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Volker Müller
»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Heute liegt der Fall für mich sonnenklar: Die Greizer Neustadt mit ihren schnurgeraden Straßenzügen und imposanten Häuserzeilen kündet von vergangener, schon beinahe ans Sagenhafte grenzender wirtschaftlicher Stärke. Es waren vor allem tatkräftige Unternehmer, die sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in der bis dahin brach liegenden, von bewaldeten Hängen eingefassten, Richtung Südwest führenden Elsteraue niederließen. Greiz soll damals, nimmt man die Zahl der Millionäre pro Kopf der Bevölkerung zum Maßstab, die reichste Stadt Deutschlands gewesen sein.
Als ich vor knapp fünfzig Jahren in die Gegend kam, hatte ich davon keinen blassen Schimmer. In der Erweiterten Oberschule »Dr. Theo Neubauer«, die ich von 1966 bis 1970 besuchte, war die Klasse der Besitzenden oft ein Thema. Ihre Vertreter wurden denkbar kritisch beleuchtet, mehr oder weniger für alles Üble in der Welt verantwortlich gemacht. Dass einige ihrer Vertreter tüchtig an der Heimatstadt mitgebaut hatten, erfuhren wir nicht. Aber mit der Erinnerung ist es so eine Sache. Vielleicht habe ich auch nicht richtig zugehört. Es gab Lehrer, denen traue ich im Nachhinein zu, dass sie klug und beherzt genug waren, jedermann – und sei er reich und rücksichtslos – Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Zumindest in Ansätzen und in aller gebotenen Vorsicht.
In die Neustadt geriet ich im Schlepptau eines Mannes, dem vor Ort bis heute ein erstaunliches Angedenken bewahrt wird. Dass Manfred Böhme 1990 als langjähriger fleißiger Stasizuträger entlarvt wurde, hat in Greiz nicht entscheidend an seinem Nimbus als illustrer Feingeist, brillanter Spötter, kecker Aufrührer rütteln können. Wie das sein kann, ist mir ein Rätsel. Man mag alles Mögliche, die schwierige Familiengeschichte etwa, zur Aufhellung des Geschehenen heranziehen – Böhme war ein Lump, wie er im Buche steht. Noch in seinen letzten Tagen fand er Menschen gegenüber, die bereit waren, ihm alles zu verzeihen, zu keinem Wort der Erklärung oder Reue.
1969, als von all dem noch nichts zu ahnen war, folgte ihm eine Reihe junger Leute in die Neustadt, in das Haus Rosa-Luxemburg-Straße 58, wo der Kulturbund residierte. Dort hatte Böhme, der wegen seiner nicht parteikonformen Haltung zur Niederschlagung des Prager Frühlings als Leiter des FDJ-Klubs am Westernhagenplatz abgelöst worden war, wieder Fuß fassen können. Sein Lyrik- und Philosophiezirkel, zu dessen Mitgliedern Günter Ullmann, Klaus Rohleder und Harald Seidel zählten, traf sich fortan im Klub der Intelligenz »Alexander von Humboldt«.
Worüber haben wir uns damals nicht alles den Kopf zerbrochen. Kann es einen idealen dritten Weg zwischen den Systemen geben? Wie kommen wir zu einer Welt ohne Waffen, Armut und Unterdrückung? Wann bricht endlich die Zeit einer grundehrlichen, die Menschheit voran bringenden Kunst an?
Kein Mensch, scheint mir, interessiert sich heute mehr dafür.
Es war ein besonderes Haus, in dem wir aus- und eingingen. Es nahm mich, wenn ich zurückdenke, wenigstens so gefangen wie unsere bewegten Debatten. Als Schüler, noch als Student war ich alles andere als ein Tatsachenmensch. Ich projizierte vieles von dem, was ich gerade las oder anderweitig aufnahm, bedenkenlos in die stocknüchterne Wirklichkeit, die mich umgab. Kam ich auf die Kulturbund-Villa zu, sah die dazugehörige stattliche hölzerne Laube und den von einem schmiedeeisernen Zaun eingefassten Garten, wähnte ich mich leicht in einer Erzählung von E.T.A. Hoffmann, wo sich fast immer, drang jemand unvorsichtigerweise in ein solches formidables Anwesen ein, eine zweite Welt auftat, in der man darauf gefasst sein musste, verwunschenen Prinzessinnen, spindeldürren bösen Räten, wundersamen Zauberschalen und fragilen Diamantenschätzen zu begegnen. Das Innere des Gebäudes wiederum mit dem gediegenen Vestibül, der großzügig bemessenen Garderobe, dem Vortragssaal, dem immer noch unschwer seine Herkunft als gutbürgerlicher Salon anzusehen war, dem heiteren, geräumigen Wintergarten – dieses ganze erlesene Interieur ließ mich an Filme denken, die die DEFA zu der Zeit nach Romanen Hans Falladas drehte, in denen das Leben und Treiben der Reichen und Schönen eine gewisse Rolle spielte. Filme, die heute keiner mehr zustande bringt. Ganz auf die Kraft der Literatur vertrauend, gedacht für Zuschauer mit einem üppig bemessenen Mindestmaß an Bildung.
Nach dem Abitur studierte ich in Erfurt Pädagogik und bewährte mich späterhin mäßig als Lehrer im Kreis Potsdam-Land. Kaum besser wurde es auf den folgenden Stationen als Klarinettist im Greizer Sinfonieorchester und kulturpolitisch-künstlerischer Mitarbeiter im Geraer Bezirkskabinett für Kulturarbeit, weshalb ich schließlich bei der Tanzmusik landete. Nachdem es im Zuge der Ereignisse des Jahres 1989 auch damit ein Ende hatte, fand ich Aufnahme bei der »Thüringenpost«, einem mit weitgespannten Ambitionen ins Leben gerufenen Ableger der Hofer »Frankenpost«.
Als Greizer Redakteur des Blattes erlebte ich Dinge, an die es mir heute manchmal schwerfällt zu glauben. Einmal verschlug es mich auch in die Rosa-Luxemburg-Straße. Ich war seit Jahren, vielleicht Jahrzehnten nicht mehr dort gewesen. Nun war da – den Kulturbund gab es inzwischen in der Vogtlandstadt nicht mehr – Kapal Mehra zu Hause, der Greizer Statthalter der indischen Orkay Group of Industries. Der Körperschaft mit dem gut klingendem Namen und wenig Substanz – im Stammbetrieb sollen ganze 120 Webstühle gestanden haben – hatte die Treuhand die Greika, das einmal knapp 6000 Leute beschäftigende volkseigene Greizer Textilunternehmen, anvertraut. Die lokalen Zeitungen bemühten sich nach der Entscheidung lange um ein Gespräch mit Mehra. An dem Tag war es endlich soweit. Prominente Lokalpolitiker suchten den Mann auf, weshalb auch die Presse vorbeischauen durfte. Der Termin fiel denkbar kurz aus. In dem Salon, in dem einst die für provokante neue Töne bekannte Jazzformation »media nox« aufspielte, Reiner Kunze eine atemlos lauschende Zuhörerschaft in die Geheimnisse des Nachdichtens einweihte, der Dirigent Heinz Biskup mit Inbrunst für Dmitri Schostakowitsch, Béla Bartók und Alban Berg warb, der Berliner Volk- und-Welt Lektor Ralf Schröder unglaublich mutige Bücher aus der Sowjetunion vorstellte – in dem selben, nun trotz der nicht wenigen anwesenden fülligen Herren seltsam kalt und leer scheinenden Raum knisterte es. Jeder halbwegs sensible Geist ahnte: Schweigen ist Gold. Immerhin fragte jemand, wo und wie viel und zu welchem Zweck demnächst in die Greika investiert werde. Die Antwort des Managers war ein überraschtes, nicht unbedingt freundliches Kopfschütteln, dem noch ein brummiges »I need money« folgte. Dazu lachte die versammelte Greizer Politik lauthals und die Audienz war, ohne dass es eines weiteren Wortes bedurft hätte, zu Ende. Mehra kam wenig später, als sich herumsprach, dass er fortgesetzt nächtens Maschinen und Ausrüstungen nach Indien abtransportieren ließ, in Untersuchungshaft. Man ließ ihn binnen kurzem auf Kaution frei, worauf er nicht mehr gesehen wurde.
Ende 1996 schloss die »Thüringenpost« ihre Tore, ich hatte auf einmal viel Zeit und sah mich – das hatte ich mir schon lange vorgenommen – etwas näher in der Geschichte meiner Stadt um. Dabei stieß ich auf erstaunliche Dinge. So fand ich heraus, dass die bewusste Villa in der Greizer Neustadt, die wir seinerzeit so selbstverständlich in Beschlag nahmen, dieses Prachtstück mit sorgsam gefassten Fenstern, schicken Balkonen und dem anmutigen, schlank nach oben strebenden Turm in den Jahren 1887 und 1888 Otto Albert hatte bauen lassen, einer von seinerzeit über 50 in großem Stil produzierenden Greizer Textilfabrikanten. Allein in seinem Werk im Richtung Werdau/Zwickau gelegenen Vorort Aubachtal standen 900 moderne Webstühle. 1945 wurde die Familie enteignet, was nach sich zog, dass der Kulturbund, der helfen sollte, mit allgemeinem Zusammenbruch und geistigem Nazi-Erbe fertig zu werden, in der Villa in der Neustadt Platz fand. Nach 1989 hatten die Alberts wieder Pech. Die Treuhand wollte die Greizer Webereien und Färbereien nicht an einzelne Interessenten zurückgeben. Die Greika sollte als komplettes Ganzes in die Marktwirtschaft entlassen werden. So kam jener Kapal Mehra zum Zuge.
Dem Haus in der Rosa-Luxemburg-Straße geht es inzwischen im Gegensatz zu den meisten früheren Albertschen Werkhallen gut. Martin Beyse und seine Söhne Rico und Mathias, allesamt diplomierte Bauchfachleute, ausgewiesene Statiker und Planer, haben 2000 das Anwesen erworben und hier ihre Büros eingerichtet. Die Beyses genießen einen exzellenten Ruf in der Elsterstadt, haben entscheidend Teil an Bauten wie der 2011 eingeweihten Vogtlandhalle und der neuen, den Greizer Ringern eine würdige Wettkampfstätte bietenden Sporthalle. Rico Beyse sagt, auf die Geschichte seiner jetzigen Wohn- und Arbeitsstätte angesprochen: »Natürlich weiß ich, was früher hier alles stattgefunden hat. Nachdem wir das Haus übernahmen, kamen eine ganze Reihe Leute vorbei, die mal einen Blick hineinwerfen wollten. Alle waren froh, dass hier wieder etwas passiert.«
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