar Ehrlich, »um die Wandlung Goethes zu einem tätigen Charakter, der in der Welt durchhält’. Das war etwas, das Lenz nicht möglich war. … Das Durchhalten im Leben ist für ihn das Problem gewesen.«
Lenz geht im Sommer 1776 vorerst in Schreibklausur nach (Bad) Berka (»Hier bin ich glücklich, nachdem ich am Hof verwittert war.«), dann im September zu Charlotte von Stein nach Kochberg, um mit ihr Shakespeare zu lesen und ihr Englisch-Unterricht zu geben. Einige Wochen später kehrt Lenz nach Weimar zurück, bis er dann, Knall auf Fall, des Landes verwiesen wird. Welche »Eseley« (Goethe) konkret den Ausschlag gab, weiß man bis heute nicht genau. Vielleicht hatte sich Lenz bei einem Hofball ein freies Wort zu viel herausgenommen oder gar mit Enthüllungen gedroht. Goethe jedenfalls hatte genug von Lenz, ja Lenz scheint ihm peinlich geworden zu sein. Wann immer er sich später über seinen Straßburger Herzensfreund äußerte, geschah das mit einer verblümten Abschätzigkeit, von der man sich fragt, warum Goethe sie nötig hatte. So heißt es zu Beginn des 11. Buchs von Dichtung und Wahrheit über Lenz:
»Klein, aber nett von Gestalt, ein allerliebstes Köpfchen, dessen zierlicher Form niedliche etwas abgestumpfte Züge vollkommen entsprechen; blaue Augen, blonde Haare, kurz ein Persönchen, wie mir unter nordischen Jünglingen von Zeit zu Zeit eins begegnet ist … Kleinere Gedichte, besonders seine eignen, las er sehr gut vor, und schrieb eine fließende Hand. Für seine Sinnesart wüßte ich nur das englische Wort whimsical, welches, wie das Wörterbuch ausweis’t, gar manche Seltsamkeiten in Einem Begriff zusammenfaßt.«
Mit der Ausweisung aus Weimar begann für Lenz eine jahrelange Odyssee, erst Richtung Westen, dann durch die Schweiz und ins Elsaß. Die Rastlosigkeit seines Lebens ist auffällig. Mehr und mehr fühlte er sich verfolgt. Seine seelischen Verwirrungen steigerten sich schubweise zur Krankheit, ließen nach, kehrten zurück. Alles Heil erwartete er, unter der Anleitung des Waldersbacher Pfarrers und Sozialreformers Oberlin, von einer Versöhnung mit Gott, vor allem aber mit seinem Vater, dem Pfarrer, der den Lebensweg des Sohnes als sündige Verirrung betrachtete. Aber sooft sich Lenz auch vor dem Vater in den Staub warf, sei es in Briefen oder später, als er in die Heimat zurückgekehrt war, in Person, so rückhaltlos er seine Schuld bekannte, der Vater blieb letztlich immer kalt. Lenz zog weiter nach Petersburg und ganz am Schluss seines Lebens nach Moskau, wo er sich in oppositionellen Kreisen bewegte. Er schrieb weiter, aber seltsam uninspiriert und oftmals auch verworren. Am frühen Morgen des 4. Juni 1792 fanden Passanten den Leichnam dieses kindlichsten Genies unter den deutschen Dichtern auf der Straße. Er wurde 41 Jahre alt. Niemand weiß, wo Jakob Michael Reinhold Lenz begraben wurde.
Über den Weg, den Lenz 1777 aus der Schweiz nach Waldersbach zum Pfarrer Oberlin ging, heißt es in Georg Büchners Erzählung »Lenz«:
»Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf‑, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.
.….Nur manchmal… riß es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat; oder er stand still und legte das Haupt ins Moos und schloß die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Flut unter ihm zog.«
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