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Wolfgang Haak
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Wolfgang Haak
Unser tägliches Brot
Ich fing routiniert die kleine Brot-Börse auf, die meine Mutter aus dem Küchenfenster warf, hinterher kam noch das Brot-Baumwoll-Netz und ich hörte ihren kurzen Auftrag: Ein Mischbrot beim Lautensack, sieben Brötchen beim König und drei Mohnschnecken beim du-weißt-schon-wo. Beeil dich, sonst ist das Brot ausverkauft. Und knabbre mir nicht wieder an beiden Enden herum und brich nicht die Rinde ab… Ich musste also drei der sieben Bäckereien, die es in unserer Nähe gab, anlaufen, ab Laden zwei besorgt, das verräterische Netz hinter dem Rücken zu verbergen, den sichtbaren und duftenden Beweis, vorher bereits bei der Konkurrenz gewesen zu sein. Und prompt ermahnten mich die Verkäuferin zwei und drei nach dem Bezahlen unwirsch: schönen Gruß an die Mutter, in ihrem Laden könne man alles kaufen, Brötchen, Brot und Kuchen, beste Qualität, da bräuchte das arme Kind nicht durch die Gegend rennen. Ich, das arme Kind, zog beschämt ab, ohne das übliche Anisplätzchen über die Ladentheke hinweg zu erhalten und verfolgt von den missbilligenden Blicken der Stammkundschaft, die allerdings auch ihre Vorlieben von Bäckerei zu Bäckerei auslebten. Das war in den sechziger Jahren zu Jena-Ost, eine Kindheitserinnerung, die sich sanft mit zunehmendem Abstand und Alter verklärt.
Heute kein Brot mehr im Kasten. Ich bin auf dem Weg zu meinem Bäcker in Weimar. Ein langer Spaziergang, der von Südstadt, durch den Friedhof, über den Hypothekenhügel hinweg, weiter zur Belvederer Allee bis nach Ehringsdorf führt. Ich könnte auch in einen der nahegelegenen Supermärkte mit ihren Backshops und Brotregalen gehen. Aber gerade das Brot und das Brotessen sind sehr persönliche Angelegenheiten und in diesen saturierten Zeiten, was das Nahrungsangebot anbelangt, ist es nicht verkehrt, sich sein Brot selbst zu erlaufen. Brot habe ich, seit ich lebe, immer bekommen. In der Regel gutes Brot, ich bin verwöhnt. Ich habe nicht im Sinne des Vaterunsers darum bitten oder sogar flehen müssen. Es war da. »Unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.« Diese bitte an den Höchsten hat es in sich. Während mich gerade mein Spazierweg über den historischen Friedhof führt, muss ich darüber nachdenken, dass im Vaterunser, die Bitte um Brot und die, um Vergebung der Schuld, unmittelbar aufeinander folgen. »Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit«, heißt es im Neuen Testament, Das Evangelium nach Johannes. Brot als Sinnbild für die leibliche und geistige Nahrung.
Aber zurück auf meinen Brot-Weg. »Brot ist der Stab des Lebens.« Soll Jonathan Swift gesagt haben. Mein Ziel ist noch fern, erst recht ohne Wanderstab.
Apropos Friedhof. Dort liegt der Bäckermeister Arno Schmidt, Schöpfer von gebackenen »Gretchenzöpfen« und »Mephistohörnern« (Rezepturen leider nicht überliefert) begraben, die eher ins Konditorfach einschlugen. Seine Hofbäckerei lag direkt gegenüber des Goethe-Wohnhauses am Frauenplan. Mein Bäcker hat weder ein Verweile-Doch-Du-Bist-So-Schön-Rezept noch Faustpfandkuchen und auch keine Schillerlocken – dafür Brot und Kuchen, die es in sich haben.
Mein Ziel ist beinahe erreicht: die Weimarische Straße in Weimar-Ehringsdorf. Dort backen seit 1780 die Heinemanns heute bereits in der 8. Generation mit besten Zutaten und nach alter Handwerkskunst Kuchen und Konditoreierzeugnissen, sowie Brot und Brötchen.
Mein Blick die Straße hinauf gilt zwei wichtigen Zeichen: Ist die Markise über dem Schaufenster zu sehen, steht der Plakataufsteller vor dem Laden? Trifft beides zu, könnte ich entspannt mit der Gewissheit weiterspazieren, dass die Bäckerei und Konditorei geöffnet hat. Aber ein reger Kundenbetrieb, rein in das Geschäft, raus aus dem Geschäft, mahnt überflüssigerweise zur Eile. Zu ärgerlich, wenn das frische Brot bereits ausverkauft wäre, und ich unverrichteter Dinge heimkehren müsste, wie ich es schon erlebt habe.
Der Handwerksbetrieb der Heinemanns hebt sich kaum ab von den kleinen Häusern der Straße. Tür weit geöffnet, Schaufenster rechts, drei Stufen hinein in den Laden. Im Winter Wärme, im Sommer Wespen, ganzjährig jener einzigartige Duft, der eine Bäckerei von der anderen unterscheidet. Ich stelle mich in der Schlange hinten an. Vor mir ein junger Mann, der, ehe er seinen Wunsch ausgesprochen hat, ein Weißbrot eingetütet über den Ladentisch geschoben bekommt. Frau Heinemann weiß Bescheid, hier kauft zunächst eine treue Gemeinde von Stammkunden aus der Nachbarschaft und allen Ecken der Stadt, die sie über Jahre schon kennt. Die alte Dame aus der Nachbarschaft benötigt etwas mehr Zeit. Sie lässt zwei Kindern den Vortritt, die Plunderstückchen haben wollen und eine kleine Ewigkeit benötigen, um ihr Kleingeld zusammenzuzählen. In der Ruhe liegt hier die Kraft. Und endlich dirigiert die alte Dame die Frau des Altmeisters bzw. Mutter des Jungmeisters zu dem, nein jenem, also daneben liegenden Dinkelbrot, das einzige weit und breit, das ihr empfindlicher Magen verträgt, wie sie mir zugewandt mitteilt. Ich nicke verständnisvoll. Und Kuchen braucht sie natürlich auch noch, wie immer, na, sie wissen schon, ich habe meine Damen-Runde heute Nachmittag zu Gast, also nehme ich Kirsch, Mohn und Streusel, geben sie noch ein Beutelchen Heidesand, und sagen sie´s nicht meinem Arzt – sie wendet sich lächelnd wiederum zu mir und ich nicke auch diesmal zustimmend – kleiner Scherz, sagt die alte Dame, aber das bisschen Freude lassen wir uns nicht nehmen, und wenn der Mund voll ist, dann reden wir für einen Moment nicht über Blutdruck, Rheuma, Herz und die Kinder. Apropos Kinder, na sie wissen schon, haben alle zu tun, der eine geschieden, der andere in Bayern, an die Enkel darf ich gar nicht denken. Und selbst? Ihr Sohn macht sich gut im Geschäft, Frau Heinemann. Was für ein Glück für uns alle: Ein Nachfolger!
Auch der nächste Kunde kauft nicht nur Brot und Plätzchen, sondern hat noch dieses und jenes Problem auf dem Herzen. Das Wetter spielt immer eine Rolle und was in der Welt geschieht, geht nicht am Laden unerwähnt vorüber. Jetzt folgt eine junge Frau, der man ansieht, dass sie es eilig hat. Bitte, ein Mischbrot! Das ist Geld bereits abgezählt. Wiedersehen und ab.
Die Verkäuferin behält immer freundlich die Ruhe. Sie hört zu, wirft eine Bemerkung ein, fragt nach, packt das Gewünschte ein, nennt den Betrag, nimmt Geld entgegen, schiebt das Rückgeld über die Theke. Plötzlich Stille. Ich bin an der Reihe, die sich mittlerweile aufgelöst hat.
Mein Blick gleitet zunächst nochmals über das Brotregal und dann wieder die Kuchentheken entlang, die, leicht über Eck gestellt, jeweils drei Etagen gefüllt mit bis zu acht Kuchensorten präsentieren, obenauf Tüten mit Plätzchen. Eine Waage ragt über den Rand der oberen Glasplatte, rechts dahinter wieder Fächer mit verschiedenen Gebäck und über allem ein Foto aus vergangenen Zeiten: Backmulde, Backofen, im Hintergrund der damalige Bäckermeister und die muntere Schar der Lehrlinge, von denen einer ein Brett voller Teiglinge auf der Schulter balanciert. Unterm Backofen das Feuer. Lange her.
Wolfsstunde nennt man die Zeit zwischen 2 und 3 Uhr nachts. Man liegt hellwach, weil das Zusammenspiel von Melatonin, Serotonin und Cortisol nicht funktioniert, heißt es, und wird von allerlei Alpträumen und überflüssigen Ängsten heimgesucht. An Schlaf ist nicht zu denken.
Licht an, Licht aus. Blick auf die Zeiger des Weckers. Kein Schlaf. Das ist die Zeit des Jungbäckermeisters Felix Heinemann, der längst in der Backstube steht. Sein Vater, der Altmeister kann es nicht lassen. Er hat die Ärmel ebenfalls hochgekrempelt. Müde? Nein, reine Gewohnheitssache, sagen Vater und Sohn lächelnd. In der Backstube warten schon die sauren Vorteige in der Vorbereitung und die nicht sauren Vorteige. Jetzt gilt es zu wiegen und die Zutaten zu mischen, zu kneten, zu formen und zu wirken. Kontrolle der Endgare, also des Zeitraums, die der geformte Teigling braucht, um so weit gelockert zu sein, dass dieser sein optimales Volumen während des Backens erreicht. Veredeln, Backen. Auf die Konditoren wartet Arbeit, die besonderes Fingerspitzengefühl verlangt. Die Backstube, was für eine anheimelnde Bezeichnung, in Wahrheit nüchtern, praktisch, picksauber, an den Wänden Gerätschaften, Regale, in der Luft Mehlduft, Wärme. Eine Werkstatt der besonderen Art. Die Backmulde gibt es nicht mehr. Der traditionelle Backofen ist längst einem modernen Elektroofen mit mehreren Etagen bzw. Fächern gewichen. Das Herzstück der Bachstube. Der Stolz der beiden Bäckermeister. Die Wiege der Brotlaibe, die aufgereiht auf weitere Verarbeitung warten.
Wer erinnert sich da nicht an jenen Moment, da das Brot angeschnitten wird und der Kanten auch Ecke, Kruste, Rinde, Schicht, Ranft, Knäppchen, Krüstchen, Knust, Scherzl, Knäusle genannt, durch seinen bloßen Anblick das Wasser im Munde zusammenlaufen läßt, endlich die Nase seinen verführerischen Duft aufgesaugt, die Zunge in Bewegung gerät, um den ersten Bissen sanft gegen den Gaumen zu drücken, ein wohliges Glücksgefühl den ganzen Leib durchströmt. Der Magen beginnt freudvoll zu arbeiten. Mit einem Schlag werden die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen ungefährlich, seine Kürze imaginär. Der Mensch kaut selig mit geschlossenen Augen.
Vater und Sohn backen unser tägliches Brot, ohne viele Worte dabei zu verlieren. Zwei Handwerkskünstler, die Wert auf Qualität legen, sich in der Tradition ihrer Vorfahren sehen und zurecht stolz darauf sind. Fünfmal hat das Magazin »Der Feinschmecker« die Heinemanns als eine der besten Bäckereien Deutschlands ausgezeichnet. Zuletzt erst 2024. Das liegt sicher auch an den guten Rohstoffen und Zutaten, die weitestgehend regional bezogen werden.
Auf einem Foto aus dem Jahre 1937 sieht man in der Backstube vor dem Ofen drei Generationen von Bäckern, der Jüngste von ihnen, noch ein Kind, mit Kochmütze, Schneebesen und Rührschüssel ausgestattet. Vielleicht hatte er bereits das süße Fach des Konditors im Sinn. Zwei Gesellen gehören zu der Gruppe, der eine präsentiert ein bemehltes Brot, der andere steht in der Backmulde und bestreicht mit einer Bürste nicht ohne Stolz frische dunkle Laibe. Lehrlinge und Gesellen würden Heinemanns gern ausbilden. Aber das bleibt vorerst nur ein Wunsch. Vater und Sohn sind sich einig, dass das Handwerk an Ansehen und Akzeptanz gewonnen hat, aber für die junge Generation nicht attraktiv ist, weil falsch Vorstellungen schwer zu korrigieren sind. Zu wenig Geld, zu viel Arbeit, früh aufstehen… Dabei handelt es sich im Handwerk um sichere Arbeitsplätze und Anerkennung, die sinnbildlich täglich über die Ladentheke geht. Bürokratie – ein Thema auch hier an Ort und Stelle.
Und weil auch Verkaufskräfte so rar sind, wie Auszubildende bieten Heinemanns ihre Backwaren nach Ladenschluss über einen Verkaufsautomaten an, der in die Ladentür eingelassen ist. Ein kundenfreundlicher Service unter diesen Umständen.
Aber die Besonderheit des Geschäfts in der Weimarischen Straße zu Ehringsdorf besteht gerade auch darin, dass es über Kuchen, Stollen, Plätzchen, Brötchen, Weiß- und Dinkelbroten, Torten, Nußecken, Lerchen hinaus nicht zuletzt das unvergleichliche Flair, die persönliche Atmosphäre, den Duft, die Wohltemperiertheit des Bäckerladens bietet. Die Seele heißt bei Heinemanns Frau Heinemann. Sie bedient nicht einfach die Kundschaft, sondern jeden einzelnen Kunden: den Eiligen, den Redseligen, den Wortkargen, den Anspruchsvollen, den Meckerer, den Traurigen, den Heiteren, den Ernährungsbewußten und den Schlemmerfreund. Jeder ein Experte in Sachen Brot- und Konditorkunst. Die Bäckerei ist der letzte Anlaufpunkt für die Bewohner des Ortsteils, der sonst keine weiteren Geschäfte besitzt, dessen Kneipen genauso wie die Brauerei geschlossen sind.
Ich kehre für heute heim. Ein kleines Mischbrot, drei Körnerbrötchen und drei Stück Kuchen in der Tasche. Meine Großmutter fällt mir ein, die stets ein Kreuz über dem frischen Brotlaib schlug und die Tante, die uns mahnte, Brotkrümel in die offene Hand zufegen und sie ins Ofenloch oder zum Küchenfenster hinauszuwerfen, aber nur auf Erde, nicht auf Stein. Wozu es nütze war, spielt keine Rolle. Sie hatten jedenfalls eine tiefe persönliche Beziehung zu ihrem und unserem täglichen Brot.
Und nächste Woche mache ich mich wieder auf den Weg zur kleinen Bäckerei und Konditorei Heinemann, dem kleinen Kosmos am Rande der Stadt, mittendrin in unserer Gesellschaft, gleich um die Ecke.
Der Text erscheint als Teil 2 der Reihe »Mittendrin – literarische Perspektiven auf unsere Gesellschaft«, die der Thüringer Literaturrat e.V. 2025 mit freundlicher Unterstützung der Kulturstiftung des Freistaats Thüringen durchführt.
Der Thüringer Literaturrat dankt der Thüringischen Landeszeitung für den Abdruck der Reihe.
Foto 1: Constantin Bayer / Foto 2: Wolfgang Haak.
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