Samuel Glesel – Von Gotha in die Welt
1 : Aus der Hitzelsgasse

Person

Samuel Glesel

Ort

Gotha

Themen

Von Goethes Tod bis zur Novemberrevolution

Weimarer Republik

Thüringen im Nationalsozialismus

Autor

Samuel Glesel

Deutschland gestern und heute, Staatsverlag der nationalen Minderheiten der USSR, Charkow 1935

Ich hatte wie­der die Schule geschwänzt. Sie hing mir samt mei­nem Leh­rer zum Halse her­aus. Seit fünf Tagen hatte ich kein war­mes Essen gehabt. Unsere dunkle Hof­wohnung hatte sich in eine hung­rige Höhle ver­wan­delt. Meine Eltern gin­gen ver­bis­sen herum und such­ten Gele­genheit, sich anzu­fah­ren und los­zu­brül­len. – Für den Nach­mit­tag hatte ich mich mit dem klei­nen Fritz aus der Gasse ver­ab­re­det, um wie­der auf den Markt „ein­kau­fen“ zu gehen. Wie es hieß, waren neue Händ­ler angekommen.
›Wenn er nicht bald kommt, muß ich mich ver­duf­ten. Die Jun­gens aus der Schule kom­men hier vorbei!‹
Fritze kam und kam nicht. – Die Bür­ger­aue lag um diese Zeit still und in fried­li­cher Fülle da. Zwei Rei­hen Kas­ta­ni­en­bäume mit sau­be­ren Häus­chen. Links stand das große Gym­na­sium. Nei­disch betrach­te­ten wir täg­lich die schö­nen sat­ten Gesich­ter, die sau­be­ren Anzüge und die in Per­ga­ment­pa­pier ein­ge­wi­ckel­ten, appe­tit­li­chen Stul­len der höhe­ren Schüler.
Es war Vier­tel­eins. Wenn wir die Mit­tags­pause verfehl­ten, mußte das ›Ein­kau­fen‹ ins Was­ser fallen.
Da – in mei­ner Schule schellte es. Die Schü­ler stürm­ten her­aus. Einer dreis­ten Ein­ge­bung fol­gend, blieb ich ste­hen. ›Ich aus­krat­zen? – Nun grade nicht! Ich werde es Ihnen schon sagen!‹ Und ich blieb.
Den Ran­zen in der Hand, kamen meine Mit­schü­ler her­aus­ge­stürzt. Der kleine Schrö­der sah mich zuerst: ›Ah – Schul­schwän­zer! Schul­schwän­zer.‹ Alle Augen rich­te­ten sich auf mich. ›Na warte! Warte! – Der Leh­rer hat schon gesagt, du kommst in die Fürsorge!‹
Für­sorge – das traf. Alles ver­schwand im Nu zu nichts: der Hun­ger, der Markt, Fritz, meine Eltern – nur Für­sorge, Für­sor­gean­stalt blieb. – Wie vom Teu­fel gejagt, lief ich durch die Stra­ßen. An einer Ecke rannte ich Frit­zen bei­nahe um: ›Ich kann nicht mehr!‹ schrie ich ihm wütend zu. Dann lie­fen große, heiße Trä­nen über mein Gesicht, hilf­los und ver­bit­tert suchte ich nach einem Aus­weg. ›Ich, ich in die Für­sorge? – Für­sorge! – Ich gehe ins Was­ser, schneide mir mit dem Mes­ser – nein, nein, ich will nicht… ich habe nichts gemacht. … dort wird man mich schla­gen … nichts zu essen … dunkle Zelle … nein, nein, nein!‹
Die Mut­ter erschrak. Das Gesicht des Vaters wurde bleich und starr. Dann schrie die Mut­ter auf: ›Mein Sohn in die Für­sorge? – Solange ich lebe, nicht!‹ Sie schlug sich daß große Woll­tuch um, ging zu Rose­ners und kam mit einem Betrag zurück, der bis Ber­lin reichte. Dort hatte Vater Verwandte.
Um sechs Uhr abends stand ich neben mei­ner Mut­ter an der Hal­te­stelle der Stra­ßen­bahn am Markt­platz. Ich steckte in Lum­pen, hatte’n Kan­ten har­tes Brot bei mir und eine Mark zwan­zig außer dem Fahr­geld. Mut­ter hatte es eilig; sie mußte arbei­ten gehn. Sie sah mich an; ihre Lip­pen bogen sich Sekun­den, als ob sie etwas schlu­cken wollte. Aus dem Auge zwängte sich eine Träne, dann ver­zog Mut­ter das Gesicht, die Augen­brauen straff­ten sich, die Fal­ten auf der Stirn tra­ten her­vor; sie sagte nur: ›Sei vor­sich­tig! Sieh zu, daß du durch­kommst!‹ Sie drückte mir die Hand, noch bevor die Stra­ßen­bahn gekom­men war, und ging eilig, als wenn sie jemand jagte.
Als ich die Mut­ter über den Markt­platz an dem gro­ßen Rat­haus vor­bei in die Hit­zels­gasse gehen sah, wollte ich ihr erst nach­lau­fen. ›Mut­ter!‹ – Wenn sie stirbt! – Nein, nein, nein! – Fürsorge?!
Den Brühl her­auf ächzte die Stra­ßen­bahn, und ich stieg ein. Es ging durch die Erfur­ter Straße. Die gro­ßen Waren­häu­ser stan­den wie immer gefüllt und mäch­tig. Wir bogen in die lange Bahn­hof­straße ein. – Der Bahn­hof. Links davon die alte Eiche. Wie oft war ich da schon raufgeklettert!?
Der Pfer­de­händ­ler Men­delsohn stand seit­lich der Eiche, am Hügel. Er beob­ach­tete eine Frau, die unter der Bahn­hofsbrücke hin- und her­lief. Als sie weg­ging, atmete er erleich­tert auf und schwang sei­nen Spa­zier­stock. Nur wenige Men­schen beweg­ten sich dem Bahn­hof zu. Ihre schwar­zen Schat­ten eil­ten ihnen vor­aus. In schnel­lem Schritt kam eine Ange­stellte von Böhm aus der Markt­straße. Sie wohnte in Sieb­le­ben und fuhr sonst mit dem Achtuhr­zuge nach Hause. Heute hatte sie sich ver­spä­tet. Als der Tier­händler Men­delsohn sie sah, eilte er auf den Weg und rief ihr zu: ›Na, Fräu­lein, da haben Sie den Zug wie­der ver­paßt! Is ja schon weg!‹ – ›Nein, wirk­lich?‹ fragte sie ver­dutzt und halb ärger­lich die Ver­käu­fe­rin. ›Na, fahr’n Sie mit dem Nächs­ten! Gehn wir solange ein Stück spa­zieren!‹ – Men­delsohn schlen­kerte wie­der mit dem Stöck­chen. Sie zögerte eine Weile, ging dann aber.
Ich kaufte ein Bil­lett, ging durch die Sperre, warf noch einen letz­ten Blick auf den Güter­bahn­hof, dachte an Fritz und den Markt und ver­schwand in einem Abteil des Zu­ges ›nach Berlin‹.

 Samuel Glesel – Von Gotha in die Welt:

  1. Aus der Hitzelsgasse
  2. Herkunft und Kindheit Samuel Glesels
  3. Ein Mittagessen
  4. Von Gotha nach Berlin
  5. Von Berlin nach Engels
  6. Samuel Glesels Bücher erscheinen
  7. Glesel wird als »Parteischädling« diffamiert
  8. Glesels Verhaftung und Ermordung durch den NKWD
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