Bärbel Klässner – »Die Musik zu einer solchen Flut. Partituren und Essays«

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Bärbel Klässner

Dietmar Ebert

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Autor

Dietmar Ebert

Erstveröffentlichung in: Palmbaum 2/2020. Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Diet­mar Ebert 

Lite­ra­ri­sche Wahlverwandtschaften

 

Der 50. Band der Edi­tion Muschel­kalk ist der in Mag­de­burg gebo­re­nen und heute in Essen leben­den Schrift­stel­le­rin Bärbel Klässner gewid­met. Er trägt den Titel Die Musik zu einer sol­chen Flut. Par­ti­tu­ren und Essays. Die Autorin hat je zehn Jahre in Jena und Wei­mar gelebt, und ist noch immer Thüringen eng verbunden.

Bärbel Klässner nimmt Jean Amérys Auf­satz Über das Altern zum Anlass darüber zu schrei­ben, wel­che kul­tu­rel­len Wege zu beschrei­ten sind, wenn die Genera­tion ihrer lite­ra­ri­schen und phi­lo­so­phi­schen Mütter und Väter nicht mehr am Leben ist. So macht sie sich auf die Suche nach den wahl­ver­wand­ten Schwes­tern und Töchtern. In allen Essays beschreibt sie, wie ihr Leben rei­cher, far­bi­ger und schöner wurde, je mehr sie sich mit ande­ren ver­band, sich für gemein­same Werte enga­gierte und dabei immer stärker ihre eigene, in der deutsch­spra­chi­gen Gegen­warts­li­te­ra­tur unver­wech­sel­bare Stimme ent­deckte. Sie erin­nert sich in Als frau anders war an die Schwie­rig­kei­ten, denen Frauen in der DDR aus­ge­setzt waren, die in den 1980er Jah­ren ein selbst­be­stimm­tes, les­bi­sches und für sie glücklicheres Leben zu führen began­nen. Mit Kers­tin Rösel gab sie in Jena die ille­gale Zeit­schrift frau anders her­aus. Bin­nen weni­ger Jahre war sie mit vie­len Frauen in der DDR ver­netzt, die selbst­be­stimmt leben und lie­ben woll­ten. Mehr als 20 Jahre später kehrte sie als Stadt­schrei­be­rin nach Jena zurück. 2011 ent­stand ihr poe­ti­scher Text Auf­gang. Gehend und schau­end erkun­det Bärbel Klässner die Stadt. Sie begeg­net heu­ti­gen Stu­die­ren­den, folgt den Spu­ren der Frühromantiker und sucht Orte ihres früheren Lebens auf. 2013 trug sie in Jena erst­mals ihren Text … die musik zu einer sol­chen Flut vor. Sie näherte sich dem Notenbüchlein für Anna Mag­da­lena Bach, der Widmungsträgerin, dem Kom­po­nis­ten und der gan­zen Fami­lie Bach in einem furio­sen, rasant flie­ßen­den Text. Bärbel Klässner hat über Bachs klei­nes Notenbüchlein wahr­haf­tig eine Par­ti­tur in Wor­ten geschrieben.

Ihr jet­zi­ger Wohn- und Lebens­ort, Essen, ist es, dem die Autorin ihre Essays Aus­tausch und Berührung und Die Stadt, der Sturm, die Bäume und ein Netz gewid­met hat. Den Spu­ren Joseph Roths fol­gend, erkun­det sie vom Haupt­bahn­hof kom­mend, wie sich Essen in Vor­be­rei­tung auf das Kul­tur­stadt­jahr 2010 präsentierte. Vier Jahre später erlebte sie, wie ein Sturm 20.000 Bäume in Essen ver­nich­tete und sich in Win­des­eile viele Bürger an den Aufräumaktionen betei­lig­ten. Sie erzählt, wie ein Netz von ungezählten Hel­fern sich bil­dete, wie Men­schen soli­da­risch mit­ein­an­der und mit ihrer Stadt agierten.

Gleich­viel, ob Bärbel Klässner über ihre Lebens­orte schreibt, ob sie uns in phan­tas­ti­schen Bil­dern ein Hotel vor Augen führt, die »fei­nen« Unter­schiede von Farb­val­eurs, von Grau- und Bunttönen beschreibt oder über die starke Wir­kung nach­sinnt, die Bri­gitte Rei­manns Roman Fran­ziska Lin­ker­hand auf sie ausgeübt hat, immer ist es die ganz eigene Mischung von genauem, ori­gi­nel­lem Den­ken und poe­ti­scher Spra­che, die ihre Essays auszeichnet.

Wie empa­thisch und tiefgründig sich Bärbel Klässner auf einen Text ein­zu­las­sen ver­mag, das hat sie in ihrem Essay zu Nancy Hüngers schma­lem Bändchen Halt dich fern unter Beweis gestellt. Dem Rhyth­mus des Buches fol­gend, wählt sie einen radi­kal sub­jek­ti­ven Zugang, legt Nancy Hüngers Text bis in feinste Nuan­cen frei und lässt ihm doch sein Geheim­nis als »eigen­sin­ni­ges Text­ge­webe«, das man in »keine Gat­tungs­schub­lade« pres­sen darf.

Der wun­der­bare letzte Satz, den sie über das Buch der wahl­ver­wand­ten Dich­te­rin geschrie­ben hat, sei auch jeder Lese­rin und jedem Leser ihrer Essays und Par­ti­tu­ren mit auf den Weg gege­ben: »Lies, ver­steh, such den Schatz, mach dich auf die Reise, fühle, liebe, halt dich nicht fern!«

 

  • Bärbel Klässner: Die Musik zu einer sol­chen Flut. Par­ti­tu­ren und Essays Edi­tion Muschel­kalk, Bd. 50, Wart­burg Ver­lag Wei­mar 2020, 101 S., 14 EUR.
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