Personen
Ort
Thema
Jens-Fietje Dwars
Erstdruck in Palmbaum 2/2019.
Jens‑F. Dwars
Widerborstige Sprachlust. Neue Gedichte von Wulf Kirsten
DIchter Treffen heißt eine Radierung, die Horst Peter Meyer dem Dichter Wulf Kirsten zu dessen 85. Geburtstag gewidmet hat. Ein Dichter-Treffen war denn auch die Feier für den Jubilar, zu der die Stadt Weimar, die Literarische Gesellschaft Thüringen e.V. und der Thüringer Literaturrat am 28. Juni einluden. Bärbel Klässner, Johanna Lüdde, Regina Jarisch, Wolfgang Haak, Jan Volker Röhnert und Christian Rosenau lasen Gedichte für und von Wulf Kirsten.
Dass Dichter auch zu treffen vermögen, das beweist der jüngste Band des Schriftstellers, der an dem Abend Premiere hatte: erdanziehung. Ein schmaler, aber gewichtiger Band. Er besteht aus drei Teilen. Der erste, am grundfaden überschrieben, erschien vor fünf Jahren als eigenständiges Bändchen unter dem Titel was ich noch sagen wollte im kleinen Thüringer quartus-Verlag. Schade, dass der große S. Fischer Verlag dies nirgends erwähnt, aber die Freude überwiegt, wie organisch sich diese 23 Gedichte mit den jüngeren zu einem Ganzen vereinen. Erinnert sei an das Porträt der diener, zu dem Susanne Theumer damals eine Radierung schuf, an Herders garten oder das wunderbare Kafka-Gedicht durchsichtig.
poesie der landschaft heißt der zweite Teil des neuen Bandes, in dem sich Wulf Kirsten einmal mehr als sprachmächtiger Landschafter erweist. Was mehr verlangt als den Hymnus auf die – vermeintlich unberührte – Natur. Der Landschafter liest und verdichtet die Spuren menschlichen Tuns, die der Erde eingeschrieben sind, eine Topografie des Bleibenden im Vergehen, in Sprache aufgehoben. Wie im Gedicht am weidenpfad: „uralte verknorzte kopfweidenreihe, / längst nicht mehr gekröpft“, vorbei führend an der Wüstung Arnstedt, „zermalmtes, / zermahlenes erdenweh“, von dem nur der „einsame / feldweg blieb, auf dem ich voreinst, / … / kiebitze im torkelflug erblickte / über verlandendem sumpf.“ Eine Sprache, die mit halb vergessenen Worten selbst aus den Gründen und Abgründen des Vergangenen herweht, die das Lebendige bewahrt, den Augenblick der Schönheit im Fortschreiten, das alles zermalmt. Eine Sprache, in der die Stille als ein Summen kenntlich wird, in das „alles wesentliche“ eingewoben ist, eine Textur, die uns tragen könnte, nicht mehr wahrgenommen von all denen, deren „ohren verstöpselt“, deren Augen „weltab gerichtet auf smartphones“ verharren (stille).
weltbetrachter lautet der dritte Teil. Schön, dass er ein Gedicht von 1965 enthält: die Beschwörung einer windhose, die alles Abgestandene aufwirbelt: „bewegung will ich, / einen rechtschaffnen sturm, eine windhatz. / himmel, bescher mir ein dutzend handfeste böller!“ Beides besingt dieser Dichter: den Sturm, der das Abgestorbene wegfegt, und die Stille, in der er die Keime des Nachwachsenden hör- und sichtbar macht. Eine welthäuslichkeit, in der es „die alltäglichen banalitäten / … zu fermentieren gilt / in poetischer rede“, selbst über „wurmstichige äpfel, / deren zeit abgelaufen ist / wie die meine“.
Doch nein: wer das Lebendige mit solch widerborstiger Sprachlust einzufangen vermag, dessen Zeit ist nicht abgelaufen.
›Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio
Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2025 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]
URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/wulf-kirsten-erdanziehung/]