Anke Engelmann – »Eiapopeia im Prenzelberg«

Personen

Anke Engelmann

Christoph Schmitz-Scholemann

Ort

Weimar

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Christoph Schmitz-Scholemann

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstdruck in: Palmbaum, Heft 1/2022.

Chris­toph Schmitz-Scholemann

Mit Sog-Poten­tial

 

Das Buch hat Sog-Poten­tial, es kann süchtig machen, denn es ist durch­kom­po­niert und die ein­zel­nen Geschich­ten sind es auch. Der Band ver­sam­melt 21 Erzäh­lun­gen der Wei­ma­rer Schrift­stel­le­rin Anke Engel­mann. Ein schö­nes Buch mit einem von Roland Ber­ger geschaf­fe­nen Lin­ol­schnitt auf dem Schutz­um­schlag, gedruckt in 333 num­me­rier­ten Exem­pla­ren. Schon äußer­lich etwas für wahre Bücherfreunde. Die Geschich­ten han­deln von Men­schen, lie­ben­den und gelieb­ten, alten und jun­gen, ver­zwei­fel­ten und gelas­se­nen, trau­ri­gen und kran­ken. Jede der auf­tre­ten­den Per­so­nen wird kennt­lich durch die spe­zi­elle Lebens­lage, in der wir sie antref­fen, ob im Auto, bei der Arbeit oder beim Tan­zen. Da ist eine Frau, der ein Bein ampu­tiert wird und die mit­hilfe eines Pfle­gers doch den Wal­zer zurück ins Leben wagt (Prin­zes­sin auf der Erbse). Da ist ein Mäd­chen, das von sei­nen Eltern zum Sonn­tags­spa­zier­gang gezwun­gen wird (Eins, zwei, drei, vier Eck­stein). Oder die Frau, die im Schlaf­saal einer DDR-Wochenkrip pe putzt und dabei – ent­ge­gen der Anwei­sung – wei­nende Kin­der trös­tet (Frau Woche). Die weib­li­che Per­spek­tive ist vor­herr­schend, ohne dass man sich als männ­li­cher Leser aus­ge­schlos­sen fühlt. Die Geschich­ten haben alle einen kon­kre­ten zeit­lich und räum­lich ein­ge­grenz­ten Ort. Es sind keine Bege­ben­hei­ten, die sich überall zutra­gen könn­ten. Die Außen­welt taucht nicht als Meta­pher­n­ar­ran­ge­ment auf, es geht sehr kon­kret zu, es sind rea­lis­tisch erzählte Geschich­ten. Das heißt auch: Es ist nicht immer schön da, wo sie spie­len. Die Ding­welt ist wider­stän­dig: Sei es in Gestalt eines Han­dys, der Elek­tro­säge eines Chir­ur­gen, einer Rau­cher­ecke oder eines Druck­luft­nag­lers. Die Orte der Hand­lun­gen sind auch poli­tisch bestimmt: Wir befin­den uns in Ost­deutsch­land, teils zu DDR-Zei­ten, teils danach. Viele der Per­so­nen, von denen das Buch erzählt, sind in irgend­ei­ner Weise von den Wir­kun­gen des DDR-Sys­tems gezeich­net. Zum Bei­spiel zwei Kin­der im Jahre 1970, deren Mut­ter »zur Klä­rung eines Sach­ver­halts« abge­holt wird (Du musst jetzt mal tot sein). Die Arbeit eines jun­gen Men­schen im Möbel­kom­bi­nat (Tom Waits wohnt nicht am Bit­ter­fel­der Weg). In Anke Engel­manns Geschich­ten – wie in der Wirk­lich­keit – ist die DDR nach der »Wende« kei­nes­wegs ver­schwun­den. Wohl hat sie als Staat auf­ge­hört zu exis­tie­ren. Aber das, was an ihr prä­gend war, wirkt wei­ter. Manch­mal im All­täg­li­chen, wenn um die Weih­nachts­zeit 30 Jahre altes Lametta in einem Schuh­kar­ton auf­taucht (Schnee­alarm). Manch­mal auch im Poli­ti­schen: Da tritt ein ehe­ma­li­ger NVA-Offi­zier auf, der in der Jetzt­zeit in die rechts­ra­di­kale Szene gewech­selt ist (Schen­zels Schat­ten), viel­leicht nur als V‑Mann? Anke Engel­mann erzählt die Nöte und Freu­den, Erleb­nisse und Sehnsüchte ihrer Prot­ago­nis­ten »von innen«. Ihr Haupt­au­gen­merk gilt den Abdrücken, die das Gesche­hen im Gefühlsleben der Men­schen hin­ter­lässt: Ver­wir­rung, Ent­set­zen, Schre­cken, Schuldgefühle, Zau­ber, Belus­ti­gung, Stolz – also alle mög­li­chen Gefühle, manch­mal aber auch nur Sprach­lo­sig­keit: So wenn vom gewalt­sa­men Tod einer Katze die Rede ist (Die Katze) oder von der gräss­li­chen Ent­de­ckung, dass ein naher Mensch offen­bar ein­sam und ver­zwei­felt gestor­ben ist und sein ver­wes­ter Leich­nam erst lange Zeit spä­ter gefun­den wurde (Drei Assi­punkte). Es sind bei­leibe nicht nur die nega­tiv besetz­ten Gefühlslagen, die in knap­pen Sät­zen, manch­mal bis zur Atem­lo­sig­keit ver­dich­tet, zur Spra­che kom­men. Im Gegen­teil: eine Art zugleich abge­klär­ten, roman­ti­schen und doch so liebenswürdig unbe­hol­fe­nen jugend­li­chen Über­muts, eine allen­falls leicht melan­cho­lisch gefärbte Lebens- und Lie­bes­neu­gier, gibt den Ton an. Und in Geschraubt, nicht gena­gelt ler­nen wir ein hochvergnügtes Paar ken­nen, das sich in der Zeit vor dem Mau­er­fall auf raf­fi­nierte Weise ein ganz schön unter­halt­sa­mes Leben zu machen ver­steht: Mar­got und Andy berich­ten in anzie­hend schnodd­ri­gem Ton­fall von ihrer einer­seits klan­des­ti­nen, ande­rer­seits ziem­lich freien Unter­neh­mer­schaft: einer Immo­bi­lien-Reno­vie­rung für Ange­hö­rige der DDR-Ober­schicht in Schwarz­ar­beit. Kurz: ein abwechs­lungs­rei­ches und zugleich anspruchs­vol­les Stück Lite­ra­tur. Anke Engel­mann erweist sich als eine Vir­tuo­sin im Genre der Kurz­ge­schichte. Mit schein­bar leich­ter Hand und weni­gen Wor­ten evo­ziert sie Bil­der und Stim­mun­gen und por­trä­tiert Per­so­nen. Das Wich­tigste an die­sem Buch ist für mich aber das Vergnügen zu sehen, was gute Lite­ra­tur kann: sie öff­net jenen geis­tig-emo­tio­na­len Raum des Mensch­li­chen, den man in kei­nem Kino und auf kei­nem Bild der Welt zei­gen, den Musik nicht erklin­gen las­sen und Wis­sen­schaft nicht in Zah­len und Begrif­fen wie­der­ge­ben kann, einen Raum, der zwi­schen Den­ken und Fühlen liegt, zwi­schen Bild und Ton­fall, zwi­schen Wort und Ruf und den wir Men­schen als ein­zige Lebe­we­sen bewoh­nen kön­nen – der genuine Raum der Lite­ra­tur. Anke Engel­mann sagt das in der letz­ten Geschichte ihres Buchs (Der Bücherfresser) viel schö­ner: »Dann öff­net man ein Buch und Worte fal­len her­aus, beschwö­ren Land­schaf­ten, Men­schen, Erin­ne­run­gen. Das trägt einen wie ein Traum …«

 

  • Anke Engel­mann: Eia­po­peia im Pren­zel­berg. Erzäh­lun­gen, Edi­tion Schwarz­druck, Gran­see 2021, BückWarenLiteratur Bd. 27, 127 Sei­ten, 15 Euro
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