Mauersegler im Bücherkubus – In der Weimarer Herzogin Anna Amalia Bibliothek ehren Freunde und Weggefährten den verstorbenen Lyriker Wulf Kirsten

Personen

Anke Engelmann

Wulf Kirsten

Jens-Fietje Dwars

Jan Volker Röhnert

Christoph Schmitz-Scholemann

Orte

Weimar

Herzogin Anna Amalia Bibliothek

Thema

Veranstaltungsrückblicke

Autor

Anke Engelmann

Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Von Anke Engelmann

 

Ob es ihm an die­sem Abend zu laut gewe­sen wäre? In einer Biblio­thek hat schließ­lich Stille zu herr­schen. Bestimmt hätte der Dich­ter Wulf Kirs­ten dies­mal eine Aus­nahme gemacht. Denn seine Gedichte lernte er nach eige­nem Bekun­den erst beim lau­ten Lesen rich­tig ken­nen. Und maß sie an der Reak­tion des Publi­kums, dem Bei­fall und der Qua­li­tät der Stille.

Publi­kum ist reich­lich anwe­send, jeder Platz im Bücher­ku­bus der Her­zo­gin Anna Ama­lia Biblio­thek (HAAB) ist besetzt. Ein­ge­la­den haben die Stadt Wei­mar, die HAAB und die Gesell­schaft Anna Ama­lia Biblio­thek, die Lite­ra­ri­sche Gesell­schaft Thü­rin­gen sowie der Thü­rin­ger Lite­ra­tur­rat. Fami­lie, Freunde, Weg­ge­fähr­ten und Dich­ter­kol­le­gen begrü­ßen ein­an­der. Man nickt sich zu, schüt­telt Hände an die­sem war­men Som­mer­abend kurz nach der Som­mer­son­nen­wende, dem Geburts­tag des 2022 ver­stor­be­nen Lyrikers.

Das Podium spricht über Kirs­ten, vor allem aber spricht es mit ihm, indem es ihn zitiert. Jeder trägt sein oder ihr Lieb­lings­ge­dicht vor. Begeis­tert und aus­wen­dig Pia-Eli­sa­beth Leu­sch­ner vom Lyrik­ka­bi­nett Mün­chen, vor­sich­tig tas­tend der Roma­nist Edo­ardo Cos­ta­dura, die Worte aus­kos­tend der Lyri­ker Jan Vol­ker Röh­nert, mit ver­schmitz­ter Ent­de­cker­freude der Her­aus­ge­ber Jens-Fietje Dwars – alles klug mode­riert von Chris­toph Schmitz-Schole­mann. Die kräf­tige Spra­che lässt keine Weh­mut auf­kom­men, es pras­selt, rollt, es zwit­schert, und die Gedichte ver­strö­men ihr Bukett, deutsch, ita­lie­nisch bei Edo­ardo Cos­ta­dura, fran­zö­sisch bei Kirs­ten-Über­set­zer Sté­phane Mich­aud, der extra aus Paris ange­reist ist.

Kein Gour­met-Schnick­schnack, nein, ein hand­fes­ter Land­wein wuchs aus der Erde bei Mei­ßen. Von Mau­er­seg­lern ist die Rede und vom Obst­pflü­cker Oswin aus dem Armen­haus. Von der Wirts­toch­ter Mar­ga­rete, der Franz Kafka in Wei­mar nach­stieg. Von Land­schaf­ten und Land­wirt­schaft. Von Sachen und Satz­an­fän­gen, von Erdung, von Sinn­lich­keit. Poe­sie als Welt­spra­che, ver­sun­kene Wör­ter, »gedie­gene Fran­ko­pho­nie« und ober­säch­si­sche Mund­art, und man schmeckt die Worte im Gau­men und sinnt den erd­far­be­nen Bil­dern nach, die sie erzeu­gen. Die lite­ra­risch Gebil­de­ten im Podium stel­len Bezüge her zu Höl­der­lin, Rilke oder Goe­the. Inter­es­sant, denkt man, ein dop­pel­ter Boden. Es braucht ihn nicht, damit diese Lyrik einen ergreift, doch ihr wächst damit eine wei­tere Dimen­sion zu.

Wie­viel bleibt heute von die­ser Tiefe, wenn Ger­ma­nis­tik-Stu­den­ten Goe­the nicht rezi­pie­ren und Schü­ler Gedichte nicht ler­nen müs­sen? Wenn jeder vierte Viert­kläss­ler nicht gut lesen und schrei­ben kann, Biblio­the­ken ver­wai­sen und Lite­ra­tur als Digi­ta­li­sat­brei im smar­ten Ein­heits­look daher­kommt? Wulf Kirs­tens enzy­klo­pä­di­sches lite­ra­ri­sches Wis­sen, sein akri­bi­sches Sprach­ge­fühl schei­nen aus die­ser Zeit gefal­len. Und doch, mit sei­nen genauen Beob­ach­tun­gen und sei­ner Ver­bun­den­heit zur Natur, sei­nem beharr­li­chen Ein­satz gegen ihre Zer­stö­rung und die Hybris der Men­schen kann er gerade für die Genera­tion Kli­ma­ka­ta­stro­phe eine große Ent­de­ckung sein.

Viel­leicht hilft dabei ein letz­tes Buch: »Nacht­fahrt« heißt der Band mit Tex­ten aus dem Nach­lass, den Jens-Fietje Dwars im quar­tus Ver­lag her­aus­ge­ge­ben und den Susanne Theu­mer mit Gra­fi­ken illus­triert hat. Und in der HAAB kann man künf­tig Wulf Kirs­tens poe­ti­schen Kos­mos erkun­den. Wie Biblio­theks­di­rek­tor Rein­hard Laube ankün­digt, fin­det Kirs­tens Lyrik­samm­lung hier ein neues Zuhause. 65 Regal­me­ter Poe­sie, in einem lan­gen Leben gesam­melt, ver­daut und ver­dau­ert. In einer Lese­lounge, die im nörd­li­chen Teil der Biblio­thek ent­steht, kann man auf lyri­sche Ent­de­ckungs­reise gehen. Und hört dabei viel­leicht die Mau­er­seg­ler im Kubus kreisen.

  • Wulf Kirs­ten: »Nacht­fahrt. Auto­bio­gra­fi­sche Prosa aus dem Nach­laß« Her­aus­ge­ge­ben von Jens-Fietje Dwars. Reihe Orna­ment-Essay, Bd. 2, quar­tus Ver­lag, Wei­mar, 2023, ISBN 978–3‑947646–52‑4, 22 Euro.

Die Ver­an­stal­tung wurde mit­ge­schnit­ten und ist am 1. August auf Radio Lotte und ab 2. August als Pod­cast unter www.literaturland-thueringen.de nachzuhören.

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