Harry Graf Kessler – »Tagebücher 1918–1937«

Person

Harry Graf Kessler

Ort

Weimar

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Walter Sachs

Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Wie­der­ge­le­sen von Wal­ter Sachs

 

Harry Graf Kess­lers Tage­bü­cher aus den Jah­ren zwi­schen den bei­den Welt­krie­gen glei­chen einer Per­len­kette aus vie­len Begeg­nun­gen mit höchst unter­schied­li­chen Men­schen, die sub­til zu cha­rak­te­ri­sie­ren der Autor nicht müde wird. Als Diplo­mat ist Kess­ler direkt ins poli­ti­sche Zeit­ge­sche­hen invol­viert. Seine Auf­zeich­nun­gen aus der per­sön­li­chen Sicht des Betei­lig­ten, geben auf­schluss­rei­che Ein­bli­cke in die Bezie­hun­gen der Euro­päi­schen Staa­ten nach dem 1.Weltkrieg und in die ihrer Prot­ago­nis­ten. Seine Vor­schläge zur Reform des Völ­ker­bun­des haben mit Blick auf die EU kaum an Aktua­li­tät ver­lo­ren. Kess­ler kon­sta­tiert ein Erstar­ken des Natio­na­lis­mus, das Schwä­cheln der Sozi­al­de­mo­kra­tie, die euro­päi­sche Unei­nig­keit und man­gelnde Bereit­schaft zur Soli­da­ri­tät, das ist voll trau­ri­ger Par­al­le­len zu dem, was heu­tige Zei­tun­gen mel­den. Die Frage nach Dik­ta­tur oder Demo­kra­tie, ein neues sozia­le­res Gesell­schafts­kon­zept jen­seits des Kapi­ta­lis­mus, die All­tags­kul­tur, aber auch die Frage, wie es in Kunst, Lite­ra­tur, Musik, Tanz und Thea­ter wei­ter­ge­hen soll, sind es, die den poly­glot­ten Gra­fen umtrieben.

Qua Geburt mit beacht­li­chem Ver­mö­gen aus­ge­stat­tet und mit Ver­bin­dun­gen in die höchs­ten Krei­sen der Gesell­schaft, war es ihm mög­lich, sich der­art viel­sei­tig zu enga­gie­ren. Bei allem Sinn fürs Eli­täre ist Kess­ler die immer grö­ßer wer­dende Kluft zwi­schen Armen und Rei­chen nicht nur suspekt, son­dern mora­lisch zuwi­der. Mit Breit­scheid besich­tigte Kess­ler am 28.12.1918 das beschä­digte Ber­li­ner Schloss und reflek­tiert über den schlech­ten Geschmack und die schlechte Poli­tik des ver­trie­be­nen Kai­sers – und über den Zusam­men­hang zwi­schen ästhe­ti­schen und poli­ti­schen Defi­zi­ten: „Aus die­ser Umwelt stammt der Welt­krieg oder was an Schuld am Welt­krieg den Kai­ser trifft: aus die­ser kit­schi­gen, klein­li­chen, mit lau­ter fal­schen Wer­ten sich und andere betrü­gen­den Schein­welt seine Urteile, Pläne, Kom­bi­na­tio­nen und Ent­schlüsse. Ein kran­ker Geschmack, eine patho­lo­gi­sche Auf­re­gung die allzu gut geölte Staats­ma­schine len­kend! Jetzt liegt diese nich­tige Seele hier her­um­ge­streut als sinn­lo­ser Kram. Ich emp­finde kein Mit­leid, nur, wenn ich nach­denke, Grauen und ein Gefühl der Mit­schuld, daß diese Welt nicht schon längst zer­stört war, im Gegen­teil in etwas ande­ren For­men über­all noch weiterlebt.“

Kess­ler wen­det sich ebenso den Fra­gen des Neu­auf­bru­ches von Kunst und Kul­tur zu. Nach einem Gespräch am 23.03.1919 mit Hell­muth Herz­felde (John Heart­field), fasst Kess­ler des­sen For­de­run­gen zusam­men: „ … daß er und seine Freunde immer feind­li­cher der Kunst gegen­über­stän­den. Was George Grosz und Wie­land (Herz­felde) mach­ten, sei zwar Kunst, aber sozu­sa­gen nur neben­bei. Die Haupt­sa­che sei der Puls der Zeit, die große Gemein­schaft, in der sie mit­schwinge. Er lehnt jede alte Kunst, auch wenn sie in ihrer Zeit gerade diese Eigen­schaft der Moder­ni­tät gehabt habe, ab. Sie woll­ten keine Doku­mente schaf­fen, nichts was Bestand habe und den Nach­kom­men im Wege stehe.“ Bei all sei­ner Sym­pa­thie für die dama­lige (nun wie­der aktu­elle) Moder­ni­tät, die die tages­po­li­ti­sche Aktion voran stellt, bewahrt Kess­ler doch stets den geschul­ten Blick und eine hohe Wert­schät­zung für das, was eben nicht nur „neben­bei“ Kunst ist, „was Bestand“ hat. Davon zeu­gen seine fein­sin­ni­gen Kom­men­tare zu Wer­ken der Antike, zur Gotik und zur Kunst sei­ner Zeitgenossen.

Zum Erhalt der Buch­kunst im bes­ten Sinne des Wor­tes setzt Kess­ler einen gro­ßen Teil sei­nes Ver­mö­gens für die Cra­nach-Presse in Wei­mar ein. Er lässt extra eine neue Schrift (Gill) ent­wi­ckeln, um in der Gestal­tung des Tex­tes mit den Illus­tra­tio­nen das Buch-Kunst-Werk als ein in sich geschlos­se­nes Gan­zes ent­ste­hen zu las­sen. Für die Eklo­gen des Ver­gil bit­tet er Mail­lol nicht nur um Holz­schnitte, son­dern auch um die Initialen.

Auch, wer sich ein biß­chen für den All­tag der Künst­ler­szene, um nicht zu sagen: den kul­ti­vier­ten Klatsch und Tratsch, der Zwan­zi­ger und begin­nen­den Drei­ßi­ger Jahre inter­es­siert, kommt auf seine Kos­ten. Zu vie­len Künst­lern, Lite­ra­ten, Musi­kern, Tän­zern und Schau­spie­len hielt Kess­ler per­sön­li­che Kon­takte auf­recht, beson­ders aber zu Aris­tide Mail­lol, den er, nicht nur um sei­ner Kunst wil­len, beson­ders schätzte. Wie­der­holt von schwe­rer Krank­heit heim­ge­sucht, und in all sei­nen begon­ne­nen Vor­ha­ben zuneh­mend unter finan­zi­el­len Druck gera­ten, schmerzt ihn der nötig gewor­dene Ver­kauf einer gro­ßen Plas­tik Mail­l­ols beson­ders, die er einst für seine, von van der Velde ein­ge­rich­tete Ber­li­ner Woh­nung, erwor­ben hatte. Nach der Macht­er­grei­fung der Nazis kehrt Harry Graf Kess­ler nicht mehr in sein Haus Cra­nach­straße 15 in Wei­mar, ja über­haupt nicht mehr nach Deutsch­land zurück.

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