Annette Seemann – »Conundrum in W.«

Person

Annette Seemann

Ort

Weimar

Thema

Dichters Wort an Dichters Ort

Autor

Annette Seemann

»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.

Expo­si­tion.

Kein his­to­risch oder lite­ra­risch bedeu­ten­der, in Füh­rern beschrie­be­ner Ort wird vor­ge­stellt, kein Stol­per­stein oder Denk­mal, keine See­len­land­schaft, kein ein­sa­mes Hütt­lein im Walde und auch kein Garten.

Mein Ort ist nicht geer­det, denn Erde ist nicht mein Ele­ment, er ist auch nicht feu­rig. Luf­tig aller­dings auch, jeden­falls som­mers. Mei­nen Ort teile ich oft mit ande­ren, und ich nehme es als con­di­tio sine qua non hin, dass in sei­ner Win­ter-Ver­sion Beschal­lung als unver­meid­li­che Drein­gabe auf­ge­fah­ren wird. So wie die all­ge­meine Beschal­lung auch in Kauf­häu­sern, lee­ren Kir­chen und in Tele­fon­war­te­schlei­fen u.ä. üblich gewor­den ist. Mei­nen Ort muss ich dem­zu­folge und wahr­heits­ge­mäß auf­tei­len in Som­mer- und Win­ter­ort, grö­ße­ren und klei­ne­ren, natür­lich erhal­te­nen und che­misch auf­be­rei­te­ten, behim­mel­ten und bedach­ten, lieu de désir und Not­lö­sung. An ihm komme ich zu mir, bin ich nicht im Gleichgewicht.

Sie wer­den lachen über mei­nen Ort, den­ken, ich treibe Scherze mit Ihnen, wenn Sie ihn sehen. Oder viel­leicht auch nicht. Erspa­ren Sie sich bloß jeg­li­ches Mit­leid. Soll­ten Sie aber jemals abends eine halbe Stunde lang den nächs­ten Tag geplant haben, im Vier­tel­stun­den­rhyth­mus, und über Jahre (eigent­lich zwei­ein­halb Jahr­zehnte) nur zwei Stun­den täg­lich für Ihre eigent­li­che Arbeit, das Schrei­ben näm­lich meine ich, gehabt haben, weil Sie auch noch glück­li­che Mana­ge­rin eines klei­nen Fami­li­en­un­ter­neh­mens waren (um nur diese kleine Hürde für ruhige, geis­tige Arbeit zu nen­nen, ich schweige von Archiv- und Biblio­theks­ar­beit und sowieso von Aus­wärts­le­sun­gen), dann wer­den Sie wahr­schein­lich nicht lachen. Dann wer­den Sie Ver­ständ­nis dafür ent­wi­ckeln, dass ich bei Lesun­gen von Kol­le­gen in der Regel fehlte, weil meine Mit­ar­bei­ter stän­dige Unter­stüt­zung bei der Ent­wick­lung ihrer Poten­tiale benö­tig­ten. Und Sie wür­den dann viel­leicht sogar bei sich sagen: In die­ser Lage die­sen Ort wenigs­tens ein­mal pro Woche (im Som­mer mehr!) auf­zu­su­chen, ist allerhand!

Das Wort: aller­hand würde ich immer zurück­wei­sen. Erset­zen durch: Not­wen­dig. Oder: Essen­ti­ell. Das ist es, war es, wird es sein, da nur so Zugang zum Exis­ten­ti­el­len für mich mög­lich ist, nur so Wahr­neh­mung des Selbst und des Ande­ren initi­iert wer­den kann. Der Ort als Reset­knopf mei­ner Selbst. Das dort gefor­derte Ver­hal­ten als The­ra­pie. Lösung phy­si­scher und psy­chi­scher Kno­ten. Pur­ga­to­rium. Tabula rasa. Die weiße Seite, die hin­ter­her war­tet, ist die Belohnung.

Durch­füh­rung.

Nach gründ­li­cher Sich­tung der Agenda gelang die Indi­vi­du­ie­rung des geeig­ne­ten Zeit­punkts. Keine unvor­her­ge­se­he­nen Zwi­schen­fälle im Unter­neh­men hiel­ten ab noch irgend­ein „Zip­per­lein“. Denn: Gesund­heit ist neben Zeit die zweite Vor­aus­set­zung, um den Ort in der vor­ge­se­he­nen Weise zu nut­zen. Ob sich bei der Nut­zung Genuss ein­stellt, ist indi­vi­du­ell zu bestim­men. Der Auf­bruch kann also erfol­gen. Dorthin.

Halt. Ganz ohne Aus­rüs­tung geht es nicht. Mini­mal benö­tige ich das übli­che Kleid für mein Geschlecht. Kein gro­ßes Gepäck also. Die Zei­ten sind 50 Jahre vor­bei, dass Frauen einen Auf­stand prob­ten ange­sichts der Zumu­tung, dass sie mit Kopf­be­de­ckung dort anzu­tre­ten hat­ten, Män­ner aber nicht.

Ich ver­gaß mit­zu­tei­len, dass mein Ort nicht zu allen Tages- und Nacht­zei­ten „avail­able“ ist. Mein Ort wird näm­lich ver­wal­tet. Er ist also durch und durch unro­man­tisch, die­ser blöde Ort, wer­den Sie da mau­len. Rich­tig, er ist kühl, er ist klar, er ist ein Wirt­schafts­un­ter­neh­men, er dient Zwe­cken, er ist ein Schmelz­tie­gel aller Bevöl­ke­rungs­schich­ten, viele leh­nen ihn ganz und gar ab, fin­den ihn eklig, sind all­er­gisch auf ihn. Und andere wie­der, so wie ich, die brau­chen ihn. Eine Kir­che ist es nicht, wenn­gleich ich schon öfter ver­sucht habe, Par­al­le­len auf­zu­zei­gen. Schluss jetzt mit der Phi­lo­so­phie, ich will doch dort­hin, ich muss! Und dafür ist es meine Auf­gabe, den Ort­ska­len­der und mei­nen zur Kon­gru­enz brin­gen. Aber als Klein­un­ter­neh­me­rin schaffe ich so etwas spie­lend – und bin jetzt schon da.

Der Ort ist übri­gens so alt wie meine Mut­ter. Und sie schätzte einst, als sie jung war, ver­gleich­bare Orte genauso wie ich. Ein Erb­teil viel­leicht … damals, so lese ich vor dem Ein­tritt, war der Ort der modernste sei­ner Art in ganz Deutsch­land. Die Geschichte sei­ner Reno­vie­run­gen, Restau­rie­run­gen, Über­for­mun­gen und Rück­bau­ak­tio­nen, denn Teile mei­nes Orts sind – ja, doch, immer­hin: Denk­mä­ler – ist sehr komplex.

Nun habe ich ja gesagt, es gibt den Som­mer- und den Win­ter­ort, und je nach­dem ist sowohl seine umge­bende Hülle anders und er selbst eben­falls. Viel klei­ner im Win­ter. Wenn ich rich­tig gerech­net habe, geht der kleine Win­ter­ort sechs­mal in den gro­ßen Som­mer­ort. Und es ist ein­fach kein Ver­gleich. Den Som­mer­ort finde ich groß­ar­tig, groß­zü­gig, und selbst an hei­ßes­ten Tagen, wenn fast jeder hier sein möchte, kann ich unge­stört an mei­ner Null­stel­lung arbei­ten. Mein  hei­ßer Tipp ist: Som­mer­re­gen. Suchen Sie ihn mal bei einem war­men Som­mer­re­gen auf, das ist unvergleichlich.

Sie inter­es­sier­ten sich nun aber für das adäquate Ver­hal­ten dort. Gut, auch hierzu ver­wert­bare Infor­ma­tio­nen: Nach Anle­gen des ritu­ell hier ver­wand­ten Kleids und einer (ritu­el­len wie vor­ge­schrie­be­nen) Rei­ni­gung suche ich den Ort (egal, ob Som­mer­ort oder Win­ter­ort) auf. Wenige Stu­fen abwärts sind zu über­win­den. Dann gebe ich mein auf­rech­tes Gehen auf zuguns­ten der gefor­der­ten Hori­zon­tal­be­we­gung. Und das ist es bereits.

In die­sem Augen­blick fällt alles ab von mir. Es gibt kein Vor­her und kein Nach­her, die Zeit­ebe­nen fal­len zusam­men, ein ewi­ges Hier und Jetzt setzt ein, ich gleite in einen archai­schen Seins­mo­dus und bin nicht mehr Herr mei­nes Den­kens. Das ist die beste Form der Nut­zung, die aber nicht immer gelingt. Manch­mal näm­lich ist es auch so, dass die hori­zon­tale Bewe­gung, rasch aus­ge­führt, einer Form des Abre­agie­rens gleicht. Das hat dann mehr mit einem Kampf zu tun, und mein Wunsch, die Atmung ruhig und gleich­mä­ßig strö­men zu las­sen, wird dann nicht ver­wirk­licht. Die Tem­pe­ra­tur des mich umge­ben­den Ele­ments stört mich im Unter­schied zu den aller­meis­ten in der Regel nicht, ich kann auch recht nied­rige Tem­pe­ra­tu­ren als ange­nehm kon­sta­tie­ren. Ins­be­son­dere nach Ver­las­sen des Orts wirkt sich vor­he­rige Kälte güns­tig auf das Wohl­be­fin­den aus. Sowie auch den Appe­tit. Zu mei­nem Ritual gehört, dass ich genau die Hälfte einer Stunde die Hori­zon­tal­be­we­gung aus­führe und zwar eben­falls ritu­ell, jeweils den Ort ein­mal dor­sal durch­mes­send, wen­dend und dann ven­tral. Und so wei­ter. Man könnte das durch­aus als eine lang­wei­lige Folge sche­ma­ti­scher Bewe­gun­gen bezeich­nen. Und des­halb leh­nen viele, die ich kenne, den Ort auch prin­zi­pi­ell ab.

Aus­wer­tung.

Neben der erwähn­ten Reset­mög­lich­keit habe ich an die­sem Ort oft schon beson­dere Kri­sen gemeis­tert, und ich habe hier auch über Monate mit einer ver­trau­ten Freun­din wich­tige kon­spi­ra­tive Gesprä­che geführt. Was auf­fiel, denn der Ort wird beob­ach­tet. Nicht so, wie Sie den­ken, son­dern ganz offen.

Ist der Ort gefähr­lich? Tja, das hängt ganz von Ihnen ab. Soll­ten Sie die Hori­zon­tal­be­we­gung nicht beherr­schen und jemand nötigt Sie an oder: in den Ort, dann … ist er gefähr­lich. An die­sen und ähn­li­chen Orten sind Men­schen zu Scha­den gekom­men – und auch gestor­ben. Keine Angst, nicht mehr als an ande­ren Orten. Ich jeden­falls fände es eigent­lich ganz schön, dort zu ster­ben. Damit will ich sagen: Schö­ner als im Auto, im Bett oder im OP, um nur ein paar gän­gige Abgangs­orte zu nennen.

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