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Wulf Kirsten
Reihe »Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Unter den Siedlungen ringsum ein ausgesprochener Winzling, elf, zwölf bewohnte Häuser. Wenn es hoch kommt, dreißig Einwohner. Gäbe es nicht den bestens beleumdeten und also florierenden Waldgasthof »Zu den vier Linden«, wüßten wohl nur Wenige von diesem Weiler waldinmitten, Appendix zu Döbritschen. Und dennoch in Geschichte eingesponnen. Kurz nach 1300 erstmals erwähnt. Gewiß eine fränkische Brandrodung, nach dem Siedlungsgründer, einem Volrad, benannt. Später Klosterbesitz, zu Kapellendorf und Oberweimar zugehörig. Im sächsischen Bruderkrieg wurde der Ort 1450 zerstört, während so manches andere Dorf sich als »Fehlsiedlung« erwies und wegen Wassermangel aufgegeben werden mußte. An die zweihundert Jahre lag das Dorf wüst und überwucherte. Der Wald holte es sich zurück. Nach 1700 wieder auferstanden als Rittergut. 1756 gehörte es zum benachbarten Weimarer Schatullgut Döbritschen. Ab 1815 wurde es als Vorwerk des großherzoglichen Kammerguts Döbritschen geführt, ab 1922 zählte es zu den Thüringer Staatsdomänen.
Mir bot Vollradisroda mehrfach ideale Bedingungen für Schreibklausuren, in denen sich intensiv (telefonisch nicht erreichbar) arbeiten ließ. Nicht, daß mich die nie wieder richtig Dorf gewordene Halbwüstung besonders gereizt hätte, wohl aber die ins Detail gehenden landschaftlichen Erkundungen nach allen vier Himmelsrichtungen. Gerade der Wechsel erwies sich als produktiv. Nicht nur, wenn ich in Vollradisroda einsiedelte. So hätte ich mich ebenso für Kochberg, für Mötzelbach über Kuhfraß, für Röttelmisch im Reinstädter Grund, für Geitersdorf bei Rudolstadt entscheiden können, um nur auf solche Fixpunkte in Thüringen zu verweisen.
Gerade die Möglichkeit, Wege unter die Füße zu nehmen, früher täglich drei bis vier Stunden als Beobachter, Erkunder, Sichtsüchtiger unterwegs zu sein, nun füßisch allenfalls zwei Stunden, erwies sich immer wieder als Stimulans für Textierung am Schreibtisch. Den hatte ich in der Pension zu Vollradisroda. Die Räumlichkeiten ideal, um alle benötigten Materialien verstauen zu können. Ohne die Ausflüge in die nähere Umgebung hätte der Ort kaum Anregungen zu bieten gehabt.
Um so wichtiger, erholsamer das Inspizieren der reichhaltigen Flora im Großschwabhäuser Hain. Die Bucha und Döbritschen verbindende Fahrstraße hinauf, aus dem Ort heraus, an dem Parkplatz und der Bushaltestelle, an der ich niemals einen Bus halten sah, vorüber, die weithin stillgelegte Schäferei rechts oben außerhalb der Wohnhäuser rechts liegen gelassen. In den gradhin nach Großschwabhausen führenden Feldweg eingebogen. Über die Felder weite Sicht bis hinüber zum heimatlichen Ettersberg. Kaum einer der querenden Feldwege, der nicht ausprobiert worden wäre. An Jägerhochsitzen vorüber, die Pflaumenbäume am Wegrand in einem miserablen Zustand, Erinnerungspunkte an ein zurückliegendes Jahrtausend. Dann endlich in das Karree des Waldes hinein. Die Kuhlen an den Rändern zeigen sicher noch einige Jahrzehnte an, wo sich die getarnten Panzer der bis 1992 anwesenden Besatzungstruppen versteckt hielten wie in so manchem Waldstück der Weimarer Umgebung auch. Nur selten sickerte durch, wenn es zu Desertionen kam. Die Geflüchteten hatten nicht die geringste Überlebenschance. Eines der finstersten Kapitel dieser siebenundvierzigjährigen Besatzungszeit. Waldinmitten ein Observatorium der Jenaer Universität, über dessen Geschichte und wissenschaftliche Leistung ich reinweg nichts zu berichten weiß. Der Waldboden im Frühjahr ein reich bestückter und ‑bestickter Blumenteppich. Berühmt sind die Märzenbecherbestände, die ich leider nie zur Blütezeit sah, dafür jedoch all das, was der lichte Auenwald mit Licht versorgt. Die Zeit der gelben und weißen Buschwindröschen geht zu Ende, trempelweise Lungenkraut, die ersten Frühlingsplatterbsen in einer intensiven Farbgebung, wie man sie der blanken Natura nicht zuzutrauen gewillt ist. Jetzt eben zeigen sich erstaunlich reiche Bestände der hochstengligen Waldschlüsselblume in zartem Gelb. Und schon schießen in aberzähligen Beständen die Türkenbundlilien auf, von denen die wenigsten zur Blüte gelangen werden. Die Rehe haben einen Riecher und wissen wenn Zeit ist, die Knospen abzufressen. Eine größere Delikatesse scheint es für sie nicht zu geben. Botanisch reich assortiert wird es in diesem Hain weitergehen. Offen muß vorerst noch bleiben, ob ich wieder das Glück haben werde, Kuckuck und Pirol zu vernehmen. Am Waldrand wird von einem Imker wegen Stechgefahr gewarnt, der dort seit Jahren, etliche Bienenvölker weiden läßt. Weiß ich, ob die Bienen und er dann zu unterscheiden wissen zwischen Raps- und Waldblumenhonig?
Aufwendiger und beschwerlicher wegen der zu bewältigenden Steigungen ist die Tour über Coppanz. Auch eines der in sich versunkenen Dörfer, in denen man nur höchst selten einen Menschen zu Gesicht bekommt. An dem nahezu von Wald überwölbten kleinen Friedhof hinunter, immer steiler hinunter, bis kurz vor Amrnerbach. Am Waldrand abgebogen. Auf dem Fußweg mit Blick ins Tal hinunter und auf die Bergflanken gegenüber an einigen alten Berggärten und Wochenendhäusern vorüber zwischen Wiesenhängen und Wald gradwegs dahin auf dem schönsten Stück, das die Tour zu bieten hat, bis Nennsdorf. Dieses Straßendorf nur gestreift. Rasch dorfhinaus mitten durch Weideland, von überalterten Obstbäumen gesäumt nun hoch hinauf mitten durch schüttere Gehölze, irritierenderweise Götteritztal geheißen, bis man die letzten Waldinseln hinter sich gelassen. Danach auf einem holprigen Feldweg, vor dem mitunter einheimische Autofahrer nicht zurückschrecken, wie mehrfach zu erleben, schnurstracks nach oben, wo eine Batterie Windräder alternativ, wenn auch zu landschaftsdominant bis an die Buchaer Straße hinüber, Strom erzeugt. Und schon ist man wieder in Coppanz. Die Runde hat sich geschlossen. Einmal hatte ich das Glück, diese Tour zu absolvieren, als ringsum die Elsbeerbäume blühten an Weg- und Waldrändern. Alte kräftige Bäume ganz in Weiß gehüllt. Der kräftige, leicht aasige Geruch dem Weißdorn zum verwechseln ähnlich. Immerhin lassen sich in dieser Phase Standorte sehr gut einprägen. Leider gelangt man späterhin nur in den seltensten Fällen an die viel zu hoch hängenden Fruchtstände, Dolden mit ziemlich unscheinbaren braunen Beeren, die allerdings noch hart geerntet werden sollen, etwa Anfang September. Durchaus genießbar, von dem Geruch der Blütenstände keine Duftspur mehr zu gewärtigen.
In Österreich versteht man sich auf »Adlitzbeerenbrand«, als teuerster Schnaps Mitteleuropas gepriesen, wenn auch nur schwer zu erwerben. Wenn, dann für 300 bis 400 Euro pro Liter. Aber ehe ich jetzt noch auf das ebenso kostbare und entsprechend teure Holz eingehe, breche ich ab und laß die Wanderung mit einem Abstecher zur Wüstung Möbis nahebei enden. Unter den Wüstungen des Landstrichs um Weimar und Jena ist neben Spaal (von Spayl – slaw. für Brandrodung) Möbis atmosphärisch das eindrucksvollste geschichtliche Zeugnis. Steinplätze lassen erkennen, wo Häuser standen, vor Jahrhunderten abgesiedelt, die bäuerlichen Anwesen dem Verfall preisgegeben. Die Wasserquelle weit unterhalb des Wüstung gewordenen Ortes als Denkmal am Wegesrand ausgewiesen, mit Blick hinunter in den aus dem Stein gehauenen Brunnen.
Wer in Vollradisroda einkehrt oder sich daselbst einquartiert, müßte, wenn nicht muß, auch nach Remderoda über Münchenroda gewandert sein. Den Wiesenweg am besten nehmen, wenn die Schlüsselblumen blühen in einer (noch) erstaunlichen Reichhaltigkeit, so übel der Weg auch so manchem Wanderer in die Nase fahren mag. Dann ein Stück waldinmitten quer hindurch, an noch nicht abgefrästen Hecken vorüber auf die Höhe, den Golfplatz links liegen gelassen. Gleich hinter dem Ort wiederum ein üppiges naturbelassenes Frühjahrsblumensortiment. Das zerstückelte Remderoda nur aus der Ferne besichtigt, das Grab gesucht und rasch gefunden auf dem ansonsten aufgelassenen Mini-Friedhof. Der ehemalige Gutsbesitzer kam in eines der thüringischen KZ-Außenlager nach einer Denunziation, weil er mit den Kriegsgefangenen am selben Tisch zu Mittag aß. Auf einem der Todesmärsche kurz vor Kriegsende wurde er von einer SS-Charge angesichts seiner Erschöpfung erschossen. Erst Jahre danach kam sein Schicksal ans Licht und er dann zurück nach Remderoda. Der kleinste Ort, von deutscher Geschichte heimgesucht. Vollradisroda weiß zu berichten.
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