Person
Orte
Menantes-Denkmal in Wandersleben
Thema
Cornelia Hobohm
Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Erstdruck (in gekürzter Fassung) in: Thüringische Landeszeitung, 21.12.2023.
Ein unruhiger Geist. Pfarrer Bernd Kramer
Von Cornelia Hobohm
Im Sommer 2022 steht Pfarrer Bernd Kramer im beinahe ausgetrockneten Flussbett der Apfelstädt nahe des gleichnamigen Dorfes, angetan mit einer grünen, bestickten liturgischen Stola, aber ohne Ornat, und gestaltet eine Andacht zur Bewahrung der Schöpfung. Mitglieder des NABU und einer Bürgerinitiative bilden mit Kirchgemeindegliedern, Posaunenchor sowie Anwohnern ohne Bindung zu Kirche oder Naturschutzverband eine eher ungewöhnliche Teilnehmerschaft. Genau dieses Bild kann symbolisch für all die Dienstjahre und das Arbeitsethos dieses ungewöhnlichen Pfarrers stehen. Denn das Flüsschen ist in Not und bedroht, nicht nur wegen des allseits beschriebenen Klimawandels und des ungewöhnlich trockenen Sommers in jenem Jahr, sondern auch durch menschengemachte politische Fehlentscheidungen von Behörden, die dazu führten, dass die Apfelstädt nun sehr viel weniger Wasser führt und in manchen Sommern trockenen Fußes durchquert werden kann. In einer der ersten Publikationen Kramers (zusammen mit Birgit Hähnlein und Alfred Kirsten) widmete sich dieser jenem Flusslauf, der wenig unterhalb des Rennsteigs bei Tambach-Dietharz entspringt und im Marienthal wenige Kilometer vor den Erfurter Stadtgrenzen in die Gera mündet.
»Die Apfelstädt. Ein Fluß im Wandel der Zeiten«[1], so lautet der Titel des 2000 erschienenen und ansprechend gestalteten Buches. In diesem wird die Apfelstädt mehrfach als munter dahinplätscherndes Flüsschen beschrieben – eine Formulierung, die so heute nicht mehr immer und für alle Anrainerorte zutrifft. Für Kramer ist es eine Herzensangelegenheit, auf den Notstand des Flusses aufmerksam zu machen, hat er doch seinerzeit vor allem zur vielschichtigen Mühlengeschichte recherchiert und geschrieben. Die meisten Mühlgräben sind heute zugeschüttet, noch vorhandene führen häufig kein Wasser mehr; umliegender Auenwald ist in Gefahr. Für den Pfarrer hängt alles mit allem zusammen und somit ist es für ihn nur naheliegend, dass er sich nicht auf die sonntägliche Predigt reduzieren kann, wenn er Menschen ansprechen und Mut machen will. Kramer hat den Dienst als Pfarrer im ländlichen Raum viel mehr auch als Kulturträger, als Wissensvermittler, als Erklärer verstanden und steht so in einer sehr langen Tradition von Theologen. Seelsorger für die Gemeinden Apfelstädt, Wandersleben, Kornhochheim, Großrettbach, Ingersleben und Neudietendorf zu sein ist sein Beruf, doch erinnert er stets daran, dass besonders im dörflichen Umfeld auch in früheren Zeiten der Pfarrer auch immer ein Vermittler von Kultur und Bildung war.
So begreift er sein Amt bis heute. Diese kompromisslose Haltung, kirchliche und weltliche Gemeinde zusammenzubringen, zu vereinen – nicht zu missionieren – mag auf Außenstehende befremdlich wirken, und doch scheint es einer der wenigen Wege zu sein, fortschreitender Säkularisierung, Kirchenflucht und Überalterung entgegenzuwirken. Kirchtürme prägen unsere Dörfer, werden als selbstverständlich gesehen – doch immer weniger Menschen bekennen sich zum Glauben. Aber wenn diese Kirchen restaurierungsbedürftig oder gar wegen fehlender Gemeinde entwidmet werden müssen, weil sie nicht mehr unterhalten werden können, wenn die Kirchenglocken schweigen, den Feierabend, die Feste, die Verstorbenen nicht mehr laut hörbar für das ganze Dorf anzeigen, dann erst wird die Leerstelle sichtbar, dann erst wird der Verlust greifbar. Bernd Kramer möchte dieser Entwicklung entgegenwirken und folgt dabei zuweilen recht unkonventionellen Wegen.
Die Berufung zum Pfarrer ist Bernd Kramer nicht an der Wiege gesungen worden. 1960 in Erfurt geboren, aufgewachsen in Großmölsen, verlor er früh seinen Vater. Noch während der Abiturzeit reift in ihm der Entschluss, den Dienst an der Waffe bei den Streitkräften der NVA der DDR zu verweigern. Das hat ernste Konsequenzen. Welche Wege blieben Männern im Osten Deutschlands, die diese konsequente Entscheidung fällten, die zu ihren Idealen standen, aber das Land nicht verlassen, nicht »rübermachen« wollten? Die Kirchen, sowohl die evangelische als auch die katholische, boten einen Schutzraum vor der Willkür des Staates. Freilich wissen wir, dass auch dieser vermeintlich staatsferne Raum vom langen Arm der Staatssicherheit unterlaufen war. Dennoch: Kramer findet hier die Gelegenheit, sein Wissen zu erweitern, seinen Glauben zu leben, gleich ihm gesinnte Menschen kennenzulernen. Nach seinem Dienst als Jugenddiakon in Neudietendorf schließt er sein Theologiestudium ab, wird Pfarrer, 1993 zunächst in Apfelstädt und Kornhochheim, wenig später dann in Wandersleben. Das Kirchspiel wird in den nachfolgenden Jahren um noch einmal drei Gemeinden erweitert.
Er knüpft Netzwerke, will Wissen präsent machen, zeigen, was Menschen unserer Region zu erzählen, zu sagen haben. Und aus diesem Gedanken entsteht Ende der 90er Jahre eine Vortragsreihe im Wanderslebener Pfarrhaus. Sie existiert bis heute. Unter dem Titel »Kultur im Pfarrhaus« findet einmal monatlich ein Vortrag oder eine Lesung – gerne auch mit musikalischer Begleitung – statt, gestaltet von einem Experten, der zumeist ohne Gage sein Wissen vermittelt. Eine kleine Fangemeinde hat sich so über die Jahre etabliert, die nahezu jeden Vortrag annimmt, seien die Gegenstände nun Kräuterkunde, Barockmusik, Steinkreuze, Feldhamster, Epitaphe, Dampfloks oder Tischsitten – einerlei, das Motto ist, dass man ja nicht dümmer wird. Im Rahmen dieser Vortragsreihe wurde auch über den Wanderslebener Barockdichter Menantes referiert – mit Folgen, wie zu lesen sein wird.
In jenen Jahren recherchiert Kramer sehr viel in Archiven und Bibliotheken: zur Geschichte »seiner« Kirchen, zu ihren Orgeln, ihren Traditionen, zur Zeitgeschichte, in die die Kirchengeschichte eingebunden ist. Auch zur Literatur. Es wächst der Wunsch, die gewonnenen Erkenntnisse zu publizieren. Nun ist ein Pfarrer immer auch ein Mensch, der von Berufes wegen schreibt: die Predigttexte, den Gemeindebrief, geistliche Worte in Zeitungen, Nachrufe, Gesuche. Kramer aber möchte mehr. Er studiert nicht nur die Quellen, sucht, findet und sichert Kulturschätze – er möchte über den kirchlichen Raum hinaus wirksam werden und die Kenntnisse teilen. Die broschierte Festschrift zur Wiedereinweihung der restaurierten Wanderslebener Schröter-Orgel[2] und das Apfelstädt-Buch bilden den Anfang. Zudem treiben Kramer immer auch denkmalpflegerische Aspekte um. Bevor es an die Restaurierungsarbeiten der zumeist denkmalgeschützten Objekte – seien es Kirchtürme und ‑gebäude, Orgeln, Friedhofsmauern, Grabsteine, fledermausfreundliche Pfarrgärten oder Pfarrhauskomplexe – in seinem Kirchspiel geht, wird recherchiert, werden Gutachten erstellt, wird ein historischer Kontext sichtbar gemacht. Kramer gelingt es, Menschen in seine Pläne einzubinden und sie mit seiner eigenen Begeisterung anzustecken. Natürlich müssen all diese Maßnahmen finanziert werden und es zeigt sich, dass er auch für Antragstellungsprosa einiges Talent entwickelt hat.
Im Jahr 2001 rückt die Literaturgeschichte in das Interesse Bernd Kramers. Er und viele Wanderslebener wissen, was bisher nur für Germanisten und Musikwissenschaftler von Bedeutung war: Aus dem beschaulichen Dorf am Südrand des Thüringer Beckens, unweit der Burg Gleichen gelegen, stammt einer der erfolgreichsten und zu seinen Lebzeiten umstrittensten Autoren des Spätbarock, der Galanten. Es ist Christian Friedrich Hunold, der sich selbst als Autor Menantes nannte (1680–1721) und in seiner Zeit, nur wenig darüber hinaus, wirksam wurde. Er geriet in Vergessenheit, berechtigterweise oder nicht, soll an dieser Stelle nicht Gegenstand sein. Der Denkansatz besteht vielmehr darin zu überlegen, ob dieses Dorf ein literarischer Ort werden kann, einer von vielen in der dichten literarischen Landschaft Thüringens. Und wenn er das ist – wie kann er bekannt gemacht und entwickelt werden? Und vor allem: Wie hole ich einen Autor, der vor rund 300 Jahren starb, in die Gegenwart? Seine Werke in verstaubende Vitrinen stellen? Einmal in einem Vortrag an ihn zu erinnern, um ihn dann wieder zu vergessen? Das ist Kramers Sache nicht. Überzeugend ist aber auch sein Argument, Menantes nicht ausschließlich der Wissenschaft zu überlassen, jedoch sollen die Literatur- und die Musikwissenschaft immer mit einbezogen sein.
2003 wird ein Denkmal aus Seeberger Sandstein in barockisierender obelisker Form auf einem Platz zwischen Kirche, Pfarrhaus, ehemaliger Haushaltungsschule und Kindergarten eingeweiht. Ein Freundeskreis, bestehend aus Wanderslebenern mit und ohne Glaubensbekenntnis, der sich um Kramer bereits seit Jahren geschart und die Restaurierungsarbeiten an Kirche, Orgel und Pfarrhaus aktiv unterstützt hat, forciert die Bemühungen. Der Obelisk trägt den Auszug eines Kantatenlibrettos und wurde von keinem geringeren als Johann Sebastian Bach vertont: »Dieses Weltmeer zu ergründen / ist Gefahr und Eitelkeit, / in sich selber muss man finden / Perlen der Zufriedenheit« (BWZ 204; » Von der Vergnügsamkeit). Die Jagd nach Ruhm und Reichtum hält Menantes zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes für Eitelkeiten, die nicht anzustreben sind. Die Perle der Zufriedenheit muss jeder in seinem Inneren finden – und im Glauben. Symbolisch thront diese Perle aus poliertem Kalkstein auf der Spitze des Obelisken. Doch auch in der Ehrung des Barockdichters möchte Bernd Kramer Langfristiges erreichen.
Die Literarhistorische Gesellschaft Thüringens mit Detlef Ignasiak an ihrer Spitze wird in die Überlegungen einbezogen, Architekten, Handwerker aus der Region, ehrenamtliche Helfer – und der Jenaer Jens-Fietje Dwars. Letzterer konzipiert eine zeitgemäße Ausstellung zum Leben und Wirken des Dichters in zwei Räumen eines bis dahin verfallenden Nebengebäudes des Pfarrhofes in Wandersleben. Sie wird 2005 eingeweiht und vom Freundeskreis (später Menantes-Verein) im Ehrenamt betrieben. Im Durchschnitt besuchen rund 855 Besucher jährlich diese Stätte. Drei wissenschaftliche Tagungen haben bereits hier stattgefunden, hochkarätige Barockmusik – teils mit Libretti von Menantes – wurde aufgeführt, umliegende Schulen mit Projekten einbezogen. Der Gedenkort wird lebendig. Kramer liegt viel daran, Interesse zu wecken und zu vernetzen. Und somit entwickelt sich dieses Projekt um Menantes immer weiter. Im Jahr 2012 entsteht ein »Dichterweg« ins Freudenthal unterhalb der Burg Gleichen. Tafeln am Radweg weisen auf Menantes hin und zitieren seine Werke, 2013 schenkt die Münchener Bildhauerin Helga Viebig-Kruck der Kirchgemeinde vier Bronzebüsten. Sie porträtieren die Thüringer Barockdichter Georg Neumark, Kaspar Stieler, Johann Matthäus Meyfart und Menantes. Errichtet werden sie auf dem Gelände des Pfarrhofes und komplettieren fortan die Ausstellung. Ein Pavillon, der interaktiv die Geschichte des Buchdrucks verfolgt, ist ebenso entstanden. Wandersleben rückt tatsächlich in den Fokus literatur- und kulturgeschichtlich interessierter Menschen.
Besondere mediale Aufmerksamkeit erfährt der literarische Wettbewerb für erotische Dichtung, 2006 erstmalig ausgetragen. 2022 erlebte dieser seine achte Auflage und zählt mittlerweile zu einem der größeren Schreibwettbewerbe im mitteldeutschen Raum. Die Idee mutet ungewöhnlich an und liegt doch so nahe: Der junge Menantes schrieb in seiner wilden Hamburger Zeit Romane und Gedichte, die deutlichen erotischen, bisweilen auch frivolen Bezug hatten. Nun ist gerade Erotik in der Literatur eine Komponente, die sehr schwer umzusetzen ist, denn der Text sollte eben nicht pornografisch sein, aber auch kein Liebesgedicht. Träger des Wettbewerbs ist anfänglich die evangelische Kirchgemeinde. Nicht alle Vorgesetzten Pfarrer Kramers finden das gut, überzeugen sich jedoch als geladene Gäste der jeweiligen Finallesungen auf dem Pfarrhof unter den großen, alten Kirschbäumen, dass hier nichts Ungebührliches geschieht, dass hier kein Sakrileg verübt wird, sondern hohe literarische Kunst zum Vortrag kommt. Letztlich, so zitiert Kramer verschmitzt, steht einer der schönsten erotischen Texte im Alten Testament. Jenes »Hohelied Salomo« wurde von den Besuchern des Literaturfestes einmal handschriftlich abgeschrieben und liegt in der Gedenkstätte aus.
Noch andere wundersame Dinge mehr, um die sich Bernd Kramer während seiner langen Dienstzeit im Drei-Gleichen-Gebiet gekümmert hat, gäbe es zu erzählen: von den Recherchen zum Orgelbauer Schmalz etwa, oder zur Gräfin von Ysenburg-Ronneburg, einer geborenen Gräfin von Gleichen-Tonna[3] – oder über seine jüngste kulturhistorische Rettungstat nach dem Fund wertvoller Notenpapiere aus dem 17. Jahrhundert in Neudietendorf. Dieser arg zerstörte Notenschatz wurde restauriert und Stücke daraus wurden erst kürzlich durch das ‚Ensemble 1684‘ im Rahmen der Thüringer Adjuvantentage zum Erklingen gebracht.
Der Pfarrer Bernd Kramer weckt Begeisterung für Kultur und Geschichte, recherchiert selbst akribisch, führt Menschen für seine Projekte zusammen, ist bodenständig und gelegentlich sehr unruhig, manch einer sagt zappelig. Und genau mit dieser Unruhe bewirkt er im ländlichen Raum manchmal kleine Wunder.
[1] Kramer, B., Hähnlein, B., Kirsten, A.: Die Apfelstädt. Ein Fluß im Wandel der Zeiten. Hrsg. von der Evangelisch-Lutherischen Kirchgemeinde Apfelstädt, 2000.
[2] Kramer, B.: Die Schröter-Orgel in der St. Petrikirche zu Wandersleben. Mit Beiträgen zur Wanderslebener Musikgeschichte. Wandersleben, 1999.
[3] Kramer, B.: Johann Stephan Schmalz (1715–1784). Orgelmacher in Wandersleben und Fürstlich Schwarzburgischer privilegierter Orgelmacher in Arnstadt. Wandersleben, 2015.
Kramer, B.: Elisabeth Gräfin von Ysenburg-Ronneburg, geborene Gräfin von Gleichen-Tonna. Ein Beitrag zum Leben einer Vertreterin des Hochadels im Übergang vom 16. Zum 17. Jahrhundert. Wandersleben, 2013.
Foto privat.
›Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio
Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2025 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]
URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/20749-2/]