Christine Hansmann – »Wolkenkassiber«

Personen

Christine Hansmann

Dietmar Ebert

Ort

Weimar

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Dietmar Ebert

Erstdruck in Palmbaum 2/2022. Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Diet­mar Ebert

Im Ein­klang

 

Chris­tine Hans­mann hatte das Glück, von 1989 bis 2012 als Mez­zo­so­pra­nis­tin viele Rol­len ihres Faches auf der Bühne des Deut­schen Natio­nal­thea­ters in Wei­mar und auf bedeu­ten­den Büh­nen im In-und Aus­land sin­gen zu dür­fen. Wer ihren hoch lie­gen­den, schlank geführ­ten Mez­zo­so­pran ein­mal in Par­tien von Mozart, Wag­ner und Strauss gehört hat, dem hat sich ihre Stimme fest ein­ge­prägt. Nur weni­gen Opern­sän­ge­rin­nen ist es gege­ben, neben einer Gesangs­stimme auch über eine klang­volle Sprech­stimme zu ver­fü­gen. Chris­tine Hans­mann gestal­tet seit 2012 mit ihrer aus­drucks­star­ken Sprech­stimme lite­ra­ri­sche und lite­ra­risch-musi­ka­li­sche Pro­gramme. Und sie begann Lyrik und lyri­sche Prosa zu schrei­ben. Flucht ins Gelände (2012), Dun­kel­kam­mer (2013) und Des Lich­tes und der Schön­heit hal­ber (2017) ver­ei­nen Gedichte und lyrisch getönte Texte. Nun ist mit Wol­ken­kas­si­ber ihr neuer Band in der Wei­ßen Reihe des quar­tus-Ver­lags erschie­nen. Das Beson­dere ist, dass die Gedichte und kur­zen Pro­sa­stü­cke mit fünf Zeich­nun­gen des 1931 gebo­re­nen Gra­fi­kers, Malers und Fil­me­ma­chers Stra­walde kom­bi­niert sind. Die fili­gra­nen, fein gewo­be­nen, auf das Not­wen­dige redu­zier­ten Verse Chris­tine Hans­manns fin­den ihre Ent­spre­chung in der Natür­lich­keit und dem Schwung der gezeich­ne­ten Linien Stra­wal­des. Das dem Band vor­an­ge­stellte Motto Höl­der­lins Je mehr Äuße­rung, desto stil­ler. Je stil­ler, desto mehr Äuße­rung umspannt sowohl ihre Gedichte und lyri­sche Prosa als auch Inhalt und Form der Zeich­nun­gen Strawaldes.

Der Band beginnt mit dem Soli­tär Auf­er­ste­hung. Ihm fol­gen acht Gedicht­grup­pen, die mit Peri­phe­rie, Inter­stel­lar, Sotto Voce, Pneuma, Trans­for­ma­tio, Fel­der­wärts, Retour und Über­gang beti­telt sind. Zwi­schen die acht Gedicht­grup­pen sind die Inter­mezzi I‑III ein­ge­scho­ben. Die in den Inter­mezzi I‑III ver­sam­mel­ten Texte ent­zie­hen sich einer Klas­si­fi­zie­rung. Es sind Beob­ach­tun­gen, die sich mit Refle­xio­nen ver­bin­den. Meist sind es Erschei­nun­gen der Natur und Pflan­zen­welt, die auf Spa­zier­gän­gen auf­merk­sam betrach­tet wer­den. Die­ses auf­merk­same Betrach­ten oder „Erschauen“ liegt als Methode auch den Gedich­ten zugrunde; nur sind die Gedichte rhyth­mi­siert, sprach­lich geformt und auf das Ele­men­tare redu­ziert, wäh­rend die in den Inter­mezzi gebün­del­ten Texte eher „natur­be­las­sen“ und „unge­schlif­fen“ wir­ken. Sie sind, wenn auch nicht weni­ger wert­voll, so etwas wie „lyri­sches Rohmaterial“.

Auch kleine Dinge kön­nen uns ent­zü­cken. So beginnt das erste Lied in Hugo Wolfs Ita­lie­ni­schem Lie­der­buch. Etwas wie Freude über die klei­nen Dinge des Lebens fin­det sich auch in Chris­tine Hans­manns Gedich­ten; doch die Lyri­ke­rin ist zugleich die Ent­de­cke­rin klei­ner Dinge in der natür­li­chen Umwelt und im mensch­li­chen Leben. Sie ver­grö­ßert sie nicht, aber sie bringt uns das oft Unbe­ach­tete nahe, erschaut des­sen Wich­tig­keit für uns und stif­tet eine Ver­wandt­schaft zwi­schen der „Pflanzen­seele“ und der mensch­li­chen Seele, wie in den Gedich­ten Schön­berg, Auf­er­ste­hung, Trans­for­ma­tio und Pneuma. Chris­tine Hans­mann ver­sucht die Tren­nung von „Gegen­stand und Sub­stanz“ (Ema­nuel Coc­cia) der Pflan­zen auf­zu­he­ben und ver­steht sich ihnen gegen­über als „Mit­le­bende“. Viel­leicht ent­hält das vier­tei­lige Gedicht Pneuma die Poe­tik des schma­len Ban­des Wol­ken­kas­si­ber. Die Dich­te­rin sieht sich mit dem Blick der Ele­mente gleich­sam von „außen“ und erin­nert ihr Gespräch mit der Linde gegen­über / als wäre sie eine Seele, erzählt von der Mem­bran, der hauch­dün­nen, die sie trennt von den Räu­men die­ser Welt, und sie ima­gi­niert, wie es sein wird, sich von der Welt zu lösen. Nur ich und ein Hauch.

Viel­leicht hat uns die Corona-Pan­de­mie dafür sen­si­bi­li­siert, wie lebens­wich­tig, wie ele­men­tar der Atem für uns ist, für unsere Exis­tenz, für das Leben, Spre­chen, Emp­fin­den und unser Ver­hält­nis zur Natur. Für Tho­mas Brasch war das Ein­at­men und Aus­at­men Bedin­gung jeg­li­chen Erzäh­lens. Chris­tine Hans­manns schma­ler Band Wol­ken­kas­si­ber zeigt, wie Ein­at­men und Aus­at­men zugleich Vor­aus­set­zung und form­bil­den­des Ele­ment ihres lyri­schen Spre­chens ist. So hat sie zu einer lyri­schen Spra­che gefun­den, die im Ein­klang mit sich selbst und ihrer natür­li­chen Umwelt lebt. Stra­wal­des 2020 ent­stan­dene fili­grane, phan­tas­ti­sche Zeich­nun­gen, die an Mus­ter der Pflan­zen­welt erin­nern, ste­hen in Ein­klang mit und Span­nung zu Chris­tine Hans­manns Gedich­ten, die wie­der und wie­der zu lesen sich lohnt.

 

  • Chris­tine Hans­mann: Wol­ken­kas­si­ber. Lyrik & Kurz­prosa. Mit Zeich­nun­gen von Stra­walde, Weiße Reihe, Bd. 17, quar­tus-Ver­lag, Bucha bei Jena 2022, 108 Seiten.
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