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Annerose Kirchner
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Wiedergelesen von Annerose Kirchner
»Endlich besaß ich ein Arbeitszimmer, wie es mir vorgestellt und gewünscht hatte. Ein kleines, aus einem Hügel hervorspringendes Quartier«, schreibt Walter Werner (1922 – 1996) zu Beginn seines Buches »Der Traum zu wandern«. Untertitel: »Aus Jahreszeiten und Jahrzehnten«. Der Band erschien 1979 im Mitteldeutschen Verlag Halle, sieben Jahre nach den intensiven Erkundungen der »Grenzlandschaft. Wegstunden im Grabfeld« und nach den wichtigen Gedichtbänden »Das unstete Holz« (1970) und »Worte für Holunder« (1974).
Dieses kleine Sommerhaus, ohne Strom und Wasserleitung, abseits am Hügel im heimischen Untermaßfeld war nicht nur ein Arbeitsort, sondern auch eine zweite Heimat, denn »Ich war hier zu Hause, und die Dinge, in der Fremde wie vom Himmel gefallen, wirkten wie aus der Erde herausgewachsen.« Von hier aus erkundete Walter Werner seine südthüringische Heimat, die Rhön und das Grabfeld, die er so gut wie kaum ein anderer bis in hinterste Winkel kannte. Die dörfliche Abgeschiedenheit weckte stetige Unruhe für manche »Wanderpläne für den nächsten und übernächsten Sommer«. Auf den Touren mit der Bahn, mit dem »Trabi« oder zu Fuß galt der »Gebirgsrucksack mit seinen rostfreien Karabinerhaken, lederschlaufengesicherten Schnallen auf den großen Außentaschen« als wichtigstes Utensil. Wanderziele im Zwiegespräch mit Natur und Landschaft waren die bestimmenden Berge wie die Geba, der Umpfen und der Baier. Und als wichtigsten Begleiter im Geiste wählte sich Walter Werner einen der berühmtesten Fußwanderer: Johann Gottfried Seume brach Ende 1801 von Grimma bei Leipzig auf zur legendären Wanderung nach Syrakus. Sein Erlebnisbericht »Der Spaziergang nach Syrakus« erschien 1803 erstmals als Buch. Walter Werner bewunderte offen Seumes »Gescheitheit« und den »Orientierungssinn«, verzichtete bei seinen Erkundungen aber nicht auf Höhenschichtkarte des Rhöngebirges von 1805 oder einen hundertjährigen »Rhönführer«.
Wieder im Sommerhaus mit seinen »durchsichtigen« Fenstern wird das Erlebte, Geschaute und Entdeckte ausgewertet, werden Spuren gelegt und verfolgt, zu Gleichgesinnten, alten Freunden und Persönlichkeiten, die, wie der Sagen- und Märchensammler Ludwig Bechstein, sich besondere Verdienste um den Landstrich rund um Meiningen erworben haben. Walter Werner erzählt Geschichte und Geschichten vom legendären Rhönpaulus und vom Bauernphilosophen Georg Lörzer. In Aschenhausen stößt er auf die einstige Synagoge und erinnert sich an seine Kindheit auf dem Dorf und die Begegnung mit dem jüdischen Viehhändler Daniel, dem es gelang, nach Amerika auszuwandern. Aus dem alltäglichen Erleben entsteht ein weit gefächertes Panorama einer »Landschaft mit Gedächtnis«, verbindet sich Poesie mit Sprache, ohne Heimattümelei. Beim genauen Lesen entdeckt man, wie stark manche Motive und Themen in der Prosa auch auf die Lyrik und umgekehrt wirkten und reflektiert wurden.
Der Blick aus dem Sommerhaus geht in die weite Welt, erzählt von Reisen in den Süden, nach Bulgarien, Jugoslawien und rückt immer wieder die eigene Biografie in den Fokus: Kindheit auf dem Dorf in einfachen Verhältnissen, Malerlehre, Soldat im Zweiten Weltkrieg, Gefangenschaft, wo Walter Werner versuchte »unter schwierigen Bedingungen« Tagebuch zu schreiben (»Ein grimmiges Diktat des Hungers ist es geworden.«), bis hin zum Neuanfang nach 1945. Die Aufbruchstimmung in der jungen DDR führte ihn schließlich nach Leipzig ans Literaturinstitut mit der Entscheidung als freier Schriftsteller tätig zu werden. »Je tiefer ich aus der Gegenwart in die Dämmerungen und Dunkelheiten der Vergangenheit und in die Kindheit hinabstieg, um so deutlicher empfand ich mein Ich. Auf diese Weise lernte ich auch zwischen provinziellen Ansichten und echtem Heimatgefühl zu unterscheiden«, heißt es in »Der Traum zu wandern«. Als dieses Buch 1979 erschien, waren Rhön und Grabfeld noch Grenzlandschaften. W. W. erlebte diese Teilung und Trennung bewusst und sprach sie auch, mitunter zwischen den Zeilen versteckt, an.
Vom Sommerhaus träumte er sich in alle Himmelsrichtungen. Zehn Jahre später, 1989, wurde aus dem Traum Realität und verwandelten sich Rhön und Grabfeld wieder in das »Land der offenen Fernen«. Diese Veränderungen konnte er noch für ein paar Jahre mit seinem kritischen Blick und seiner oft ironischen Lebensweisheit begleiten.
Wenn man Walter Werner entdecken möchte, gehört »Der Traum zu wandern« zur unbedingten Lektüre.
Anmerkung: Walter Werner arbeitete an der Fortsetzung des Buches »Der Traum zu wandern«. Der autobiographische Roman sollte den Titel tragen »Der Traum zu leben oder Schatten über dem Fluss« und blieb leider ein Fragment.
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