Anselm Oelze – »Der Wunderheiler. Wie Jochen Süss die Brehm-Gedenkstätte zu neuem Leben erweckte«

Person

Anselm Oelze

Orte

Renthendorf

»Brehms Welt« in Renthendorf

Thema

Bruchstellen

Autor

Anselm Oelze

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstdruck (in gekürzter Fassung) in: Thüringische Landeszeitung, 22.12.2023.

Der Wun­der­hei­ler

Wie Jochen Süss die Brehm-Gedenk­stätte zu neuem Leben erweckte

 

Von Anselm Oelze

 

Es ist Efeu über ihn gewach­sen. Wie eine Decke hat er sich gelegt, auf Alfred Brehm, den bekann­ten deut­schen Zoo­lo­gen und Autor, des­sen zehn­bän­di­ges Tier­le­ben Genera­tio­nen von Bücher­re­ga­len in aller Welt füllte (und wohl immer noch füllt). Und leicht hätte es pas­sie­ren kön­nen, dass abseits sei­ner berühm­ten Enzy­klo­pä­die nicht viel mehr von ihm bleibt als die­ses efeu­berankte Grab neben der Kir­che im klei­nen Ört­chen Ren­then­dorf, das sich schüch­tern ver­steckt in einem Tal des Saale-Holz­lan­des, wo Alfreds Vater, Chris­tian Lud­wig, einst Pfar­rer war.

Aber es kam anders. Und dass es anders kam, hängt nicht ganz unwe­sent­lich mit einem Mann zusam­men, der jetzt unweit von Brehms Fami­li­en­grä­bern steht, mit sei­nem gro­ßen, zot­te­li­gen Bob­tail namens Sir Win­s­ton, und sich die lan­gen Sträh­nen sei­ner weiß-grauen Haare hin­ter die Ohren streicht. Jochen Süss, so heißt er, ist erst vor weni­gen Tagen aus Ita­lien zurück­ge­kehrt, hatte sich, gemein­sam mit sei­ner Frau, Cre­mona und Tri­ent ange­se­hen, und zwi­schen­durch auch ein wenig gear­bei­tet, wie er etwas schuld­be­wusst gesteht. Dabei ist er offi­zi­ell seit elf Jah­ren in Rente und müsste eigent­lich gar nicht mehr arbei­ten, könnte längst einen Groß­teil sei­ner Zeit in Ligu­rien oder der Tos­kana ver­brin­gen, wie man sich das so vor­stellt für einen ehe­ma­li­gen Pro­fes­sor. Aber es kam eben anders.

Im Spät­som­mer 2012 stand der gebür­tige Alten­bur­ger hier am stei­len Hang, wo 1746 neben Kir­che und Fried­hof das Pfarr­haus hin­ge­setzt wor­den war und schließ­lich, über hun­dert Jahre spä­ter, noch ein Wohn­haus, für Ber­tha, die Witwe von Chris­tian Lud­wig. Die musste ja irgendwo blei­ben, nach­dem ihr Mann 1864 gestor­ben war, jenem Jahr, in dem unter dem Titel Illus­trir­tes Thier­le­ben die erste Auf­lage von Alfreds Enzy­klo­pä­die erschien. Bis nach dem Zwei­ten Welt­krieg befand sich das Haus in Brehm­schen Hän­den, diente auch Alfred als Alters­wohn­sitz, bis ein Nach­fahre es 1952 an die Gemeinde über­gab. Zu die­sem Zeit­punkt hatte Frieda Pösch­mann, Alfreds Toch­ter, bereits zwei Räume des Hau­ses als Gedenk­stätte ein­ge­rich­tet für ihren Vater, den »Tier­va­ter« Brehm, und ihren Groß­va­ter, den »Vogel­pas­tor«, so genannt, weil er sich in jeder freien Minute zwi­schen Got­tes­diens­ten, Tau­fen, Trau­un­gen und Beer­di­gun­gen der Orni­tho­lo­gie wid­mete. Die Gedenk­stätte blieb bestehen, wurde schließ­lich in eine Dau­er­aus­stel­lung ver­wan­delt, über die Jahre jedoch zuneh­mend nur noch ver­wal­tet, bis die Gemeinde 2012 den Geld­hahn zudrehte (aus dem ohne­hin kaum noch etwas geflos­sen war). Nicht wenige schlu­gen vor, das marode Haus abzu­rei­ßen, es auf­zu­ge­ben wie einen Pati­en­ten mit mul­ti­plem Organ­ver­sa­gen, denn im Kel­ler stand das Was­ser, an den Wän­den wuchs der Schim­mel, aus den Fens­ter­bö­gen rutsch­ten die Schluss­steine, durch die Holz­trep­pen fra­ßen sich die Wür­mer – ein hoff­nungs­lo­ser Fall also, der eigent­lich nur noch durch ein Wun­der geret­tet wer­den konnte.

Mit Wun­dern hatte es Jochen Süss von Berufs wegen nicht wirk­lich. Und anders, als zu erwar­ten wäre, gehört er auch nicht zu jener Hand­voll ein­ge­fleisch­ter Hobby-Spe­zia­lis­ten, die so wie Chris­tian und Alfred Brehm es bei den Tie­ren taten, alle freie Zeit einer Sache wid­men, in die­sem Fall dem Brehm­schen Werk und sei­nem Ver­mächt­nis. Süss war zwar Pro­fes­sor der Bio­loge, als sol­cher aber Lei­ter des Natio­na­len Refe­renz­la­bors für durch Zecken über­tra­gene Krank­hei­ten in Jena gewe­sen. Und mit Beginn sei­ner Pen­sio­nie­rung hätte er sich auch gut und gerne noch etwas mehr dem alten Bau­ern­hof im nahen Lip­pers­dorf wid­men kön­nen, den er mit sei­ner Frau restau­riert hatte. Daher ist es min­des­tens ver­wun­der­lich, dass aus­ge­rech­net er hier auf den Plan trat und dafür sorgte, dass mehr von den Brehms erhal­ten blieb als nur ihre Grä­ber und viel­leicht noch ein Gedenkstein.

Doch wie für (fast) alles, gibt es auch in die­sem Fall Erklä­run­gen, und die haben aus­nahms­weise ein­mal nicht mit (alten wei­ßen) Män­nern, son­dern mit drei Frauen zu tun. Da ist zum Ers­ten Ama­lia Wil­hel­mine Wach­ter. Ohne sie wäre Ren­then­dorf viel­leicht nicht viel mehr als das ver­steckte Täler­dörf­chen geblie­ben. Denn hätte sie im Jahr 1813 nicht hier gelebt, hätte Chris­tian Lud­wig Brehm womög­lich kei­nen guten Grund gehabt, seine Pfarr­stelle aus­ge­rech­net hier, im Hei­mat­dorf sei­ner Ver­lob­ten, anzu­tre­ten. Und hätte sie ihm nicht den Haus­halt geschmis­sen, hätte er sich ver­mut­lich nicht neben sei­nem eigent­li­chen Beruf der hei­mi­schen Vogel­welt wid­men kön­nen (seine Tau­sende Vogel­bälge umfas­sende Samm­lung liegt heute unter ande­rem im Ame­ri­can Museum of Natu­ral History in New York , fein­säu­ber­lich ver­se­hen mit den Eti­ket­ten, die er einst anhef­tete, ans Blau­kehl­chen zum Bei­spiel, Lusci­nia svecica, erlegt am 25.4.1834).

Als Zweite ist da die bereits erwähnte Frieda Pösch­mann. Hätte sie nicht schon 1946 zwei Räume als Gedenk­stätte ein­ge­rich­tet – wer weiß, ob das Haus dann über­haupt jemals als sol­ches genutzt wor­den wäre. Sie konnte natür­lich nicht ver­hin­dern, dass es ein hal­bes Jahr­hun­dert spä­ter nur noch als Ruine exis­tierte. Aber zum Glück gab es da ja noch eine Zahn­ärz­tin aus Saal­feld, zugleich Ehe­frau von Jochen Süss. Und die legte ihrem Mann im Som­mer 2012 eine Aus­schrei­bung auf den Tisch. Gesucht wurde jemand, der sich im Auf­trag des Kom­mu­na­len Zweck­ver­ban­des um die Brehm­sche Bruch­bude küm­merte. Umfang: wenige Wochen­stun­den. Genau das Rich­tige für ihren Mann, dachte sie, damit dem nicht zu Hause die Decke auf den Kopf fiele und er drän­gele, wann sie end­lich nach Hause komme, die Kar­tof­feln wür­den kalt. Als er die Stelle bekam, stand er plötz­lich da und sah, was er sich ein­ge­brockt hatte: Ein Haus, dass ent­we­der sofort wie­der geschlos­sen oder aber von Grund auf saniert wer­den musste.

Er sei weiß Gott kein weh­lei­di­ger Mensch, sagt Süss. Soll hei­ßen: Er sei nicht nah am Was­ser gebaut. Aber als er jetzt zu erzäh­len beginnt, wie er sich tat­säch­lich für die Sanie­rung ent­schied, weil ihm schien, dass ein Ort wie die­ser, mit sei­ner inter­na­tio­na­len Bedeu­tung für die Kul­tur- und Wis­sen­schafts­ge­schichte, nicht ein­fach unter­ge­hen dürfe, und wie er es schaffte, Geld­quel­len dafür auf­zu­tun, da kom­men ihm doch fast die Trä­nen. Es gab näm­lich zunächst kein Geld. Weit und breit nicht. Bis er eine Nach­richt an die Her­mann Reem­tsma Stif­tung in Ham­burg schickte. Er wisse, schrieb er, dass sie sich eigent­lich nur für Kul­tur­denk­mä­ler im nord­deut­schen Raum ein­setze. Aber Alfred Brehm sei ja auch einige Jahre Zoo­di­rek­tor in Ham­burg gewe­sen, viel­leicht rei­che das aus? Als das Besich­ti­gungs­ko­mi­tee aus Ham­burg wirk­lich anrückte, raunte ihm der alte Reem­tsma zu, wo Nord­deutsch­land auf­höre, bestimme er, zahlte fortan sämt­li­che Eigen­an­teile, die für jeg­li­che För­der­an­träge benö­tigt wur­den, und Jochen Süss konnte sein Glück kaum fas­sen: Es war tat­säch­lich ein Wun­der geschehen.

Dem ers­ten Wun­der folg­ten noch wei­tere. Denn anders ist nicht zu erklä­ren, was seit 2020 mit eige­nen Augen sehen kann, wer nach Ren­then­dorf fährt: Da steht, ange­stri­chen mit roter Engobe, das Wohn­haus, nicht wie­der­zu­er­ken­nen, außer für Alfred viel­leicht. Denn hier wurde nicht halb­her­zig reno­viert, son­dern ver­sucht, soweit wie mög­lich jenen Zustand wie­der­her­zu­stel­len, in dem er es zurück­ge­las­sen hat. Auf dem Boden, in Braun, die Ori­gi­nal­die­len. An den Wän­den die Ori­gi­nal­mus­ter der Tape­ten (hand­ge­druckt, nach­dem bis zu ein­und­zwan­zig jün­gere Farb­schich­ten ana­ly­siert wor­den waren). An der Decke die restau­rierte gol­dene Lampe, dar­un­ter das Sofa, von einem Pols­te­rer auf­wen­dig instand­ge­setzt, sodass es so aus­sieht wie damals, als der Makake und der Bart­affe, die Alfred aus Afrika mit­ge­bracht hatte, dar­auf herumtobten.

Und zwi­schen den Möbeln die Gedenk­stätte – Nein! Ganz wich­tig! – das Museum. Das ist mehr als nur ein fei­ner Unter­schied. Denn wenn Jochen Süss Eines nicht errich­ten wollte, dann ein muf­fig rie­chen­des Memo­rial, wie er sagt, einen Ort eben, der nur der Anbe­tung der Ver­stor­be­nen dient, nichts Leben­di­ges mehr hat, nur in die Ver­gan­gen­heit, aber nicht in die Zukunft weist. Und – oh Wun­der Num­mer, ja, wie viel eigent­lich? – das ist gelun­gen. In acht Jah­ren und groß­zü­gig finan­ziert von der Thü­rin­ger Staats­kanz­lei wurde aus dem Brehm­schen Haus Brehms Welt, Unter­ti­tel: Tiere und Men­schen. Wes­halb es in den Räu­men dann auch, aber eben nicht nur um Chris­tian und Alfred geht, um das bio­gra­fi­sche Klein­klein also, wie es aus zahl­rei­chen Gedenk­stät­ten hin­läng­lich bekannt ist. Son­dern um die ganz gro­ßen Fra­gen: Was ist ein Tier? Was ist der Mensch? Was macht er mit Tie­ren? Was darf er mit ihnen tun? Das alles ani­miert mit Pro­jek­tio­nen an den Wän­den, mit her­aus­zieh­ba­ren Schub­la­den und Touch­screens, mit einer eige­nen Muse­ums-App, in der dann für die Kin­der auch Frieda Pösch­mann wie­der auf­lebt, als Muse­ums­füh­re­rin, ähn­lich wie Alfred, der plötz­lich, halb Fata Mor­gana, halb lebens­echt, in zwei Spie­geln erscheint und zu erzäh­len beginnt, so ähn­lich wie Jochen Süss, der jetzt in einem Raum steht, wo in einer Vitrine fünf Vogel­bälge von Chris­tian Lud­wig lie­gen (zwei Kucku­cke, zwei Haus­rot­schwänze, ein Erlen­zei­sig). Süss zeigt auf eine tür­große Aus­spa­rung in der Wand und erklärt, dies sei übri­gens der Blick auf den Süss­chen Grö­ßen­wahn. Schon vor Jah­ren habe er gesagt, es brau­che zusätz­lich noch einen moder­nen Anbau: für ein ordent­li­ches Café, einen freund­li­chen Kas­sen­be­reich, für Gar­de­robe und Vor­trags­raum, für ein Depot, wo auch Chris­tian Lud­wigs Son­der­druck über Mäuse gela­gert wer­den kann, der inzwi­schen wie­der her­ge­stellt ist, nach­dem – ja, kein Witz – Mäuse ihn ange­nagt hat­ten. Und die­ser glä­serne Anbau, mit begrün­tem Dach und Solar­an­lage, ver­steht sich, würde, könnte, sollte dann hier, an die­ser Stelle, wo die Wand kahl ist, ins his­to­ri­sche Wohn­haus über­ge­hen, sodass ganz neben­bei auch noch für einen bar­rie­re­freien Zugang gesorgt wäre. Das alles scheint in der Tat sehr groß gedacht. Nur: Von drau­ßen ist jetzt ganz real das Brum­men eines Bau­krans zu hören, das Strei­chen von Mau­rer­kel­len, das Sur­ren von Bohr­ma­schi­nen. In einem knap­pen Monat ist Richt­fest. Dann wird viel­leicht auch Bodo Rame­low, der Thü­rin­gi­sche Minis­ter­prä­si­dent, erneut anrei­sen und sagen, den Jochen Süss, den könne man zwar vorne raus­wer­fen, er komme aber zur Hin­ter­tür wie­der herein.

Als ob all das noch nicht genug der Wun­der und des Ver­wun­der­li­chen wäre, ist etwas Wei­te­res kaum begreif­lich: Wie Jochen Süss hier ste­hen kann, ganz unei­tel und, Grö­ßen­wahn hin oder her, mit maxi­ma­ler Beschei­den­heit, neben der Wand mit den Urkun­den (Ver­dienst­kreuz am Bande der BRD, Thü­rin­gi­scher Denk­mal­schutz­preis, Muse­ums­preis der Spar­kas­sen-Kul­tur­stif­tung Hes­sen Thü­rin­gen), die er selbst­iro­nisch »die Protz­ecke« nennt. Wenn er erzählt, was war, was ist, was sein wird, sagt er kaum »ich«, son­dern fast immer »wir«. Und damit hat er natür­lich recht, denn es war und ist ja nicht nur er, der hier tut und macht, es waren und sind sehr viele Men­schen. Manch einer in sei­ner Posi­tion würde die ver­mut­lich trotz­dem unter­schla­gen. Er aber nicht. Statt­des­sen erzählt er von Chris­tian Lud­wig (von dem er gesteht, dass er sich ihm, was Wesen und Auf­tre­ten betrifft, ein klein wenig näher fühle, als dem bekann­te­ren Alfred), und sagt, es sei erstaun­lich, dass der unter der gan­zen Arbeit nicht zusam­men­ge­bro­chen ist. Das ist in der Tat erstaun­lich. Aber ebenso erstaun­lich ist, dass Jochen Süss nicht längst hin­ge­schmis­sen hat, gleich damals, als er hier­her­kam, und auch heute, wo die Zukunft noch immer mehr Pro­blem­berge als rosige Aus­sich­ten bie­tet – die lang­fris­tige Finan­zie­rung des Muse­ums, die Per­so­nal­aus­stat­tung, die schlechte Anbin­dung an den Öffent­li­chen Nah­ver­kehr, ach, man weiß gar nicht, wo anfan­gen, wo aufhören.

Da drängt sich dann natür­lich eine Frage auf: Würde er es wie­der so machen? Würde er sich wie­der ein­las­sen auf die­ses (Größen)Wahnsinnsprojekt? Er denkt einen Moment lang nach – »Eigent­lich ja.«

Doch dann schaut er zu Boden. Dort liegt, seit Stun­den schon, Sir Win­s­ton und bringt mit gekonn­tem Hun­de­blick fast jeden, der vor­bei­kommt, dazu, ihn wenigs­tens kurz zu krau­len. Und als sein Herr­chen ihn so sieht, sagt er: »Aber Eins ist klar: Im nächs­ten Leben werde ich Hund bei Fami­lie Süss.«

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