Eugenie Marlitt – »Die zweite Frau«

Personen

Eugenie Marlitt

Cornelia Hobohm

Orte

Arnstadt

Villa Marlitt

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Cornelia Hobohm

Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Wie­der­ge­le­sen von Cor­ne­lia Hobohm

 

Alle Viel­le­ser ken­nen es: Die meis­ten lite­ra­ri­schen Werke, also auch jene, die begeis­ter­ten, die berühr­ten, liest man nur ein ein­zi­ges Mal. Im fes­ten Vor­satz, das Buch noch ein­mal in die Hand zu neh­men, tut man genau die­ses ledig­lich beim Staub­wi­schen. Zu groß ist das Ver­lan­gen, sich neuen Lese­stoff anzu­eig­nen und Unbe­kann­tes zu erschlie­ßen. Dabei wis­sen wir doch ganz genau, dass eine wie­der­holte Lek­türe zu einem spä­te­ren Zeit­punkt zu ande­ren, gele­gent­lich über­ra­schen­den Ein­sich­ten und Ansich­ten füh­ren kann, sowohl in posi­ti­ver als auch in nega­ti­ver Wer­tung des Wer­kes. Warum also sollte man einen Roman einer Autorin des 19. Jahr­hun­derts rezi­pie­ren, die noch dazu über fast ein Jahr­hun­dert hin­weg einen eher zwei­fel­haf­ten Ruf als reine Unter­hal­tungs­schrift­stel­le­rin, als Best­sel­ler­au­torin, als Kitsch­tante gar genoss? Sollte man nicht die „Gro­ßen“, die Erst­li­gis­ten, zurück­ho­len und gerade sie vor der Ver­ges­sen­heit bewah­ren? Wel­che jün­ge­ren Leser begeis­tern sich frei­wil­lig für Fon­tane, Kel­ler, Storm, Raabe, Ebner-Eschen­bach? Vor­bei schei­nen die Zei­ten, in denen Effi Briest, Der grüne Hein­rich, Pole Pop­pen­spä­ler, Der Hun­ger­pas­tor oder Krambam­buli All­ge­mein­gut waren, nicht Pflicht­lek­türe für Ger­ma­nis­tik­stu­den­ten. Wie steht es um Karl May, um Gang­ho­fer – oder eben um die Mar­litt? Ein Ver­such ist es immer­hin wert, sich mit der Thü­rin­ge­rin aus­ein­an­der­zu­set­zen – gerade weil sie so umstrit­ten war, gerade weil sie beschmun­zelt wurde, gerade weil sie die kom­mer­zi­ell erfolg­reichste Autorin deut­scher Spra­che in der zwei­ten Hälfte des 19. Jahr­hun­derts war. Sind ihre Romane, drei­zehn an der Zahl, heute noch lesbar?

Es gibt einen Mar­lit­t­ro­man, der vom übli­chen Schema abweicht, der bereits zu sei­ner Erschei­nungs­zeit auf erheb­li­che Wider­stände gesto­ßen ist und den nicht wenige Rezi­pi­en­ten für den bes­ten hal­ten: Die zweite Frau aus dem Jahr 1874. Er ist nicht so bekannt wie Das Geheim­nis der alten Mam­sell (1867), nicht so beliebt gewe­sen wie die Gol­delse (1866). Die Autorin selbst scheint mit ihm gerun­gen zu haben. Im Juni 1874 schreibt das Arn­städ­ter Fräu­lein Frie­de­rike Chris­tiane Hen­ri­ette Euge­nie John, einer ste­tig anwach­sen­den Leser­schar bes­ser bekannt unter dem Pseud­onym E. Mar­litt, an ihre enge Freun­din und Ver­traute Leo­pol­dine von Nischer-Fal­ken­hof nach Wien: »…und nun will ich Dir auch dan­ken für deine Güte und Treue, mit der Du mein Schmer­zens­kind unter deine Flü­gel zu neh­men gesuchst – ein Schmer­zens­kind ist mir ‚Die zweite Frau‘ aller­dings inso­fern gewor­den, als man sie zer­zaust, zerrauft, als form­lo­sen Rumpf auf die Bühne gezerrt und sie mit eigen­mäch­tig hin­zu­ge­füg­ten Glie­dern hat agie­ren lassen…Obgleich mein neuer Roman den Lesern nun voll­endet vor­liegt und eine voll­stän­dig andere Ent­wick­lung zeigt, als die Her­ren Spitz­bu­ben vor­aus­ge­se­hen, zieht das Stück noch immer über die Bret­ter, und die Leute gehen hin, um die ihnen lieb­ge­wor­de­nen Gestal­ten, wenn auch im kläg­li­chen Zerr­bild, ver­kör­pert zu sehen-wohl bekomm’s ihnen!«  - Ein Gesetz, das den Schutz von geis­ti­gem Eigen­tum und dem Autor eines Wer­kes des­sen Recht an einer wei­te­ren Ver­wer­tung garan­tiert, gab es im deutsch­spra­chi­gen Raum bis zum Aus­gang des 19. Jahr­hun­derts noch nicht. Bis zur Ver­ab­schie­dung eines Urhe­ber­rechts 1901 konnte es dem­zu­folge ohne recht­li­che Kon­se­quen­zen gesche­hen, dass Büh­nen­fas­sun­gen von Pro­sa­vor­la­gen exis­tier­ten, die nicht auto­ri­siert waren. Da die Romane E. Mar­litts als Fort­set­zung in der Gar­ten­laube erschie­nen, unmit­tel­bar im haus­ei­ge­nen Ver­lag dann als Buch, war es mög­lich, dass Büh­nen­fas­sun­gen umge­setzt wur­den, deren Ende in der Zeit­schrift noch gar nicht gedruckt waren. Die Mar­litt hatte diese Pra­xis bereits nach dem Erschei­nen der Reichs­grä­fin Gisela (1869) erfah­ren müs­sen. Der Brief an die Freun­din ist jedoch auch auf­grund einer wei­te­ren Bemer­kung von Inter­esse: Sie schreibt, dass die ‚Spitz­bu­ben‘ die Ent­wick­lung im Roman­ge­sche­hen nicht abse­hen konn­ten. Es sei noch ein­mal betont, dass die­ser Roman vom sons­ti­gen Mar­litt­schema abweicht. Die bis in die spä­ten 80er, frü­hen 90er Jahre des 20. Jahr­hun­derts übli­che Ein­schät­zung, wonach der Leser alle Mar­lit­tro­mane kenne, wenn er nur einen wirk­lich gele­sen habe, trifft auf die­sen so gar nicht zu. Sehr wohl erken­nen wir die bekann­ten Grund­struk­tu­ren und das Haupt­thema der Erfolgs­au­torin wie­der, dem­nach eine junge, mora­lisch inte­gre, geis­tig äußerst beweg­li­che und sowohl phy­sisch als auch psy­chisch belast­bare Frau unter vie­len Wider­stän­den, Intri­gen und Bei­nahe-Kata­stro­phen ihren Weg ins Leben bahnt und am Ende mit einer Lie­bes­hei­rat belohnt wird, wie­der; den­noch weicht gerade die­ser Roman in man­chen Posi­tio­nen vom ver­meint­lich Bekann­ten ab. Sein Erschei­nungs­jahr ist einer der Gründe dafür.

Die zweite Frau wird auf dem Höhe­punkt des Bis­marck­schen Kul­tur­kamp­fes ver­öf­fent­licht. Die Thü­rin­ger Pro­tes­tan­tin Euge­nie Mar­litt, prag­ma­tisch und lebens­er­fah­ren, bezieht in ihrem ach­ten Pro­sa­werk ein­deu­tig Stel­lung. Auch in frü­he­ren Roma­nen war sie der Gret­chen­frage nicht aus­ge­wi­chen, stellte inhalts­leere reli­giöse Prak­ti­ken in Frage, ver­ab­scheute Bigot­te­rie und Into­le­ranz, gleich, wel­cher Kon­fes­sion. Mehr­fach wird sie dafür kri­ti­siert und ange­grif­fen, unter ande­rem von dem evan­ge­li­schen Pfar­rer O. Weber, des­sen zum über­wie­gen­den Teil gif­tige Kri­tik Die Reli­gion der ›Gar­ten­laube‹. Ein Wort an die Chris­ten unter ihren Lesern sich auf die Gol­delse bezieht und 1877 bereits in sieb­ter Auf­lage erscheint. Doch nur der Roman Die zweite Frau kann vor dem kon­kre­ten his­to­ri­schen Hin­ter­grund des Kul­tur­kamp­fes gele­sen wer­den. Die­ser Begriff (›Kul­tur­kampf‹) wurde 1873 von R. Virchow erst­mals ver­wen­det und bezeich­net heute jene Phase der Poli­tik Bis­marcks, in der die­ser ange­strengt und letzt­lich wenig erfolg­reich ver­suchte, den Ein­fluss der katho­li­schen Zen­trums­par­tei ein­zu­däm­men sowie die Tren­nung von Kir­che und Staat zu for­cie­ren. So sollte bei­spiels­weise der ›Kan­zel­pa­ra­graf‹ ver­hin­dern, dass Geist­li­che den Got­tes­dienst für poli­ti­sche Stel­lung­nah­men miss­brau­chen. Der Ein­fluss der Kir­che in den Schu­len sollte deut­lich gesenkt wer­den, die Zivil­ehe wurde gesetz­lich bin­dend. Inwie­fern den meis­ten Bewoh­nern inner­halb und außer­halb Preu­ßens die Dimen­sio­nen die­ser Rege­lun­gen bewusst waren, sei dahin­ge­stellt. Was sich aller­dings zeigte, war deut­li­cher Unmut der Pro­tes­tan­ten an den Papst­treuen, den Ultra­mon­ta­nen, den Jesui­ten vor allem. Die Gar­ten­laube als auf­la­gen­stärks­tes Blatt die­ser Zeit schürt die­sen Unmut in nicht unbe­trächt­li­chem Maße. Was also geschieht in Mar­litts Roman?

Um den pri­va­ten Bank­rott, von der ver­schwen­de­ri­schen Mut­ter ver­schul­det, zu ent­kom­men, geht die junge Liane von Tra­chen­berg, eines der drei Kin­der des ver­stor­be­nen Gra­fen von Tra­chen­berg, eine Kon­ve­ni­en­zehe mit dem attrak­ti­ven, aber berech­nen­den und gefühls­kal­ten Baron von Mainau ein. Die­ser ist ver­wit­wet und sucht keine wirk­li­che Ehe­frau, son­dern ledig­lich eine Erzie­he­rin sei­nes klei­nen Soh­nes Leo. Geschäfts­mä­ßig wird die Ehe zu Beginn des Romans geschlos­sen und wie Geschäfts­part­ner ver­hal­ten sich Raoul und Liane fortan auch. Doch mehr und mehr droht selbst diese Bezie­hung an der intri­gan­ten Umge­bung des main­au­schen Hofes zu zer­bre­chen. Der Gatte ist häu­fig auf Rei­sen, der Hof wird nicht von ihm, son­dern sei­nem Onkel, dem Hof­mar­schall, sowie sei­nem jesui­ti­schen Hof­pre­di­ger domi­niert. Beide ber­gen schmut­zige Fami­li­en­ge­heim­nisse und schre­cken vor Lügen, Betrug und kri­mi­nel­len Machen­schaf­ten kei­nes­wegs zurück. Sowohl der Hof­mar­schall als auch der Pater sehen sich der Pro­tes­tan­tin Liane gegen­über mora­lisch über­le­gen. Liane kann nur allein, vor­sich­tig unter­stützt von der nach außen grob­schläch­ti­gen Haus­häl­te­rin Frau Löhn, auf die kul­mi­nie­ren­den Anfein­dun­gen und Dis­kri­mi­nie­run­gen reagie­ren. Die Aus­ein­an­der­set­zun­gen gip­feln in einem Mord­ver­such an der jun­gen Frau durch den Jesui­ten, nach­dem die­ser ver­geb­lich sexu­ell hand­greif­lich gegen­über Liane gewor­den ist. Aus der Kon­ve­ni­enz- muss eine Lie­bes­ehe wer­den, will Liane ihre Pläne zur Ret­tung des tra­chen­berg­schen Hau­ses nicht auf­ge­ben. Ihre vor­der­grün­dige Auf­gabe besteht fortan darin, ihrem Ehe­mann die kri­mi­nel­len Machen­schaf­ten des Onkels und des Paters zu beweisen.

Liane ist nur nach außen hin die sprich­wört­li­che graue Maus, beschei­den und zurück­hal­tend. Wich­ti­ger als alle Äußer­lich­kei­ten sind ihr Selbst­be­wusst­sein, Bil­dung und vor allem Auf­rich­tig­keit. Sie weicht als Pro­tes­tan­tin kei­nen Zoll von ihren reli­giö­sen Über­zeu­gun­gen ab und steht in vie­len ver­ba­len Gefech­ten am katho­li­schen Hof selbst dem Pan­the­is­mus nicht allzu fern. Sie scheut weder phi­lo­so­phi­sche Dis­kus­sio­nen mit dem Hof­mar­schall noch dem Pater oder der Her­zo­gin. »Wohl wahr«, äußert Liane in einem Dis­put über den christ­li­chen Glau­ben, »ich ver­stehe dar­un­ter das geheim­nis­volle Wal­ten der Natur­kräfte. Die meis­ten unse­rer Mit­le­ben­den betrach­ten noch immer die Natur als etwas Selbst­ver­ständ­li­ches, über das sie nicht nach­zu­den­ken brau­chen, weil sie es ja sehen, hören und begrei­fen kön­nen – dass aber eben­die­ses Sehen, Hören und Begrei­fen das Wun­der ist, fällt ihnen nicht ein. Und nun dich­tet man dem wei­sen Schöp­fer will­kür­li­che Ein­griffe in seine ewi­gen Gesetze an, oft nur um win­zi­ger mensch­li­cher Inter­es­sen wil­len, ja, die Kir­che geht noch wei­ter-sie lässt unter­ge­ord­nete Geis­ter die­ses voll­endete Gewebe zer­stö­rend durch­bre­chen, ledig­lich, um irgend­ein Hir­ten­mäd­chen oder sonst eine ein­same Seele von Got­tes Dasein zu über­zeu­gen, und nennt das ›Wun­der‹. Wie kläg­lich und thea­tra­lisch auf­ge­putzt erschei­nen sie neben Got­tes wirk­li­chem Schaf­fen und Wal­ten…« – Es sind flam­mende Reden wie diese, die Liane bei­nahe ihre Stel­lung am katho­li­schen Hof kos­ten. Es sind Worte wie diese, die die Autorin zu einem Sprach­rohr von Bis­marcks Kul­tur­po­li­tik machen. Wie bri­sant diese Text­pas­sa­gen gewirkt haben müs­sen, zeigt der Umstand, dass gerade die­ser Roman in eini­gen katho­li­schen Gegen­den auf den Index ver­bo­te­ner Bücher gesetzt oder gele­gent­lich, wie in der fran­zö­si­schen und der unga­ri­schen Aus­gabe gesche­hen, kur­zer­hand umge­ar­bei­tet wurde: Aus der Nega­tiv­fi­gur des Jesui­ten­pa­ters wird ein pro­tes­tan­ti­scher Geist­li­cher, aus der Posi­tiv­fi­gur der Liane eine Katho­li­kin. In der Über­set­zung war die Welt für den katho­li­schen Leser wie­der im rech­ten Lot.

Nicht nur die eigene Betrach­tungs­weise reli­giö­ser Fra­gen, auch die Ansich­ten über die Stel­lung der Frau in der sich for­mie­ren­den moder­nen bür­ger­li­chen Gesell­schaft gehen über das Maß des­sen hin­aus, was gemein­hin unter anspruchs­lo­ser Unter­hal­tungs­li­te­ra­tur ver­stan­den wird. Der Mar­litt war es wich­tig, starke Frau­en­cha­rak­tere zu ent­wer­fen, die in der Lage sind, sich gegen­über einer intri­gan­ten, bil­dungs­feind­li­chen oder/und bigot­ten Umge­bung durch­zu­set­zen. Die Hel­din­nen der Autorin – und ganz beson­ders Liane – sind lau­tere, starke Per­sön­lich­kei­ten, die im Ernst­fall, und der Ernst­fall wäre hier die Ehe­lo­sig­keit, das heißt für das 19. Jahr­hun­dert auch die Ver­sor­gungs­lo­sig­keit der Frau, mate­ri­ell für sich selbst sor­gen  kön­nen: als Unter­neh­me­rin wie Katha­rina aus dem Haus des Kom­mer­zi­en­ra­tes, als Archäo­lo­gin wie Grete in dem Roman Die Frau mit den Kar­fun­kel­stei­nen oder als Bota­ni­ke­rin und Erzie­he­rin wie Liane. Diese lite­ra­ri­schen Figu­ren sind durch­weg posi­tiv gezeich­net, erfah­ren keine oder nur sehr wenig Ent­wick­lung und bie­ten sich damit als Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gu­ren bevor­zugt für die Lese­rin­nen an. Wenn diese Vor­zei­ge­frauen dann am Ende des Roman­ge­sche­hens in den star­ken Armen des gelieb­ten Man­nes lie­gen und in der Lie­bes­ehe und der Grün­dung einer Fami­lie die wei­tere Erfül­lung ihres Lebens sehen, so ent­spricht das den Vor­stel­lun­gen des Groß­teils der Leser­schaft des 19. Jahr­hun­derts – und wohl auch weit dar­über hin­aus. Der Lohn für die Exis­tenz­kämpfe ist letzt­lich die Ehe, die zwi­schen zwei sich ach­ten­den und lie­ben­den Men­schen geschlos­sen wird. Das Pro­blem der main­au­schen Ehe besteht aber darin, dass sie zu einem geschäfts­mä­ßi­gen, nur äußer­lich funk­tio­nie­ren­den Gebilde degra­diert wird. Liane muss sich Würde und Respekt erst im Laufe ihrer Bezie­hung erkämp­fen. Gelänge ihr das nicht, auch das wird im Roman mehr­fach betont, bedeu­tete dies die Scheidung.

Euge­nie Mar­litt schuf diese und andere Frau­en­fi­gu­ren ganz sicher nach ihren eige­nen Erfah­run­gen und Wunsch­vor­stel­lun­gen. Sie wusste, was es hieß, sich als Ledige beruf­lich einen Weg und damit eine Exis­tenz­si­che­rung suchen zu müs­sen. Nur mit einer Ehe wurde sie am Ende ihres Weges nicht belohnt. Das Fräu­lein John, 1825 als Toch­ter eines eher erfolg­lo­sen Kauf­man­nes in Arn­stadt gebo­ren und 1887 daselbst als gefei­erte und ver­ehrte Roman­au­torin ver­stor­ben, wurde nach ihrer Aus­bil­dung am Son­ders­häu­ser Fürs­ten­hof und in Wien zunächst Opern­sän­ge­rin. Das sich ein­stel­lende Gehör­lei­den war wohl psy­cho­so­ma­ti­scher Natur und ver­hin­derte die Fort­set­zung ihrer Musik­erlauf­bahn. Was nun? Aber­mals kam ihr die nun­mehr geschie­dene Fürs­tin Mat­hilde von Schwarz­burg-Son­ders­hau­sen zur Hilfe. Zehn Jahre lang war Euge­nie John Gesell­schaf­te­rin, Lek­to­rin, Kran­ken­pfle­ge­rin der Fürs­tin; kurzum: Mäd­chen für alles. Fast 40-jäh­rig kün­digt sie die Stel­lung und kehrt mit dem fes­ten Vor­satz, schrift­stel­le­risch tätig zu wer­den, in ihr thü­rin­gi­sches Vater­städt­chen zurück. Sie ist fest inte­griert in die Fami­lie ihres Bru­ders Alfred, einem Leh­rer, bewohnt mit ihm und sei­ner Fami­lie ab 1871 die ›Villa Mar­litt‹ am Stadt­rand, die sie sich nach Aus­zah­lung ihres Hono­rars für die Reichs­grä­fin Gisela leis­ten kann. Die Mar­litt erlebt Aner­ken­nung und Ver­eh­rung, aber auch kol­le­giale Häme und Ver­riss, vor allem auch Wohl­stand, den sie mit der Fami­lie teilt. Doch eine Ehe – glück­lich, von bür­ger­lich libe­ra­len Wer­ten getra­gen, vom Part­ner geach­tet, von Kin­dern umschwärmt – bleibt ihr ver­sagt. Avan­cen wie die des grei­sen Fürs­ten Pück­ler-Mus­kau lehnt sie klu­ger­weise ent­schie­den ab. Die glück­li­che Ehe, in die sich ihre Roman­hel­din­nen bege­ben, bleibt eine Wunsch­vor­stel­lung, die Erfül­lung nur für ihre Romanfiguren.

Die Romane der Mar­litt sind weit ent­fernt davon, Hei­mat­ro­mane zu sein. Sie sind zwar, außer dem Hei­de­prin­zes­schen, alle in Thü­rin­gen bzw. dem Thü­rin­ger Wald oder  in Arn­stadt und Umge­bung ange­sie­delt, da es die Gegend ist, wel­che die Autorin liebt und genau kennt, also auch beson­ders gut nach­zeich­nen kann. Jedoch bil­det auch darin Die zweite Frau eine Aus­nahme: Schau­platz der Hand­lung sind zwei Schlös­ser und ein Jagd­haus, die auf kei­ner Karte zu fin­den sind. Die Pro­ble­ma­tik der fik­ti­ven Bewoh­ner ist dage­gen über­all zu Hause.

In Form und Stil weicht die Mar­litt in die­sem Werk kaum von ihrem Schema, das ja auch ein Garant für ihren Erfolg war, ab. Zwar ver­zich­tet sie, wohl eher unbe­wusst, auf Anthro­po­mor­phi­sie­run­gen und auf allzu häu­fige Dimi­nu­tiva, die letzt­lich dazu bei­tra­gen, die Dik­tion als kit­schig zu emp­fin­den. Doch auch die­ser Roman wird  von zum Teil gelun­ge­nen, zum Teil red­un­dant erschei­nen­den Land­schafts- und Wit­te­rungs­schil­de­run­gen getra­gen, von genauen Zeich­nun­gen bestimm­ter Äußer­lich­kei­ten der Figu­ren, so zum Bei­spiel der ste­ten Beto­nung von Lia­nes rotem Haar, das manch­mal Bewun­de­rung, manch­mal den Spott in ihrer Umge­bung aus­löst, aber auch für ihre Wider­spens­tig­keit und Eigen­wil­lig­keit steht. Viele Figu­ren sind typi­siert, Neben­fi­gu­ren ste­hen häu­fig für Volks­tüm­lich­keit und jenen gesun­den Men­schen­ver­stand, den man  bei den aris­to­kra­ti­schen Gegen­spie­lern so häu­fig ver­misst. Diese Neben­fi­gu­ren kön­nen bei Mar­litt aber auch den Schleier des Exo­ti­schen, damit des Geheim­nis­vol­len, Nebu­lö­sen tra­gen, so wie die ›Baja­dere‹, die im ›indi­schen Haus‹ auf dem main­au­schen Anwe­sen ihrem Tod ent­ge­gen­däm­mert und ihr Geheim­nis, des­sen Ent­de­ckung sowohl den Hof­mar­schall als auch des­sen Kom­pli­zen, den Pater, schwer belas­ten und dif­fa­mie­ren würde, ins Grab zu neh­men droht.

Mar­litts Roman Die zweite Frau ist auch gut 140 Jahre nach sei­nem Erschei­nen durch­aus les­bar. Er steht in einer Tra­di­ti­ons­reihe ande­rer deutsch­spra­chi­ger bür­ger­lich-rea­lis­ti­scher Lite­ra­tur, deren Autoren heute so häu­fig der Vor­wurf des Pro­vin­zi­el­len gemacht wird. Pro­vin­zia­li­tät meint hier Eng­stir­nig­keit, Klein­geis­tig­keit. Sehr zu Unrecht. Denn wenn Storm oder Raabe oder Kel­ler oder auch die Mar­litt einen Aus­schnitt aus ihrer Gegen­wart beleuch­ten, dann erfas­sen sie nicht nur die Wirk­lich­keit von Husum oder Braun­schweig oder Zürich oder Arn­stadt, sie erfas­sen damit auch immer ein Stück der Wirk­lich­keit über diese begrenzte Region hin­aus; sonst wären sie nicht so mas­sen­haft gele­sen wor­den.  Damit ver­mö­gen sie es tat­säch­lich, ein jeder mit sei­nen lite­ra­ri­schen Mit­teln und Mög­lich­kei­ten, zwar nicht die große weite Welt, aber doch ihre gesamte Umge­bung im Was­ser­trop­fen zu spie­geln. Auch Die zweite Frau ver­mag den Leser noch immer zu berüh­ren, zu bewe­gen. Das fik­tive sin­gu­läre Schick­sal die­ser jun­gen Frau aus dem 19. Jahr­hun­dert kann den Leser von heute noch in sei­nen Bann zie­hen. Was lässt sich Schö­ne­res über ein lite­ra­ri­sches Werk aussagen?

Ange­merkt sei noch, dass der ori­gi­nale und unge­kürzte Text aller Mar­lit­tro­mane ledig­lich in der Gar­ten­laube sowie den nach­fol­gen­den Buch­aus­ga­ben aus dem Ver­lag Ernst Keil bzw. Ernst Keils Nach­fol­ger nach­zu­le­sen ist. Alle ande­ren Aus­ga­ben unter­la­gen und unter­lie­gen zum Teil dras­ti­schen Kür­zun­gen. Das Geheim­nis der alten Mam­sell sowie Die zweite Frau erschie­nen 2009 dage­gen unge­kürzt und nur in der Ortho­gra­fie ange­gli­chen im Leip­zi­ger Ver­lag Edi­tion Hamouda. Die Zitate fol­gen die­ser Aus­gabe. Der Mono­log, der Lia­nes Sicht auf die Reli­gion spie­gelt, fehlt bei­spiels­weise in fast allen Aus­ga­ben, die zwi­schen 1900 und 2009 erschie­nen sind. Der Kai­ser Ver­lag Kla­gen­furt äußerte Anfang der 90er Jahre starke Beden­ken, Die zweite Frau in ihrer Mar­lit­tro­man­reihe erschei­nen zu las­sen. Die Begrün­dung: Die Autorin kri­ti­siere die katho­li­sche Kir­che zu stark, das könne den öster­rei­chi­schen Leser ver­prel­len. Gemeint sind die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts.

Diesen Artikel teilen:

Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio

Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2024 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]

URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/eugenie-marlitt-die-zweite-frau/]