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Jochen Golz
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Wiedergelesen von Jochen Golz
Im niederschlesischen Schweidnitz kam der Schriftsteller Armin Müller 1928 zur Welt, wurde gegen Ende des Zweiten Weltkriegs noch zum Volkssturm eingezogen, entzog sich durch Flucht sowjetischer Kriegsgefangenschaft und lebte seit 1945 in Weimar. In mehrfacher Hinsicht blieb die Beziehung zur Landschaft seiner Geburt für ihn literarisches Thema. 1953 veröffentlichte er im Thüringer Volksverlag einen Reportageband mit dem Titel „Sommerliche Reise ins Nachbarland. Ein junger Schriftsteller erlebt das neue Polen“, ihm folgte aus dem Abstand von Jahrzehnten 1986 der Roman „Der Puppenkönig und ich“, den Müller selbst als sein wichtigstes Werk ansah.
Es wäre gewiss aufschlussreich, einen Blick in die Gutachten zu werfen, die in der DDR jedes bei einem Verlag eingereichte Manuskript begleiteten und dessen Druck erst möglich machten. Müller benennt historische Fakten, über die in der DDR mehr oder weniger Stillschweigen bewahrt wurde. Ohnehin war Polen seit 1980 in den Augen der Offiziellen ein Land, zu dem Abstand gehalten werden musste und das nur noch Wenigen zugänglich war. Dass es im Zweiten Weltkrieg in Polen eine Landesarmee gegeben hatte, die auch nach Kriegsende weiter kämpfte und die Rote Armee herausforderte, erfuhr der Leser aus Müllers Roman. Auch vom Schicksal der vertriebenen Deutschen war vordem in der Literatur der DDR kaum die Rede, ebenso wenig von deren Bindung an ihre frühere Heimat. Überdies war es ein Wagnis, im Roman den schlesischen Dialekt zur Literatursprache zu erheben. Literaturfähig war dieser Dialekt durch Gerhart Hauptmann geworden. Es war die Stimme der Armen und sozial Entrechteten, die durch ihn Sprache gewann. Ähnliches war später in den Romanen und Erzählungen Johannes Bobrowskis für den ostpreußischen Raum geschehen. Doch waren dies alles Bekundungen aus einer weiter zurückliegenden Vergangenheit. Bei Müller aber wird der schlesische Dialekt einem sehr gegenwärtigen Erzählen dienstbar gemacht. Leicht hätte sich Müller dem Verdacht ausgesetzt sehen können, den Landsmannschaften in der Bundesrepublik das Wort zu reden.
Dem hätte Müller – kritischer Parteigänger des sogenannten real existierenden Sozialismus – energisch widersprochen. Bereits die beiden Motti, die dem Roman vorangestellt sind, verweisen auf seine Intention. Geben sich in dem Satz „Bin ich noch in meinem Haus?“ von Gerhart Hauptmann, der selbst einen prächtigen Landsitz in Agnetendorf im Riesengebirge besaß, das eigene Unbehaustsein, die Klage um den Verlust zu erkennen, so eignet den Zeilen von Rajzel Zychlinski, zeitlich annähernd parallel zu Hauptmanns Klage, ein gelassener Blick auf Stadt und Landschaft. Es zeichnet Müllers Roman aus, dass Brüche nicht zugedeckt werden. „Der Krieg macht uns alle zu Tieren“, heißt es mehrfach im Roman. Das Zusammenleben von Deutschen und Polen damals und heute, so wäre das übergreifende Thema von Müllers Roman zu bezeichnen.
Sein Buch besitzt einen autobiographischen Kern. Wie Müller wächst der Ich-Erzähler des Romans in der Nähe des schlesischen Eulengebirges auf, wie der Autor flieht er aus einem Gefangenentransport. Weiter aber reichen die die autobiographischen Bezüge nicht, sind zumindest nicht eindeutiger zu bestimmen. In einer naturnahen, behüteten dörflichen Welt wächst der Erzähler in der Obhut seines Großvaters heran, der sich seinen Lebensunterhalt als Puppenspieler und mit dem Schnitzen von Pappmaché-Figuren, den „biemschen Manneln“, verdient. Der Vater des Erzählers setzt das Puppenspielergewerbe fort, hat aber kaum Kontakt zu seinem Sohn. Der Großvater, der Puppenkönig, ist im Gefüge des Romans die wichtigste Bezugsperson des Erzählers – in der Realität wie in seiner Phantasie; der arge Weg der Erkenntnis, den er durchmisst, hat die Abnabelung und kritische Distanzierung vom Großvater, den Abschied aus dem „Reich des Puppenkönigs“ zur Folge. Dessen Welt aber, lokalisiert mit der „Himmelsstiege“ und dem Schlitten des Dorfboten David Spindler, der dem Großvater an solidarischer Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft gleich ist, wird in den Tagträumen des Erzählers immer wieder aufgerufen; Realität und Traumbilder gehen häufig ineinander über, zuweilen geschieht auch der „Absturz aus Schindlers Schlitten“, treten Phantasie und Realität jäh auseinander. Für diese Übergangszustände wird eine sprachliche Kraft aufgeboten, die auch den Lyriker Müller in seinen besten Gedichten auszeichnet.
Nicht allzu lange kann der Ich-Erzähler in der dörflichen Idylle ausharren. Er gerät in sowjetische Kriegsgefangenschaft, muss um sein Leben fürchten, als Mitgefangene den Verdacht auf ihn lenken, am Lynchmord an einem deutschen Deserteur beteiligt gewesen zu sein; er kann die sowjetischen Offiziere im Verhör von seiner Unschuld überzeugen, was ihm aber das Kriegsgefangenenschicksal nicht erspart. Ihm gelingt die Flucht, in deren Verlauf er in einer verlassenen Siedlung auf einen verletzten polnischen Jungen trifft, der sich als Angehöriger der Landesarmee vor der Roten Armee verborgen hält.
Bis zu diesem Punkt ist das Buch konsequent aus der Ich-Perspektive erzählt. Wie Simplicius Simplicissimus, Grimmelshausens Held aus dem Dreißigjährigen Krieg, nimmt der Erzähler die Welt wahr. Man mag sich fragen, wie glaubwürdig und tragfähig eine so naive Haltung ist. Heute wissen wir, dass die Deutschen über die Gräueltaten in ihrem Lande viel mehr wussten, als sie noch lange zuzugeben bereit waren. Der Erzähler kann seinem Großvater den Vorwurf nicht ersparen, ihn von der Realität bewusst abgeschirmt zu haben, auch wenn er ihm selbst ein humanes Handeln vorlebte. Immerhin: vom Schicksal eines ehemaligen preußischen Landtagsabgeordneten aus Breslau, der im Heimatdorf oft mit seiner Familie zu Gast war und den die Nazis gehenkt haben, hatte er erfahren, dessen Tochter Gesine war eine Gefährtin seiner Kindheit. In eindrucksvollen Traumsequenzen schreibt er ihr im Laufe des Romans Briefe und empfängt welche von ihr; „Spindlers Schlitten“, Sinnbild heimatlicher Geborgenheit, verwandelt sich in seiner Phantasie in den Ort ihrer Liebesbegegnung. In der phantasmagorischen Beziehung zu Gesine verbirgt sich ein Element von Hoffnung.
Als der flüchtige Deutsche auf den jungen Polen Staschek trifft, wird das persönliche Erzählen aufgegeben. Was dem polnischen Jungen und seiner Familie widerfahren ist – Eltern und Geschwister waren aus Galizien von den Deutschen ins westpolnische Rawicz deportiert worden -, kann nur objektiv berichtet werden. Künstlerisch ist es nicht unproblematisch, die Kommunikation zwischen dem Polen und dem Deutschen in Gang zu bringen, denn keiner beherrscht die Sprache des anderen. So muss sich Müller teils mit einer Art polnisch-deutschen rudimentären Grundverständigung, teils mit genauerem Referieren historischer Fakten und einer objektivierenden Darstellung des Geschehens behelfen. Jetzt geht es nicht mehr nur um die Weltsicht und das Umdenken eines jungen Deutschen, sondern um das wechselseitige Verstehen und Anerkennen zwischen zwei jungen Menschen, die der Krieg zu Feinden, auch zu „Tieren“ gemacht hat. Zunächst schweißt sie die Not zusammen, abenteuerlich sind die Etappen ihrer gemeinsamen Flucht, auf der der Erzähler in die Rolle von Stascheks taubstummem Bruder schlüpft, um sich den Polen nicht verdächtig zu machen. Beide verbindet beinahe das gleiche Ziel. Staschek will zu seiner Familie in die Stadt Rawicz, nicht weit vom Eulengebirge gelegen, wohin der Deutsche gelangen will, um dort wieder sesshaft zu werden, wenngleich er längst weiß, das sein Heimatdorf polnisch geworden ist.
Am Ende des Romans gelangen beide in das Heimatdorf des Erzählers, werden Zeugen des Selbstmords des Puppenkönigs und sorgen für sein Begräbnis. Es ist ein Abschied von der deutschen Vergangenheit in Schlesien. Schmerzlich ist die Abnabelung des Erzählers von seiner Heimat, deren landschaftlicher Zauber, dessen Schatz an Märchen und Erzählungen im Laufe des Romans immer wieder aufgerufen wird. Zugleich verschließt Müller nicht den Blick vor dem Elend der deutschen Vertriebenen, die das alles hinter sich lassen müssen. Der Roman hat einen offenen Schluss. Staschek hat seine Familie nicht wiedergefunden, der Erzähler die seine verloren. Gleichwohl verbindet beide die Hoffnung auf einen „neuen Anfang“, dessen Konturen schemenhaft bleiben. Vielleicht kommt man der Intention des Buches am nächsten, wenn man das Eingangsmotto der polnischen Autorin beim Wort nimmt, in dem die historische Stabilität von Landschaften, Städten und Dörfern benannt wird, die im Lauf der Geschichte von Menschen unterschiedlicher sozialer Stellung und staatlicher Zugehörigkeit bewohnt worden sind, vor allem von „sulchen, wie mir se sein“, wie es im Roman auf gut Schlesisch heißt, von den einfachen Leuten also, die sich im Lauf der Geschichte zumeist gut und solidarisch zueinander verhalten haben.
Müller, so ist zu vermuten, war mit seinem Roman ein Risiko eingegangen. Über das Buch, im einstmals existierenden Greifenverlag in Rudolstadt erschienen, ist die Zeit hinweggegangen – zu Unrecht, wie ich meine. Für uns gibt es gute Gründe, angesichts der aktuellen Entwicklung in Polen die deutsch-polnische Vergangenheit aufs Neue in den Blick zu nehmen; denn alle Geschichte hat ihre Vorgeschichte. Für ein angemessenes historisches Verständnis des Vergangenen hat der Romancier Armin Müller den Weg bereitet.
Abb.: Buchcover, Greifenverlag Rudolstadt, 1986.
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