Thomas Böhme – »Grünlaken«

Person

Wilhelm Bartsch

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Wilhelm Bartsch

Erstdruck in: Palmbaum 1/2023. Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Wil­helm Bartsch 

Selt­same Irr­fahr­ten im böh­mi­schen Kreis

 

End­lich, dachte ich nach dem Lesen der ers­ten Par­tien von Grün­la­ken, erzählt mir auch mal ein eben­falls ech­ter Leip­zi­ger die rät­sel­volle Welt von Neo Rauch nach, selbst wenn er, wie sich schnell her­aus­stellt, die Struk­tu­ren die­ser ver­ge­hen­den Land­schaf­ten eben­falls nicht ent­rät­seln kann – oder gar nicht ent­rät­seln will! Dann wird Neo Rauchs noch allzu far­bige Welt über­blen­det oder bes­ser über­däm­mert von böh­mi­schen „Staub­dä­mo­nen“ (so Ernst Jün­ger) des gro­ßen Alb­traum­zeich­ners Alfred Kubin. Frei­lich tre­ten diese hier meist in gegen­warts­nä­he­ren und den­noch merk­wür­dig „zeit­los“ wir­ken­den Gewän­dern und Umge­bun­gen auf.

Wohin geht diese nahezu ori­en­tie­rungs­lose Reise, die zugleich eine Flucht ist? Sie geht immer in die ver­lo­rene Rich­tung einer erträum­ten oder viel­leicht auch nur allzu schön erin­ner­ten, in der Wirk­lich­keit jedoch allen­falls längst ero­dier­ten, dann sogar fälsch­lich bom­bar­dier­ten Idylle namens Grünlaken.

Und schon bald ver­nimmt man in die­sem Roman einen Slang der zwan­zi­ger und drei­ßi­ger Jahre wie von Hans Fal­lada oder Erich Käs­t­ner, vor allem aber beginnt es, weil der Held meist in einem Grenz­zo­nen­be­reich umher­irrt, zu „böh­ma­keln“, also Kuchel­deutsch zu reden. Die­ser aus­tro­bo­he­mi­sche Sozio­lekt wird in den trü­ge­ri­schen „böh­mi­schen Dör­fern“ und in kah­len Vor­or­ten zu viel­leicht auch einer Kubin­schen Traum­stadt Perle gespro­chen. (Diese unheim­li­che Stadt Perle ist ja sel­ber der Haupt­held in Kubins Roman Die andere Seite.)

Das alles sind Gegen­den oder „Umge­gen­den“ Wolf­gang Hilbig’scher Art, in die die Haupt­fi­gur des Böh­me­schen Romans ver­schla­gen wird – oder sollte ich bes­ser sagen: sich auf die Art und Weise „der Laus“ sel­ber ver­schlägt? „Die Laus“ – so nannte sich der Stal­ker in Tar­kow­skis gleich­na­mi­gem berühm­ten Film von 1980. Die­ser Stal­ker war einer, der für Geld, aber vor allem aus noch bes­se­ren Grün­den Leute in eine soge­nannte „Zone“ führte: eine Grenz­zone, eine Tabu­zone also, ein rät­sel­vol­les Gelände vol­ler Toter und ver­sin­ken­der selt­sa­mer Rui­nen in ver­wu­chern­den Land­schaf­ten, die augen- und ohren­schein­lich wie­der die Ober­ho­heit über alle Men­schen­zwe­cke gewon­nen haben. Und es gibt dort in der Zone auch einen Ort, der alle Wün­sche erfül­len kön­nen soll. So ein Ort ist für Adrian Gal­lus alias Andreas Hahn – Grün­la­ken. Aller­dings ist allein er der­je­nige, Wil­helm Bartsch über einen neuen Roman von Tho­mas Böhme der zu die­sem Ort – ver­mut­lich einer eher ersehn­ten als wirk­lich dort ver­brach­ten Kind­heit – gelan­gen will; eine Mis­sion wie Tar­kow­skis Stal­ker hat die­ser Hahn schein­bar nicht, dafür jedoch sehn­lichste Wün­sche, wie sie natur­ge­mäß beson­ders die Despe­ra­dos jeder Coleur haben. Tho­mas Böh­mes Held mit sei­nem etwas zen­bud­dhis­ti­schen und zugleich auch Ray­mond Chandler’schen Humor ist im Ertra­gen jed­li­cher Unbill durch­aus auch ein tap­fe­rer Held. Trost und Bestä­ti­gung fin­det er etwa bei den all­an­we­sen­den Bie­nen, die es als Staat zu mehr Frie­den und Erd­ver­bun­den­heit brin­gen als die Men­schen und ihre so fak­ten­spin­ner­ten Ein­rich­tun­gen wie jenes „Insti­tut für Erd­an­ge­le­gen­hei­ten“, an dem Adrian Gal­lus feder­füh­rend und wohl nicht gerade geset­zes­treu mit­ge­wirkt hat und dabei zu fol­gen­der Erkennt­nis gelangte: Wohl nicht die Enkel, aber die Bie­nen fechten’s bes­ser aus.

Seine nicht enden kön­nende Reise nach Grün­la­ken ist zugleich auch eine Flucht vor den Ermitt­lungs­be­hör­den und der anschei­nend ewig sich aufs Glei­che wie­der­ho­len­den Mensch­heits­ge­schichte. Moral ist viel­leicht noch für solch einen Ein­zel­nen wie Adrian Gal­lus und für sein Han­deln ange­bracht; jeder auf andere Men­schen zie­lende Mora­lis­mus aber erscheint ihm eher nur noch als ein Recht­fer­ti­gungsys­tem des Bösen, als das Reich einer Men­schen­welt-Geschichte, die aus ihren kata­stro­pha­len Kreis­läu­fen nicht her­aus­zu­fin­den ver­mag. Tho­mas Böh­mes selt­same Irr­fahr­ten im Kreis mit sei­nem Hel­den Hahn alias Gal­lus sind so etwas wie die Schrau­ben­mut­ter­würfe mit den daran befes­tig­ten Hoff­nungs-Fähn­chen des Stal­kers durch eine sto­ckende und ver­stockte Zeit in eine viel­leicht ja doch Grün­la­ke­ner Rich­tung. Oft aber ist es nur eine „Nacht aus Blei“ wie jene bei Hans Henny Jahnn, durch die sich der Held bewegt. Auch aus Jahnns Ugrino-Kreis borgt er sich Denk- und Hand­lungs­mög­lich­kei­ten aus, aber ein jahn­ni­schnor­di­scher Mensch ist er nicht, son­dern eben eher ein böh­me­scher oder gar böh­mi­scher. Aber auch eine sol­che bohe­mi­sche Lebens­art und selbst die auch hier in die­sem Roman wie­der gefei­erte Hoch­ero­tik mit Jun­gen wie Ruben und Kamel, die den Rand zum Erwach­sen­sein bereits über­schrit­ten haben, rei­chen nicht hin für solch einen Haupt­hel­den wie Adrian Gal­lus, um ein wenigs­tens schein­bar gutes Ende zu nehmen.

Wenn Adri­ans Traum-Ruben seit Kind­heits­ta­gen an die­sem Ende unter die füh­ren­den Macht­ha­ber gelangt ist, so mag er zwar eine neue Zei­ten­wende auf­ru­fen, ver­mag aber nicht Adri­ans ver­geb­li­che Reise nach dem Grün­la­ken sei­ner Seele auf­zu­hal­ten. Die­sem Roman, auf des­sen Plot ich hier gar nicht ein­ge­hen muss, kann man jeden­falls von vorn­her­ein ste­reo­phon zuhö­ren, näm­lich auf dem lin­ken Ohr als meta­po­li­ti­schen Aben­teuer- und Kri­mi­nal­ro­man und auf dem rech­ten als anthro­po­zäne Dys­to­pie einer glo­ba­len Ent­hei­ma­tung, hier vor allem des Erzäh­lers Andreas Hahn alias Adrian Gal­lus, der das Beste im Leben, zum Bei­spiel mit Ruben und Kemal, wohl schon hin­ter sich hat – und es hin­ter sich haben heißt in die­sem Roman ja auch, es in Erin­ne­rung zu behal­ten, es im Her­zen zu bewah­ren, ja die­sen oder jenen (Wunsch)Traum sogar (fast) Wirk­lich­keit wer­den zu lassen.

Aller­dings ist die­ser Erzäh­ler schon sel­ber ziem­lich ero­diert und in Frage gestellt, denn er wird stre­cken­weise sogar frem­derzählt und mani­pu­liert von den jeweils herr­schen­den Kräf­ten und ihren Aus­spä­hern und Schnüff­lern. Selbst wenn er noch ein Homo ludens, ein in Frei­hei­ten Spie­len­der ist, so ist er doch zugleich auch Spiel­ball der „Paten“ (DDRMacht­ha­ber), der „Mero­win­ger“ (Nazis und Rechte) oder dann am Ende der sieg­rei­chen „Karo­lin­ger“ (spät­ro­man­ti­sche Rot-Grüne und andere, zum Teil mili­tante und nicht gerade „linke“ Ökologisten).

Tho­mas Böh­mes Roman ist auch ein Abdruck im Nie­man­dswo, wie sein groß­ar­ti­ger Gedicht­band von 2016 heißt. Wer den zur Hand nimmt, kann den Roman Grün­la­ken mit sei­ner Über­fülle von „Nicht-Orten“ (Marc Augé) damit anrei­chern, auch umge­kehrt läßt sich das da und dort machen.

  • Tho­mas Böhme Grün­la­ken, Roman, poe­ten­la­den Leip­zig 2023.
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