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Annerose Kirchner
»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Wo fühlen sich Stadtmenschen wohl? Im Park, im Café, im Kaufhaus oder beim Frisör? Eine 2015 durchgeführte Umfrage im Auftrag von »Vorsicht Buch!«, der Kampagne der deutschen Buchbranche, unter 5.000 Deutschen ab 14 Jahren, ergab ein überraschendes Ergebnis. 74,3 Prozent der Befragten gaben die Buchhandlung als ihren Wohlfühlort an, wobei die Frauen den Ton angaben mit 77,0 Prozent und die Männer mit 71,4 Prozent. Es folgten Blumenladen und Bekleidungsgeschäft. Erfreulich, über 60 Prozent der befragten Jugendlichen tendierten eindeutig zur Buchhandlung, für den Handyladen nur 11,3 Prozent.
Der Stadtforscher Dr. Hans Herrmann Albert aus Berlin beschreibt die Buchhandlung als »Ort und Treffpunkt für Kiezkultur und multifunktionaler Anker für eine Region«. Und wie ist es damit bestellt, wenn man wie ich in Gera lebt und schreibt?
Gera ist nicht Berlin, die Vielfalt der Orte begrenzt, doch es gibt ruhige Oasen, wo man Zeitung lesen, in ein Buch schauen und sich dabei wohlfühlen kann. Da wären mein Stammcafé, die Italienische Eisdiele Umberto de Bernardo auf der Schlossstraße (seit drei Generationen in Gera ansässig, Spezialität: Espresso lungo), die Stadtbibliothek, das Kino »Metropol« und der Hauptbahnhof um die Ecke.
Mein Favorit ist allerdings eine der ältesten Buchhandlungen in Thüringen, ja sogar in Deutschland und Europa. Brendel’s Buchhandlung in der Großen Kirchstraße 12. »Es empfiehlt sich sehr, selbst bei mäßigen Bedarf, in regelmäßiger Verbindung mit einem tüchtigen Buchhändler zu bleiben. Die häufig sehr ungerechterweise geschmähten deutschen Sortimentsbuchhändler leisten tatsächlich durch Ratgeben, Auskünfte, Auswahlsendungen, Feststellen ungenau oder falsch mitgeteilter Büchertitel und hundert andere kleine Dienste den Leserkreisen und damit unserem geistigen Leben einen sehr anerkennenswerten Vorschub«, schrieb Hermann Hesse 1907 über den »Umgang mit Büchern«.
Diese Sätze passen auf diese kleine Geraer Buchhandlung, in der das digitale Zeitalter kaum zu spüren ist. Das Buch ist Mittelpunkt, es wird verkauft, der Umsatz muss stimmen, das Buch ist eine Ware, aber eben doch mehr als – darüber wird bei Brendel’s ausgiebig kommuniziert. Nicht jeder Kunde lässt sich auf dem grünen Ledersofa im hinteren Teil des Geschäftes nieder. Etwas Zeit muss man schon mitbringen und sitzt dann wohlig, entspannt, kann Zeitungen, Buchmagazine lesen und in neue Bücher schauen. Für ihre Stammkunden, zu denen ich mich glücklicherweise zählen darf, kredenzt Inhaberin Rosemarie Züge-Gutsche auch mal einen Kaffee oder ein Stück Kuchen, am besten im Buchkeller, dem von ihr mit mediterranem Flair ausgestatteten Buchkeller, kurz BuKe genannt. Der befindet sich über einem dem alten Höhlerlabyrinth, das sich unterirdisch durch das Stadtzentrum zieht und in dem die Gerschen einst ihr Bier lagerten. Bücher und BuKe, in dem auch Lesungen stattfinden, das verträgt sich gut, als Fortsetzung einer Tradition, die vor über 170 Jahren begann.
Am 20. April 1842 beantragte Henriette Ludwig geborene Freiin von Eychelberg bei der Fürstlichen Hochpreußischen Landesadministration die Konzession für eine Leihbibliothek. Die geschiedene Majorstochter musste nach dem Tod ihres Vaters ihren Lebensunterhalt allein verdienen. Ihrem Gesuch wurde stattgegeben. Sie gründete ihr Unternehmen auf dem Nachlass der in Konkurs gegangenenen Scherbarth’schen Leihbibliothek, die 1834 eröffnet worden war. Der erste Katalog umfasste an die 1.780 Bücher und Schriften, die jährlich ergänzt wurden. 1855, nach dem Tod der Frau von Eychelberg, erwarb der langjährige Gehilfe Friedrich Brendel das Geschäft unter dem Namen »Fr. Brendels Leseinstitut«. Wie seine Chefin brachte er Kataloge heraus und erweiterte den Buchbestand. Die Leihbibliothek firmierte im Laufe der Zeit unter mehreren Adressen, immer im Stadtzentrum.
50 Jahre lang war Friedrich Brendels Leihbibliothek die einzige in Gera. 1896 übernahm sie Alwin Nugel, der auch einen Versandbuchhandel aufbaute. 1905 befanden sich 60.000 Bände im Bestand. 1912 erwarb Julius Pelocke das Geschäft und erweiterte es mit einer Filiale. Im April 1945 wurde die Bibliothek, die sich damals am Geraer Markt befand, während eines Bombenangriffes zerstört. Neue Geschäftsräume fanden sich ab 1949, unter der bis heute gültigen Adresse Große Kirchstraße 12. Ernst Engelmann, in Bücher vernarrt, führte Brendel’s weiter. 1975 wurde ein Kommissionvertrag mit dem Volksbuchhandel abgeschlossen. Der Bestand der Leihbibliothek musste nach 133 Jahren aufgegeben werden. Welch ein Verlust. Von 1985 bis 1989 beriet Dittmar Voigtländer die Kunden, unterstützt von Herrn Engelmann, der nun als Angestellter auftrat.
Danach übernahm – nach 147 Jahren – wieder eine Frau das Ruder: Rosemarie Züge, in der DDR Finanzkauffrau im Volksbuchhandel. 1993, nach jahrelangen Anstrengungen, konnte sie das Gebäude in der Großen Kirchstraße käuflich erwerben. In allen vier Etagen wurde umgebaut und der Laden von 30 auf 100 Quadratmeter erweitert. Eröffnung: 1995 in einem völlig neuen Ambiente.
»Simmel geht weg wie warme Semmel« hieß es nach der Wende. Heute sind andere Bestseller gefragt. Doch für die Leser hat Brendel’s immer einen geheimen Tipp parat und das sind nicht immer die Bücher, die auf irgendwelchen Listen stehen. Dazu kommt die besondere Nähe, denn Rosemarie Züge, nach Wiederverheiratung mit neuem Namen Züge-Gutsche, von Freunden »Rosi« genannt, wohnt über ihrer Buchhandlung, im zweiten Stock.
Sie ist eine leidenschaftliche und geschäftstüchtige Buchhändlerin. 2015 wurde sie als Unternehmerin des Jahres ausgezeichnet und ist im Stadtrat aktiv. Seit Jahren saniert sie eine alte Schmiede mit einem herrlichen Innenhof (Kopfsteinpflaster), hat im gleichen Areal ein kleines Café eröffnet und ein Gartenparadies erstehen lassen.
»Ich bin Unternehmerin, weil ich etwas unternehme«, sagt Rosemarie Züge-Gutsche. Ihre Agilität, ihre Begeisterung beeindruckt jeden, der sie kennt. Sie empfiehlt Bücher, macht das Lesen regelrecht »schmackhaft«, ohne die Leser zu bedrängen, denn sie weiß, dass jeder seine eigene Ansicht über Literatur hat.
Es vergeht kaum ein Tag in der Woche, an dem ich nicht in der Buchhandlung vorbei schaue. Das richte ich mir so ein. Bei längerer Abwesenheit fehlt mir dieser Ort, deshalb kehre ich gern wieder zurück. Das ist so bei Büchermenschen, die ohne das gedruckte Wort nicht leben können. Deshalb nehme ich, vorher durch die Stadt flanierend, gerne Platz auf dem grünen Sofa bei Brendel’s und erlaube mir ein längeres Nach-Sitzen, um zu lesen, zu plaudern, um einfach ein bisschen mehr von der Welt zu verstehen.
Übrigens, die älteste Buchhandlung Europas, die »Livraria Bertrand«, soll sich in Lissabon befinden. Sie wurde 1732 eröffnet. Die Jahreszahl lässt zweifeln, denn die älteste Buchhandlung in Deutschland besteht in Nürnberg, am Hauptmarkt, seit 1531. In dieser Runde hat Brendel’s Buchhandlung einen guten Platz – sie ist trotz ihres Alters jung geblieben.
Gera, im Dezember 2015
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