Karl Emil Franzos – Im Schwarzatal
6 : Im »Weißen Hirsch« zu Schwarzburg

Person

Karl Emil Franzos

Ort

Schwarzburg

Thema

Thüringen im literarischen Spiegel

Autor

Karl Emil Franzos

Aus Anhalt und Thüringen, Rütten & Loening, Berlin 1903.

Kurz, nach­dem ich den Herr­scher des Länd­chens zuerst gese­hen, wurde ich von dem Gebie­ter des »Wei­ßen Hirsch« in sei­nem Audi­enz­saal, dem Ves­ti­bül des Gast­hofs, emp­fan­gen. Ich bat um ein Zim­mer mit Aus­sicht; »Sie bekom­men eines nach vorn her­aus«, lau­tete die Ent­schlie­ßung. Als ich nun dies Zim­mer in Beglei­tung eines Adju­tan­ten des Gebie­ters betrat, konnte ich mich über­zeu­gen, daß es wirk­lich eine Aus­sicht hatte: trun­ken schweifte mein Blick über den Bier­gar­ten des »Thü­rin­ger Hof«; das Post­ge­bäude im Hin­ter­grunde war auch recht male­risch. Ich wan­delte den Kor­ri­dor auf und nie­der; dabei konnte ich, da die Zim­mer­tü­ren offen stan­den, eine Reihe hübsch möblier­ter Zim­mer sehen, aus deren Fens­tern sich ein präch­ti­ges Wald­bild bot. »Die Zim­mer sind wohl alle besetzt?« fragte ich eine wür­dige Grei­sin, die eben mit Staub­tuch und Besen her­an­kam, wor­auf diese Senio­rin aller mit­tel­eu­ro­päi­schen Stu­ben­mäd­chen seuf­zend erwi­derte: »I du meine Güte – merschten­tels nich! Sie müs­sen nor natür­lich feste druf drü­cken, denn sie geben doch natier­lich lie­ber zuerscht nor die Stu­ben nach vorn naus wech!« Da suchte ich noch­mals um eine Audi­enz nach, drückte aber nicht feste, son­dern erklärte nur: »Wenn ich das Post­ge­bäude allein bewun­dern darf, so will ich’s doch wenigs­tens in sei­nem gan­zen Reiz genie­ßen; ich glaube, vom ›Thü­rin­ger Hof‹ macht es sich noch male­ri­scher«, wor­auf ich ein Zim­mer nach hin­ten hin­aus bekam, etwas hoch zwar, aber ein schö­nes Zim­mer mit Bal­kon und herr­li­cher Aus­sicht auf Wald und Wiese.

Diese Aus­sicht hat mich die acht Tage hier fest­ge­hal­ten, wenn ich min­der ange­neh­mer Dinge wegen gehen wollte, und ich werde sie nie ver­ges­sen, aber das Bild zu beschrei­ben wird mir schwer­lich glü­cken, obwohl ich es ja nun noch vor mir sehe. Ich sitze hier wie im Mit­tel­punkt eines rie­si­gen Halb­runds, vor mir eine weite, sma­rag­den schim­mernde Wiese, die sich in sanf­ter Nei­gung zu einem blau­grü­nen, rau­schend und blin­kend über Geröll und Fel­sen hin­schäu­men­den Flüß­chen hin­ab­senkt; rings um die Wiese aber Wald und Wald und Wald, immer höher empor­stei­gend, immer fer­ner und blauer dem Auge, bis dies Blau der hohen Forste mit dem des Him­mels ver­schmilzt; mit unbe­waff­ne­tem Auge kann ich ihre Grenz­li­nie kaum erken­nen. Das ist alles; nur im Vor­der­grund zur Lin­ken erhebt sich auf einem Fels­vor­sprung ein mäch­ti­ges, graues Mau­er­werk, das Schloß. Also ein ein­tö­ni­ges Bild, wird man den­ken. Ein­tö­nig? – ich habe in die­sen Tagen oft die Emp­fin­dung gehabt, als hätte ich noch keine beleb­tere Land­schaft gese­hen, keine an Far­ben und For­men rei­chere. Schon wie sich die Hügel hin­ter­ein­an­der auf­bauen, die­ser sanft und jener schroff, die­ser breit und jener schlank, höher und höher, alle wie Stu­fen einer Rie­sen­treppe auf­wach­send bis in den Him­mel hin­ein und so dem Blick zu einer Ein­heit gebun­den und doch kei­ner dem andern gleich oder ähn­lich, schon dies kann wahr­lich das Auge beschäf­ti­gen und ergötzen.

Auch die Bäume sehen selbst aus die­ser Ent­fer­nung ver­schie­den genug aus: die Tan­nen hoch, spitz und schlank, die Kro­nen der jun­gen stolz nach oben stre­bend wie eine Flamme, die der alten abge­plat­tet und ver­wach­sen, als trü­gen sie ein Nest; die bor­ki­gen Föh­ren, dort, wo sie dicht zusam­men­ste­hen, mit dün­ner, wo sie unter Laub­holz ste­hen, mit weit aus­grei­fen­der, kup­pel­för­mi­ger Krone, als wäre ihnen auf­er­legt, unter ihres­glei­chen nicht recht gedei­hen zu kön­nen, und – ich nenne nur eben die häu­figs­ten Baum­ar­ten, aus denen diese unge­heu­ren Forste bestehen – die Buchen mit dem plat­ten, star­ken Stamm und dem Gewirr läng­li­cher Blät­ter. Aber nun erst die Far­ben: wie hebt sich das satte, leuch­tende Grün des Wie­sen­gra­ses von dem erns­ten, fast schwärz­li­chen Far­ben­ton der Tan­nen ab; dazwi­schen ste­hen die grauen Föh­ren mit braun­ro­tem Stamm und die lie­ben Buchen mit den röt­lich-wei­ßen Ästen und den hel­len glän­zen­den Blättern.

Es ist wahr, das tie­fere Grün herrscht immer vor und gibt dem Bilde etwas Erns­tes und Erquick­li­ches zugleich; aber selbst bei bedeck­tem Him­mel ist’s zwar kein bun­tes, aber ein far­bi­ges Bild, und nun erst, wenn die Sonne alles Rot und Weiß auf­leuch­ten und das Grün in hun­dert ver­schie­de­nen Farb­tö­nen schim­mern läßt. So leben­dig wie das Meer ist der Wald nie, schon weil sich das Licht im Gezweig nicht so mär­chen­haft ver­schie­den bre­chen kann wie in den Was­sern, aber das Auge, dem er tot und ein­för­mig erscheint, ist auch für alle andere Schön­heit die­ser Erde stumpf. Der Wald lebt und spricht mit tau­send Stim­men. Zwar das Zwit­schern sei­ner Vögel kann man hier zumeist nicht ver­neh­men, es ist zu weit; nur zuwei­len trägt mir ein jäher Wind­stoß etwas von dem fei­nen Kon­zert zu, das fort­währt vom Mor­gen­grauen bis gegen Mit­ter­nacht. Aber der helle Ruf des Fal­ken wird oft hör­bar, noch öfter läßt sich der Kuckuck ver­neh­men, und nicht sel­ten hört man schon jetzt das selt­same, auf­re­gende, dem Stier­ge­brüll ähn­li­che, aber stür­mi­schere »Orgeln« des Hirsches.

Zuwei­len auch fällt ein Schuß, hof­fent­lich auf Wild, viel­leicht auch auf einen Men­schen; es wird hier viel gewil­dert. Nie aber erstirbt ein zwie­fa­ches Rau­schen, das hel­lere des Bachs, das dump­fere des Laubs und der Nadeln. Es ist, als wüchse ihnen mit dem schwin­den­den Licht die Kraft des Tons; in der dunk­len Nacht klingt es gewal­ti­ger, sanf­ter im Mond­schein. Wir haben jetzt Voll­mond; wie so das sil­berne Licht die Dünste des Abends nie­der­kämpft und dann sein Netz über die dunk­len, leise rau­schen­den Forste spannt, ist mär­chen­haft anzusehen …

Ja, es war der Mühe wert, daß ich mir die Aus­sicht auf die Hirsch­wiese erkämpft habe, obwohl man da nie einen ein­zi­gen Hirsch sehen kann. Am ers­ten Tage – dem reg­ne­ri­schen Wet­ter war ein herr­li­cher Abend gefolgt – stand ich mit sin­ken­der Sonne auf mei­nem Bal­kon und spähte erwar­tungs­voll hinab. Ich habe einst, in mei­ner frü­hen Jugend, im wald- und wild­rei­chen Vor­ge­birg der Kar­pa­ten das schöne Bild oft genug gese­hen; wie gegen Abend aus dem Dun­kel des Wal­des zuerst das starke Leit­tier mit gestreck­tem bär­ti­gem Hals und spä­hen­den klu­gen Augen her­vor­tritt, dann sein klei­ne­res Weib­chen und end­lich das ganze Rudel der edlen Tiere mit brei­ter Brust, schlan­ken Bei­nen und fei­nem Kopf, zu äsen und zwi­schen­durch aus dem Bach zu trin­ken. Und dies­mal sollten’s gar 70 oder 80 sein! Aber die Zeit ver­strich, die Sonne ging rot­glü­hend hin­ter dem Lie­ber­holz nie­der, und sie kamen nicht. Ich ging zum Abend­essen ins Restau­rant und fragte den Kell­ner, warum denn heute die Hir­sche aus­ge­blie­ben wären. »Unmög­lich«, sagte er kalt­blü­tig, »Sie werden’s über­se­hen haben!«

Am nächs­ten Tage erwi­derte er auf die glei­che Frage: »So? Ja, man hört jetzt oft dar­über kla­gen, die Hir­sche sind in letz­ter Zeit nicht pünkt­lich.« Kein Wun­der, dachte ich, das machen sie ihren Nach­barn, den Kell­nern, nach. Am drit­ten Tage aber begann ich zu ahnen, daß das dia­bo­li­sche Lachen des »Thü­rin­ger Hofs« trotz Baede­ker seine Berech­ti­gung gehabt, und so war es auch. »Es ist eine Entrikuhe unse­rer Feinde«, gestand mir der­selbe Jüng­ling. Es ist aber, obwohl der »Weiße Hirsch« dadurch ein hüb­sches Schau­stück ver­lo­ren hat, doch keine Intrige sei­ner Feinde, son­dern eine sehr berech­tigte Maß­re­gel des fürst­li­chen Ober­forst­amts, wenn es den Tie­ren den Weg zu die­ser Wiese ver­ram­melt und zu einer ande­ren ganz abge­le­ge­nen geöff­net hat. Die edlen Tiere wur­den hier von bösen Buben wie­der­holt durch Geschrei und Stein­würfe behel­ligt. Wer die Mis­se­tä­ter waren, ob, wie die einen sagen, alte hol­län­di­sche, oder, wie die andern mei­nen, junge thü­rin­gi­sche Buben, weiß ich nicht.

Trotz­dem habe ich in den acht Tagen wohl ein Dut­zend Hir­sche gese­hen, weil ich den Wald nicht bloß von mei­nem Fens­ter aus genoß. Aber auch das Nächste und Nahe habe ich mir genau ange­guckt, wor­über frei­lich nicht viel zu sagen ist.

 Karl Emil Franzos – Im Schwarzatal:

  1. Das provisorische Nachtquartier – Von Erfurt nach Oberhof
  2. »Die Marlitt als Geschäftsfrau« – Von Arnstadt nach Stadtilm
  3. »Hasenscharten, Kobolde und Wassermänner« – Von Stadtilm nach Oberrottenbach
  4. »Langsam, langsam, ich hab Zeit« – Von Oberrottenbach nach Schwarzburg
  5. »Thüringer Hof« oder »Weißer Hirsch« – Quartiersuche in Schwarzburg
  6. Im »Weißen Hirsch« zu Schwarzburg
  7. Ein Gesetzesentwurf für die Thüringer Gastronomie
  8. Schloss Schwarzburg
  9. Das Zeughaus
  10. Ausflug zum Trippstein
  11. Von der Fasanerie ins Schwarzatal
  12. Von Schwarzburg nach Blankenburg
  13. Am »Schweizerhaus«
  14. Blankenburg
  15. Der Greifenstein
  16. Der erste Kindergarten der Welt
  17. Im Werretal
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