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Goethehäuschen auf dem Kickelhahn
Thema
Johann Wolfgang von Goethe / Paul-Josef Raue
Erstdruck: Thüringer Allgemeine, 22.03.2014.
Über allen Gipfeln Ist Ruh,
In allen Wipfeln Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde
Ruhest du auch.
aus: Goethes Werke, Bd. 1, Stuttgart 1815.
Jeder Mensch hat seine Landschaft. Es ist das Meer oder ein Gipfel, ein Tal im Nebel oder die Wüste in der Nacht: Schaut er dorthin, dann schwingt seine Seele in einem Gleichklang, den er sonst selten vernimmt. Goethes Landschaft waren die Hügel des Thüringer Walds. Des »Wandrers Nachtlied« ist sein Gedicht, sein eigentliches.
Wer Goethes Leben, das wohl reichste Leben, das wir kennen, wer die Land schaft dieses Lebens besichtigen will, wandert von Ilmenau hoch in den Wald, schaut vom fast 900 Meter hohen Kickelhahn über die Gipfel und fühlt diese Ruhe in sich.
Als Goethe das Nachtlied schrieb, war er ein gut bezahlter Manager, der für den Herzog den SilberBergbau wieder pro fitabel machen sollte. Heute fahren Manager zum Golfplatz, um Ruhe zu fin den; Goethe fuhr mit der Kutsche in den Wald – »um der unverbesserlichen Verworrenheit der Menschen auszuweichen«.
Der Wanderer kann heute noch Goethes Route folgen: 31 Jahre jung war des Herzogs Minister, als er in einer Jagdhütte übernachtete und mit einem Bleistift 24 Wörter auf die Bretterwand kritzelte, die zum Erbe der Welt wurden. Heute findet der Wanderer das Gedicht in einem Nachbau der zweistöckigen Hütte, in 16 Sprachen übersetzt.
Die acht kurzen Zeilen haben Goethes Leben begleitet. Den Tod vor Augen hat er sie noch einmal besucht – buchstäblich. Zwei Tage vor seinem 82. Geburtstag, der sein letzter sein sollte, stieg er in Ilmenaus »Gasthaus zum Löwen« ab und ließ sich auf den Kickelhahn fahren, »ergötzte sich an der kostbaren Aussicht auf dem Rondell« und ging zu Fuß durch hoch stehende Heidelbeersträucher noch einmal zu der Jagdhütte.
Der Bergbeamte Johann Christian Mahr begleitete ihn und notierte: »Goethe überlas diese wenigen Verse und Tränen flossen über seine Wangen. Ganz langsam zog er sein schneeweißes Taschentuch aus seinem dunkelbrau nen Tuchrock, trocknete sich die Tränen und sprach in sanftem, wehmütigem Ton: ‚Ja, warte nur balde ruhest du auch!‘, schwieg eine halbe Minute und sah nochmals durch das Fenster in den düstern Fichtenwald.«
Was ist nur alles in dieses Gedicht hinein interpretiert worden! Wie viele Deutschlehrer haben ihre Schüler gequält – und sich geärgert über die Jugend von heute, die nicht das Gedicht unter Tränen gelesen haben! Sie haben die Vokale gezählt und gedeutet, den Rhythmus notiert, jede Zeile geheimnisvoll umnachtet. Der Journalist Wulf Segebrecht nannte diese Deutungen »bedrückende Zeugnisse germanistischen Schwätzens und Versagens«.
Das Nachtlied ist ein schlichtes Gedicht, das selbst Goethe beim Lesen zu Herzen ging. »Die Natur tut nichts umsonst«, schreibt Goethe an Zelter in einem seiner letzten Briefe.
So ist das Nachtlied zuerst ein Natur Gedicht über eine schöne Landschaft, über Goethes Seelenlandschaft. Aber auch, wie immer wenn wir über unsere Seele sprechen, ist es ein Gespräch über unser Leben, die Suche nach dem Frieden in uns und über den Tod, der zum Leben gehört.
Doch wer einen Hauch spürt in allen Wipfeln, der lebt – erst recht in jungen 31 Jahren. Wenn er am Abend die friedliche Landschaft des Thüringer Waldes betrachtet, dann denkt er an den Schlaf und weit entfernt nur an ihn als den Bruder des Todes.
Erst 51 Jahre später, wieder fasziniert vom Frieden der Landschaft, ist der Blick ein anderer: »Warte nur, balde ruhest du auch.«
Goethes Nachtlied ist nicht nur das Gedicht seiner Seele, es ist auch das Gedicht Thüringens – und wenn ein Land eine Seele hat, dann findet hier die thüringische Seele ihren Gleichklang: »Über allen Gipfeln ist Ruh«.
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