Der Biblorhapte ist vollständig ausgestorben. Sollte man auf irgendeinem Dachboden, in einer vergessenen Sammlung oder dem allerletzten Archivwinkel doch einmal vor einer seiner Hüllen stehen, dann ist sehr wahrscheinlich der sperrige Begriff nicht mehr zur Hand und das Ding bleibt unbenannt und unbekannt. Der Biblorhapte ist dermaßen von der Bildfläche verschwunden, dass Abbildungen nur im Stil und nach der technischen Möglichkeit seiner Zeit existieren: im Holzstich von vor 150 Jahren.
Warum soll der denn jetzt ans Licht gezerrt werden? Weil er das Buch im Namen trägt.
Der Biblorhapte wurde den Zeitgenossen als »selbstheftendes Buch« verdeutscht. Er war aber beileibe kein Automat, und die Bezeichnung »Spießordner« trifft seine Funktion viel besser. Sein Erfinder ist anonym geblieben. Der Biblorhapte kam nach dem Deutsch-Französischen Krieg aus Belgien oder Frankreich als Novität in die deutschen Registraturen und Kontore. Kein Buchbinder hatte dabei mehr Lagen oder Einzelblätter zu heften — die wurden nun von einer durch Federmechanik betriebenen Spießleiste zusammengehalten. Mit der Erfindung des »Aushebeordners«, dessen Bügel in der Form zweier umgedrehter Us durch eine Hebelmechanik geöffnet und geschlossen werden konnten, war der Biblorhapte überlebt. Der Leitz-Ordner trat ab 1893 als sein Nachfolger im Reich der Büromittel den »Siegeszug um den Globus« an, wie es gerne heißt.
Der Biblorhapte hatte das Buch nicht nur im Namen geführt, sondern er sah auch von außen noch ein wenig so aus. Das kennt man aus der jüngeren Vergangenheit beispielsweise von den »sprechenden Büchern«, Literatur auf Magnetbändern, oder von den VHS-Kassettenhüllen, die bis zu ihrer Ablösung durch die CD-ROMs gerne mit gewölbten »Buchrücken« hergestellt wurden.
Niemand käme auf die Idee, den Aktenordner als Buch zu bezeichnen. Wahrscheinlich sind deswegen auch seine Vorläufer in der Buch- und Einbandkunde bis heute nicht erfasst. Wenn ich aber einen längeren, gerne auch belletristischen Text aus dem Internet ausdrucke und die Blätter durch einen Schnellhefter, Klemmbinder oder Aktenordner bündele und schütze, wie heißt denn das, worin ich dann anschließend lese? Das Buch wird ja nicht durch den festen Einband zum Buch; Paperbacks gibt es schließlich seit den 1930er Jahren — zählt man die bis zu 90 Jahre früheren Bände der Tauchnitz Editions oder die Hefte von Reclams Universal-Bibliothek nicht mit.
Vielleicht definiert sich das Buch mittlerweile besser dadurch, dass es sehr zurückhaltend eine Möglichkeit anbietet? Dieses Angebot besteht in der stillen Auseinandersetzung mit dem Text. Das hatte mal ganz anders angefangen: Einer der wichtigsten Sprünge in der Kulturtechnik des Schreibens war die Einführung von Wortabständen und Satzzeichen. Vorher waren alle Schriftzeichen auf einem Blatt lückenlos und gleichmäßig an- und untereinander gereiht. Das Auge blickte auf den Text wie auf ein gewebeähnliches Bild — daher der Name (lat. texere = weben) —, in dessen Verwoben-Sein das Verstehen nur mit Hilfe des Hörens Einlass fand (so ähnlich, wie man heute Briefe von Schreibanfängern laut lesen muss, weil das Verstehen sonst zu stark von der Verletzung orthographischer Regeln behindert wird: Die Wörter werden nicht erkannt). In den Refektorien der Klöster hat sich das Laut-Lesen als Vorlesen während der Mahlzeiten bis heute erhalten. Gerade in den Klöstern müssen die ersten Für-sich-Lesenden sehr misstrauisch beäugt worden sein: »Still lesen? In Vereinzelung versunken? Das war aber bisher dem Gebet vorbehalten, dem Gespräch mit Gott!«
Jahrhunderte später verbrennt eine perverse Feuerwehr in Ray Bradburys Roman »Fahrenheit 451« (bei dieser Temperatur entzündet sich Papier) Bücher, wo immer sie aufgestöbert werden können, mit Flammenwerfern. In dem Zukunftsroman aus dem Jahr 1953 sollen Menschen in Gruppen vor großen Bildschirmen genießen, bzw. indoktriniert werden, statt wie in Eigensinn und unsozial für sich allein zu lesen.
Wer heute lieber elektronisch liest, liest zwar still (und auf kleinen Bildschirmen), aber nicht unbedingt allein. Neben der Möglichkeit, als Lektüre-Konsument so differenziert ausgewertet zu werden, wie es bislang kein beratender Buchhändler hätte tun können, muss ich als Leser mehr Konzentration für das Gespräch mit dem Autor aufbringen. Es gibt so viele weitere Stimmen, so viele Möglichkeiten, mich weiter zu klicken. Text auf Papier kommt mir im Vergleich wie uneigennützig vor und lässt mich damit stärker frei.
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