Landolf Scherzer – »Stürzt die Götter vom Olymp. Das andere Griechenland«

Personen

Landolf Scherzer

Dietmar Jacobsen

Ort

Dietzhausen

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Dietmar Jacobsen

Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Gele­sen von Diet­mar Jacobsen

Zwei­mal Grie­chen­land in einem Vierteljahr

 

Lan­dolf Scher­zer scheint es immer an Orte zu zie­hen, wo er nicht nur etwas erfah­ren kann über die jewei­lige Fremde, son­dern auch über sich selbst und das Land, aus dem er kommt. Nach China – »Madame Zhou und der Fahr­rad­fri­seur« (2012) – nun also Grie­chen­land. Und das gleich zwei­mal inner­halb kür­zes­ter Zeit. Zunächst als Pau­schal­tou­rist im All-inclu­sive-Modus – ein paar Wochen spä­ter dann noch ein­mal pri­vat im »schlechteste[n] Hotel von Thessaloniki«.

Eigent­lich hätte man ihm Ers­te­res gar nicht zuge­traut. Scher­zer und der Luxus einer Bet­ten­burg, in der so viel Was­ser ver­braucht wird, dass bei den in der Nähe Woh­nen­den im Som­mer die Hähne nur noch trop­fen? Ein »rasen­der Repor­ter« unse­rer Tage, der sich rund um die Uhr voll­stopft mit Köst­lich­kei­ten, von denen die Leute jen­seits des sorg­sam ein­ge­heg­ten Hotel­are­als nicht ein­mal träu­men? Doch in dem Moment, wo man sei­nen ers­ten Bericht aus dem 5‑S­terne-Palast »Ocea­nia Club« in Nea Mou­da­nia zu lesen beginnt, weiß man auch schon: Die Ent­schei­dung, sich das heu­tige Grie­chen­land zunächst ein­mal aus der Per­spek­tive anzu­schauen, aus der die meis­ten Deut­schen es aus­schließ­lich zu sehen bekom­men, war genau die richtige.

Und auch die Pro­por­tio­nen stim­men. Denn nicht mehr als ein Fünf­tel sei­nes Buches wid­met Scher­zer dem Erle­ben der maze­do­ni­schen Wirk­lich­keit aus einem Ghetto für Pau­schal­tou­ris­ten her­aus, das auch über­all sonst auf der Welt sei­nen Platz haben könnte. Und doch: Wie auf­schluss­reich ist das, was der Repor­ter uns aus dem Her­zen des eng umgrenz­ten Wohl­stands mit­zu­tei­len hat. Da wird seine Bitte um ein Gespräch mit einem Mana­ger des Hotels von Tag zu Tag auf­ge­scho­ben, bis es dann zu spät ist. Dabei wollte Scher­zer doch nur wis­sen, wie es um die Gehäl­ter all jener dienst­ba­ren Geis­ter bestellt ist, die mor­gens, mit­tags und abends die Spei­sen auf­tra­gen, unsicht­bar für die Sau­ber­keit in den Zim­mern sor­gen und die Lie­gen am Pool täg­lich mil­li­me­ter­ge­nau aus­rich­ten. Und Knob­lauch im Tsa­tsiki, wie der Rei­sende das von den Pro­duk­ten des im hei­mat­li­chen Suhl grie­chi­sche Spe­zia­li­tä­ten pro­du­zie­ren­den Evan­ge­los Pan­ter­man­lis gewöhnt ist? Fehl­an­zeige – man ist zwar in Grie­chen­land, lebt aber nicht unter Griechen.

Da ist es fast gebo­ten, einen Monat spä­ter noch ein­mal wie­der­zu­kom­men und Grie­chen­land aus einer ande­ren Per­spek­tive ken­nen­zu­ler­nen oder, wie Lan­dolf Scherzers Bekannte, die Ger­ma­nis­tik­pro­fes­so­rin Anthi Wie­den­mayer, es aus­drückt: »Nur durch per­sön­li­che Geschich­ten wirst du begrei­fen, was die Krise für uns bedeutet.«

Also zurück auf Los und zuerst ein­mal an den Döner­stand von Scherzers Wohn­ort Dietz­hau­sen, um sich anzu­hö­ren, was der eher schlicht den­kende Deut­sche aus der Ferne über die grie­chi­sche Krise denkt, damit man es spä­ter mit der Rea­li­tät ver­glei­chen kann. »Die brau­chen keine Würste, son­dern Geld, um ihre Schul­den zu bezah­len. Nimm ihnen lie­ber den Bibel­spruch mit: Du sollst dein Brot im Schweiße dei­nes Ange­sichts ver­die­nen,« hört er da, als es um Rei­se­mit­bring­sel für die Freunde in Thes­sa­lo­niki geht. Und ein ande­rer ergänzt, was er in der BILD-Zei­tung gele­sen hat: » … diese Grie­chen arbei­ten weni­ger als wir, ver­die­nen aber mehr und bekom­men mehr Urlaub als unser­ei­ner. Sie zah­len keine Steu­ern, gehen jedoch frü­her als wir in Rente.« Punktum!

Was aber hat es tat­säch­lich auf sich mit »den Grie­chen«, die so undank­bar gegen­über der deut­schen Hilfe sind, dass sie auf ihren Demons­tra­tio­nen schwarz-rot-gol­dene Fah­nen ver­bren­nen und nach wie vor die Euro­päi­sche Union mit gefälsch­ten Bilan­zen an der Nase her­um­füh­ren? Aus­ge­rech­net »Europa« heißt das marode Hotel, in dem Scherzers Bekannte von der Uni­ver­si­tät ihm ein Zim­mer für sei­nen zwei­ten Auf­ent­halt gemie­tet haben. Aber so sehr sie selbst erschre­cken, als sie ihn dort zum ers­ten­mal besu­chen: End­lich ist der Repor­ter da, wohin es ihn am meis­ten zieht, an der Basis, bei den klei­nen Leu­ten, bei den von der Krise unmit­tel­bar Betrof­fe­nen, die tag­täg­lich aus­zu­hal­ten haben, was eine ver­fehlte Poli­tik dem Land ein­ge­brockt hat.

»Stürzt die Göt­ter vom Olymp« ist ein Buch, das jen­seits aller offi­zi­el­len Ver­laut­ba­run­gen zur Grie­chen­land­krise einer­seits und ande­rer­seits nicht her­ein­fal­lend auf popu­lis­ti­sches Geschwätz jeg­li­cher Art allein dar­auf ver­traut, was sein Ver­fas­ser sieht, hört und ver­steht. Es rückt der Krise auf den Leib, indem es Scher­zer gelingt, den am unmit­tel­bars­ten von ihr Betrof­fe­nen nahe­zu­kom­men. Jenen, die nach einem Jahr Arbeits­lo­sig­keit kei­nen Anspruch mehr auf eine Kran­ken­ver­si­che­rung haben. Jenen, denen Gehäl­ter und Ren­ten auf ein Mini­mum gekürzt wur­den. Und schließ­lich auch jenen, die die Krise radi­ka­li­siert und in die Arme ultra­rech­ter Par­teien getrie­ben hat.

Das Erfreu­lichste frei­lich, das der um Veständ­nis bemühte Rei­sende zu ver­mel­den hat, ist, dass die meis­ten Grie­chen ein­an­der nicht im Stich las­sen in der zuneh­men­den Not, son­dern sich soli­da­risch zei­gen, Hilfe in allen Lebens­la­gen anbie­ten, auch wenn die nicht bezahlt wird, und sich auf die Unter­stüt­zung inner­halb der tra­di­tio­nell zusam­men­ste­hen­den Groß­fa­mi­lien ver­las­sen kön­nen. Auch suchen viele die Schuld an den momen­tan herr­schen­den Zustän­den kei­nes­wegs allein bei jenen, die vom euro­päi­schen Aus­land her dar­auf drän­gen, dass Grie­chen­land sei­nen Ver­bind­lich­kei­ten mit allen Mit­teln nach­kommt. Statt­des­sen weiß man sehr gut, dass Büro­kra­tie, Kor­rup­tion und eine sich hem­mungs­los berei­chernde poli­ti­sche Klasse über Jahr­zehnte hin­weg einen Groß­teil zur gegen­wär­ti­gen miss­li­chen Situa­tion des Lan­des bei­getra­gen haben.

 

  • Lan­dolf Scher­zer: Stürzt die Göt­ter vom Olymp. Das andere Grie­chen­land. Ber­lin: Auf­bau Ver­lag 2014, 320 Sei­ten, 19,99 Euro, ISBN 978–3‑351–03580‑8
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