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Volker Hanisch
Thüringer Literaturrat e.V.
Meuselwitz war lange Zeit bedeutender Eisenbahnknotenpunkt einer aufstrebenden Braunkohlenabbau- und Industrieregion, die zudem über ein umfangreiches Grubenbahnennetz verfügte. Der Eröffnung der Strecke Altenburg–Zeitz im Jahr 1872 folgten Gleise Richtung Gaschwitz (1874) und Ronneburg (1887). Mit der Einstellung des Personenverkehrs nach Altenburg im Dezember 2002 schloss sich dieses Kapitel der Meuselwitzer Eisenbahngeschichte; lediglich eine »Kohlebahnlinie« Meuselwitz–Regis-Breitingen wird seit 1999 im Ausflugs- und Museumsbetrieb befahren, und im früheren Lokschuppen ist heute der »Kulturbahnhof Meuselwitz« untergebracht.
Als Reisender war Wolfgang Hilbig, der zeitlebens kein Auto besaß, auf den Zug- und Busverkehr angewiesen, wie hier, so im übrigen Land. Kaum verwunderlich, dass Bahnhöfe in seinem Werk ein wiederkehrender Schauplatz sind, man lese zum Beispiel die Erzählung »Fester Grund« (darin der Satz des Erzählers: »Irgendwann ist es soweit, und man merkt, daß Bahnhöfe ein Katastrophe sind.«), das letzte Kapitel seines Romans »Das Provisorium« oder das folgende, recht frühe Gedicht »bahnhof« von 1968:
Das einstige Empfangsgebäude des Meuselwitzer Bahnhofs – zuzeiten auch mit einer Mitropa-Gaststätte ausgestattet und, am straßenseitigen Giebel, mit einer großen Uhr, die wirklich langjährig stehen geblieben war, jetzt aber ganz fehlt – war über viele Jahre hinweg der (un)vertraute Ort der Abfahrten und Ankünfte Wolfgang Hilbigs. Der Anfang seiner Erzählung »Der Nachmittag« von 1995 gibt einen atmosphärischen Eindruck davon:
Nichts Neues in der Bahnhofstraße! – So lautet der erste Satz, der mir zur Ankunft einfällt. Mit dem Wort Ankunft habe ich allerdings schon zuviel gesagt: es ist etwas so Bekanntes in dem seifigen Geschmack der Luft, das mich gar nicht auf die Idee kommen läßt, meinen Weg in die Stadt hinein als eine Rückkehr zu bezeichnen: ich denke nicht an ein Wiederkommen, ich bin niemals fort gewesen. Nein, ich habe die Stadt nie wirklich verlassen, ich bin manchmal bloß aus ihr geflüchtet: in Wahrheit war es die Stadt, die mich nie wirklich verlassen hat. Die Stadt hat mich immer besetzt gehalten mit ihrer farblosen Verwüstung, in der ein andauernder steckengebliebener Umsturz stattzufinden schien, ein unerklärlicher Umsturz. Auch vor dem Umsturz des ganzen Landes hatte ich stets diesen Eindruck, und er blieb mir erhalten, nachdem die Staatsmacht des Landes aufgegeben und sich davongemacht hatte, nachdem die Regierung und ihre nächsten Vasallen ausgewechselt worden waren: in dieser Stadt schien sich die Ablösung des Systems durch nichts zu bestätigen. In einer Vergangenheit, die, wie es schien, nicht mehr auszuloten war, mußte die Stadt in eine Erstarrung gestürzt sein, und jener Zusammenbruch hatte auch nach dem Systemwandel standgehalten.
Abb. 1–2: Fotos: Volker Hanisch / Abb. 3: Foto: Dietrich Oltmanns.
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