Henning Kreitel – »im stadtgehege. gedichte«

Personen

Henning Kreitel

Dietmar Ebert

Ort

Weimar

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Dietmar Ebert

Alle Rechte beim Autor. Der Abdruck des Textes erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Illu­si­ons­lo­ser Blick und roman­ti­sches Verfahren

Gele­sen von Diet­mar Ebert

 

Zwei Jahre nach sei­nem 2017  erschie­ne­nen Debüt­band war­ten auf erneut hat Hen­ning Krei­tel nun sei­nen zwei­ten Gedicht­band eben­falls im Mit­tel­deut­schen Ver­lag Halle publi­ziert. Er trägt den Titel im stadt­ge­hege. In ihm sind 80 Gedichte und 14 Cya­no­ty­pien ver­eint. Die Cya­no­ty­pie (Eisen­blau­druck) ist ein foto­gra­fi­sches Edel­druck­ver­fah­ren aus dem 19. Jahr­hun­dert. »Erneut« ist es die Dop­pel­be­ga­bung Hen­ning Krei­tels als Lyri­ker und bil­den­der Künst­ler, die dem schma­len Band im stadt­ge­hege den Reiz des Beson­de­ren verleiht.

Bereits in war­ten auf erneut war Hen­ning Krei­tels starke lyri­sche Bega­bung deut­lich aufgefallen.

igel­stach­lich eingerollt
geschützt – ich
- mit ver­lo­re­nem schlüssel 
unknack­bar

Das lyri­sche Ich in sei­nem neuen Band im stadt­ge­hege  hat sich aller­dings nicht ver­kap­selt, es ist in einem wei­ten urba­nen Raum gelan­det und erkun­det ihn tag­täg­lich auf’s Neue, unge­schützt und Schutz suchend.

ver­trauen
ver­lo­ren geglaubt
kam zurück

klopfte an
ganz aus­ge­hun­gert
wuchs wie­der
emp­find­li­cher als zuvor

Es ist diese Sen­si­bi­li­tät und Emp­find­lich­keit des lyri­schen Ichs, die seine genaue Wahr­neh­mung des urba­nen Raums in der Mil­lio­nen­stadt, die unschwer als Ber­lin erkenn­bar ist, über­haupt erst ermög­licht. Der Wei­ma­rer Stadt­so­zio­loge Frank Eckardt hat in sei­nem kennt­nis­rei­chen Vor­wort betont, der Preis für die­ses lyri­sche Ver­fah­ren sei ein hoher. Noch höher ist der lite­ra­ri­sche Gewinn. Hen­ning Krei­tel hat es immer wie­der ver­mocht, sich für die Bil­der des urba­nen Lebens zu öff­nen, sie in sich auf­zu­neh­men und eine lyri­sche Form für sie zu fin­den. Sie hal­ten die Balance zwi­schen einem hohen Wirk­lich­keits­ge­halt und einer star­ken emo­tio­na­len Dichte. In eini­gen sei­ner Gedichte wird eine Geschichte erzählt, in ande­ren wird ein »Du« direkt ange­spro­chen oder all­ge­mein anti­zi­piert. Hen­ning Krei­tel hat für seine Groß­stadt­wahr­neh­mun­gen sprach­li­che Bil­der gefun­den, die den Leser berüh­ren und ihn anre­gen, die Gedichte vor dem Hin­ter­grund der eige­nen Erfah­run­gen zu lesen.

Das Ber­lin unse­rer Tage ist nicht mehr das Ber­lin, das Georg Sim­mel beschrieb, es ist auch nicht mehr das Ber­lin, in dem Franz Hes­sel und Wal­ter Ben­ja­min spa­zie­rend in die Metro­pole ein­tauch­ten oder Wal­ter Rutt­mann die »Sin­fo­nie einer Groß­stadt« fil­misch kom­po­nie­ren konnte. Eher sind es Geräusch­fet­zen, blau­licht­fan­fa­ren, saf­ti­ges schr­ei­ge­spräch auf wum­mern­den hand­laut­spre­chern, sind es das vibrie­rende grol­len prus­ten­der bag­ger, der hup­t­u­mult, der press­luft­ham­mer­takt  und ein gleis­fie­pern­des wie­gen­lied in der S‑Bahn, die sich zu einer ver­wir­ren­den, dis­so­nan­ten Geräusch­col­lage ver­ei­nen. Das Zit­tern der Lich­ter im städ­ti­schen Raum, das Sich-Begeg­nen von Augen-Bli­cken in Bruch­tei­len einer Sekunde, die opti­schen Reize, die den ein­zel­nen Men­schen über­flu­ten, das fängt Hen­ning Krei­tel in gelun­ge­nen sprach­li­chen Bil­dern ebenso ein wie einen dro­hen­den Ver­kehrs­in­farkt der Metro­pole oder die Oma im Kiez, die stun­den­lang aus dem Fens­ter schaut.

Ber­lin steht als Sym­bol für eine Metro­pole, die sich in stän­di­ger Bewe­gung befin­det, für einen urba­nen Ort von »Macht und Mög­lich­kei­ten«. Die Beschleu­ni­gungs­spi­rale bewirkt eine rasante Erhö­hung des urba­nen Tem­pos, die eins­ti­gen Kieze wer­den immer stär­ker in die Metro­pole ein­ge­schmol­zen, und die Ver­ein­ze­lung der Men­schen in der Stadt nimmt zu.

Die große Stärke von Hen­ning Krei­tels zwei­tem Lyrik­band im stadt­ge­hege liegt darin, dass sein lyri­sches Ich ein genauer und sen­si­bler Beob­ach­ter des urba­nen Lebens ist. Das »Wan­dern« durch die licht­fla­ckernde Stadt ist zugleich ein Weg ins Innere.

schau­fens­ter­zu­rück­ge­glotzt
im flim­mern­den straßenlaternenlicht
durch­wan­dere ich mit
jedem fla­ckern eine wei­tere schicht
bis zur wand mei­nes selbst

und mei­ßel ein loch hinein

Das lyri­sche Ich setzt sich den opti­schen und akus­ti­schen Rei­zen des urba­nen Lebens ebenso aus wie den öko­no­mi­schen und sozia­len Ver­wer­fun­gen des städ­ti­schen Raums. Hen­ning Krei­tel hat dafür eine sehr ein­präg­same Spra­che gefun­den, hat Gese­he­nes, Gehör­tes und Emp­fun­de­nes in starke lyri­sche Bil­der gesetzt und Gedichte geschrie­ben, in denen zwar Lärm und Tempo der Groß­stadt zu spü­ren sind, die jedoch zugleich Ruhe atmen, weil in ihnen die Zeit für einen Augen-Bick still gestellt ist.

Seine Gedichte sind nicht nur kleine »Zeit­in­seln« im zuneh­men­den Beschleu­ni­gungs­pro­zess, der unser Leben durch­dringt. Sie sind ebenso wie die 14 Cyra­no­ty­pien, die Ber­li­ner Park­land­schaf­ten zei­gen, Aus­druck künst­le­ri­scher Reso­nanz. Gerade in Zei­ten wie den unse­ren wächst in den Men­schen das Bedürf­nis, von etwas ange­spro­chen zu wer­den, was grö­ßer ist als der uns umge­bende All­tag. Der Sozio­loge Hart­mut Rosa hat das Reso­nanz genannt. Für ihn ist nicht Ent­schleu­ni­gung, son­dern Reso­nanz das Gegen­stück zur all­ge­gen­wär­ti­gen Beschleu­ni­gung. Die  Kunst ist es, die in beson­de­rem Maße das Ver­mö­gen zur Reso­nanz besitzt. Eben das zeigt Hen­ning Krei­tels zwei­ter Gedicht­band auf ein­drucks­volle Weise. Die Cyra­no­ty­pien, die Auf­nah­men Ber­li­ner Park­land­schaf­ten in der Farbe des »Preu­ßisch Blau« oder »Ber­li­ner Blau« ver­frem­den, laden zum ruhi­gen genauen Betrach­ten ein. Sie ste­hen in Kor­re­spon­denz zu den Gedich­ten, tei­len sie in Lyrik-Blö­cke und laden den Leser zum Betrach­ten, zum Inne­hal­ten ein. Damit wird der Leser für die Form der Gedichte sen­si­bi­li­siert, für deren Fra­gi­li­tät und Schönheit.

Gewiss, der Blick Hen­ning Krei­tels auf das urbane Leben der Metro­pole ist illu­si­ons­los, sein lyri­sches Ver­fah­ren ist jedoch zutiefst roman­tisch. Gerade diese Dopp­lung begrün­det die Ein­zig­ar­tig­keit des Lyrik-Ban­des im stadt­ge­hege in der gegen­wär­ti­gen Literaturlandschaft.

 

  • Hen­ning Krei­tel: im stadt­ge­hege. Gedichte. Mit Cya­no­ty­pien des Autors und einem Vor­wort von Frank Eckardt, Mit­tel­deut­scher Ver­lag, Halle (Saale) 2020.
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