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Jürgen K. Hultenreich / Roland Jahn
Erstdruck: Thüringer Allgemeine, 05.11.2016.
Da sitz ich nun in diesem Stasi-Hauptquartier
vor einer Akte, die, so heißt es, mich enthält.
Er brüllt und fragt: »Wie leben Sie?«, der Offizier,
ich sag: »Ich lebe, auch wie Sie, vom Geld!«
»Nein, nein, wir wissen«, brüllt er, »Sie sind asozial
und Geld in Ihrer Hand ist nicht von Dauer«!
»Man wird hier jedesmal«, sag ich, und bind den Schal,
»wenn man bei Ihnen ist, ein wenig schlauer!«
»Die Schnauze rechts!« brüllt er, »ich brauch Sie im Profil!«
»Ja, bitte«, sag ich, »mein Gesicht ist Euer!«
»Schlag doch noch einmal rein, der ist debil!«
befiehlt der Offizier, »dann wirkt der Hultrich neuer!«
Und als ich rauskam dann, mit meinem Neugesicht,
da war’s die schönste, dunkle, kalte, weiße Nacht.
Ich ging nach Haus, durch Erfurt, langsam, machte Licht
und nahm die Katze in den Arm und hab‹ versehentlich gelacht.
aus: Langsam rückwärts ist eine kräftige Gangart. Gedichte, Basis Verlag, Berlin 1985.
Jürgen K. Hultenreich gelingt etwas ganz Einzigartiges. Vier Passagen kurz, je vier Zeilen lang, legt er in seinem Gedicht etwas frei, über das man ganze Bücher schreiben kann. Mit »Ich erinnere mich« schafft er es, den Kern dessen erlebbar zu machen, was in einem Stasi-Verhör tatsächlich verhandelt wird: Die Substanz eines Menschen.
Wer in die Fänge der Geheimpolizei geriet, musste nämlich keines Verbrechens überführt werden. Er saß dort, weil er sich ein Stück Freiheit genommen hatte, weil er wie Jürgen K. Hultenreich zum Beispiel sein Recht auf Freizügigkeit leben wollte. In der U‑Haft ging es der Stasi darum, den Gefangenen das zu nehmen, was sie stark machte, was sie nach Freiheit verlangen ließ: Ihre Würde. In den immer wiederkehrenden Begegnungen im Verhör sollte der Gefangene zur Aufgabe seiner Persönlichkeit gebracht werden. Er sollte sich endlich der Logik der Stasi und der herrschenden Partei unterwerfen. Und natürlich in dieser Zwangssituation auch die Beweise liefern, die notwendig waren, ein Verfahren vor Gericht »legal« und korrekt aussehen zu lassen. Im Ein-Parteien-Staat DDR galt – in Abwandlung einer Ulbricht-Devise – es auch in politischen Strafverfahren nach Recht und Gesetz aussehen zu lassen. So wurde Unrecht unter den geltenden Gesetzes der DDR und den Gummiparagrafen der politischen Strafjustiz scheinbar rechtlich korrekt zu den Akten genommen.
Mit wenigen verbalen Federstrichen durchläuft man mit Hultenreich die Gefangennahme durch die Stasi und dann den Moment, in dem er aus dem Gefängnis entlassen wird. Die Wunden sind noch frisch, er nennt es ein »Neugesicht«, das ihm die Stasi verpasst hat. Er kehrt in einen Alltag zurück, in dem nichts mehr so erlebbar ist wie zuvor. Und gerade wenn man sich zumindest damit anfreunden will, dass er doch wieder »draußen« ist und damit das Schlimmste vorbei, lässt er dem Leser keine Illusion. Wer aus der Stasi-Haft kommt, hat eine Wunde fürs Leben, »Versehentlich« hat er gelacht. Es ist ein Plädoyer für unseren Respekt und unser Verständnis für jeden, der in die Fänge der Stasi geriet. Oder jeder anderen repressiven Macht, die es gibt.
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