Stefan Petermann – »Rositha Fundele, Galeristin in Sömmerda«

Person

Stefan Petermann

Ort

Sömmerda

Thema

Bruchstellen

Autor

Stefan Petermann

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstdruck (in gekürzter Fassung) in: Thüringische Landeszeitung, 17.01.2024.

Die rote Zuckertüte

Rosi­tha Fun­dele, Gale­ris­tin in Sömmerda

 

Von Ste­fan Petermann

 

Die Zucker­tüte ist rot und steckt in einem Müll­ei­mer. Ver­gan­ge­nen Sams­tag war Schul­ein­füh­rung in Thü­rin­gen. Heute ist Don­ners­tag. Wir rum­peln an der Zucker­tüte vor­bei, wir schauen dar­auf. Da ist etwas, das als schön und wich­tig gegol­ten hat und nun ist es Abfall. Ich weiß nicht, was in der Tüte gewe­sen ist, wer sie bekam, wer sie weg­warf, ob das Schul­kind ahnt, dass sein Geschenk nun im Müll liegt. Ob es damit ein­ver­stan­den ist. Ich sehe nur einen Teil der Geschichte, ihre Spitze, wovon lässt sich erzählen?

Wir rat­tern einen holp­ri­gen Weg in Söm­merda ent­lang: kein Asphalt. Statt­des­sen Erde, Kies, Staub. »Ich fahre hier nor­ma­ler­weise schnel­ler. Wegen Ihnen halte ich mich zurück«, sagt Rosi­tha Fun­dele und lacht. Noch sind wir beim Sie. Zu unse­rer Lin­ken liegt ihr Grund­stück. Eine mehr­heit­lich wilde Wie­sen­flä­che, dar­auf ein ein­stö­cki­ger Bau, Beton, Ste­len. Erin­ne­run­gen ans Bau­haus wer­den wach, nicht zufäl­lig, das Archi­tek­tur­büro, mit dem zusam­men Rosi­tha und ihr Mann Olaf Bartsch das Wohn- und Gale­rie­haus ent­war­fen, kommt aus Wei­mar. Dahin­ter dann das, was Anlass ist die­ses Tex­tes, zumin­dest ört­li­ches Zen­trum davon: das SILO in Söm­merda. Nein, Anlass ist eigent­lich Rosi­tha Fun­dele. Gemein­sam mit ihrem Mann betreibt sie diese Gale­rie. Und noch­mals Nein. Sie betreibt diese Gale­rie nicht. Sie lebt diese Galerie.

Vor­her an die­sem Tag: Ankunft am Bahn­hof Söm­merda. Ein Hal­te­punkt auf einem Hügel. Wir ken­nen uns nicht und doch erkenne ich Rosi­tha sofort; die Brille, die Klei­dung, die Hal­tung, der Blick. Sie ist in Söm­merda nicht zu über­se­hen und wäre es auch anderswo nicht. Rosi­tha ist mit ihrer »Schüs­sel« gekom­men. Im Wagen lie­gen zahl­rei­che Blu­men und noch mehr Pla­kate. Wir stei­gen ein, fah­ren los, viel­leicht zwei­hun­dert Meter. Dann hal­ten wir vor einem Blu­men­la­den. Wir sprin­gen raus, stür­men gewis­ser­ma­ßen in den Laden hin­ein. Drin­nen befin­den sich Inha­be­rin, eine junge Ange­stellte, eine Kun­din. Sie lächeln, als sie Rosi­tha sehen. Rosi­tha umarmt die Kun­din, man kennt sich. Die Kun­din trinkt einen selbst­ge­mach­ten, sump­fig­grü­nen, sehr gesund aus­se­hen­den Gemüse Smoot­hie. Irgend­wie kommt es dazu, dass Rosi­tha gleich dar­auf ein Schluck ange­bo­ten wird. Wahr­schein­lich fragt sie offen­siv danach. Jeden­falls trinkt sie aus dem Gläs­chen und steigt schon wäh­rend­des­sen in ein Gespräch über den Kunst­markt ein. Den Kunst­markt ver­an­stal­tet Rosi­tha jedes Jahr am ers­ten Sep­tem­ber­wo­chen­ende auf dem Gelände der Gale­rie. Händ­le­rin­nen und Händ­ler von über­all her ver­kau­fen Kera­mik, Schmuck, Klei­dung, Kunst­hand­werk­li­ches, Sei­fen aus Zie­gen­milch, dazu spielt Musik. »Ach, ist es schon wie­der soweit«, staunt die Kun­din, »mir ist, als wärs erst ges­tern gewesen.«

Im anschlie­ßen­den Gespräch – eine Mischung aus Small Talk, dem Tei­len von Erin­ne­run­gen, Klä­ren von orga­ni­sa­to­ri­schen Fra­gen, gewis­ser­ma­ßen Geschäft­li­chem – geht es um Stark­strom, um Waf­feln, die beste Ankunfts­zeit, Blu­men­ge­binde. Das, was sie will, flech­tet Rosi­tha bei­läu­fig ein. Sie lacht viel, legt Hände auf Ober­arme, ist zuge­wandt, das Herz­li­che auch ver­bun­den mit dem Ziel, den Kunst­markt zu mana­gen. »Ich schmeck ein Brenn­nes­sel­krü­mel auf der Zunge«, sagt Rosi­tha, »die­ses Aroma füllt mei­nen gan­zen Mund. Herr­lich.« Am Ende ver­teilt sie Flyer, meh­rere an alle, auch Pla­kate, »Du fin­dest sicher einen schö­nen Platz zum Auf­hän­gen.« Die Kun­din nickt zustimmend.

Wir eilen aus dem Laden, stei­gen in die Schüs­sel, Rosi­tha steigt sofort wie­der aus, weil sie zwei ehe­ma­lige Nach­barn ent­deckt hat, denen sie eben­falls Kunst­mark­flyer in die Hand drückt. Die Schüs­sel fährt los, eher lang­sam eine Straße Rich­tung Nor­den Söm­mer­das ent­lang. Ein­mal hal­ten wir, Rosi­tha kur­belt das Fens­ter run­ter, reicht wei­tere Flyer nach drau­ßen zu einer Frau. »Hab ich längst«, sagt die Gehende. »Nimms trotz­dem mit«, sagt Rosi­tha, »Dop­pelt hält bes­ser.« Eine beacht­li­che Ener­gie ist im Spiel, auch weil Rosi­tha wäh­rend all der Aktio­nen erklärt, beschreibt, lacht, plau­dert, abschweift, erzählt. Das sind die ers­ten zehn Minu­ten in Söm­merda. Die ers­ten zehn Minu­ten mit Rosi­tha Fundele.

In der zwölf­ten Minute bie­gen wir ab, kein Asphalt. Der holp­rige Weg endet an einem Tor, das sich nicht per Funk öff­nen lässt. Dahin­ter liegt die Gale­rie SILO, das Gelände der ehe­ma­li­gen Stra­ßen­meis­te­rei, mit Heiz­haus dar­auf, ein DDR-Indus­trie­ob­jekt mit nun 200 Qua­drat­me­ter Aus­stel­lungs­flä­che. Ein lang­ge­zo­ge­ner Nied­rig­bau mit wei­ten Türen beher­bergt die Gale­rie, die unge­putz­ten Flä­chen der Außen­wand gehen naht­los in Zie­gel­stein­rei­hen und Fens­tern über, ein Mosaik von Mate­ria­lien und Zustän­den, das ver­schie­dene Zei­ten in sich trägt. Der Platz davor ist beton­ver­sie­gelt, Pal­men­ge­wächse in aus­la­den­den Stein­scha­len unter­bre­chen das Mono­tone, das von einer Ver­gan­gen­heit der Arbeit und des Prak­ti­schen erzählt. An den Rän­dern wächst Grün, blü­hen blau Blu­men, ste­hen Bäume, die Früchte tra­gen. Hier fin­det in weni­gen Tagen der Kunst­markt statt, hier ist Ort der Kunst in Söm­merda, ein Platz für das Andere.

Gleich nach­dem wir aus­ge­stie­gen sind, spricht Rosi­tha die Zucker­tüte an. Das Bild lässt sie nicht los. »Wie kann man so etwas Schö­nes ein­fach weg­wer­fen? Ich ver­stehe das nicht. Eine Zucker­tüte im Müll!« Wie sie dar­über spricht, wird deut­lich, dass die rote Zucker­tüte ihr mehr ist als ein Ding aus Pappe. Die Zucker­tüte ist Sym­bol, weil sie in der Müll­tonne liegt und das all die Asso­zia­tio­nen bedeu­tet, die das mit sich bringt; die Schul­ein­füh­rung, das Schöne, das acht­lose Tren­nen davon. Und Sym­bol ist, weil Rosi­tha wahr­ge­nom­men hat, was die Aller­meis­ten wohl über­se­hen hät­ten. Rosi­tha aber sah die Zucker­tüte und die­ses Bild stieß etwas in ihr an und wie sie das for­mu­liert, muss das auch für etwas ste­hen, viel­leicht für ihren Blick auf die Welt. Kaum zwan­zig Minu­ten sind seit unse­rer ers­ten Begeg­nung ver­gan­gen und den­noch scheint es so, als ob die­ses Gespräch ein Schlüs­sel ist, zumin­dest ein Wink mit dem Zaun­pfahl, um sie, die ich ja noch gar nicht kenne, anfan­gen kann zu verstehen.

Rosi­tha zeigt mir die Gale­rie, die im Nied­rig­bau behei­ma­tet ist. Frü­her führ­ten Schie­nen hin­ein, heute ist der Boden her­ge­rich­tet. Das eins­tige Heiz­haus ist eben­falls Aus­stel­lungs­flä­che, die rot­ge­stri­che­nen Gelän­der sind wie Aus­ru­fe­zei­chen in einem vor­mals indus­tri­el­len Raum, als woll­ten sie sagen: Kunst kann über­all sein.

Wie spricht man mit einer Gale­ris­tin über Kunst? Bei Rosi­tha geht das von allein. Die Sätze spru­deln aus ihr her­aus, viele davon so prä­gnant und poe­tisch, dass man sie sich rah­men las­sen möchte. Immer wie­der bricht sie ihren Gedan­ken­fluss ab, pau­siert, nimmt den Faden an ande­rer Stelle auf. Es fällt auf, dass sie dem Kon­kre­ten eher aus­weicht und statt­des­sen lie­ber über das Füh­len spricht, den Geist hin­ter allem. Zumin­dest schält sich im Laufe der nächs­ten Stun­den ein unge­fäh­res Bild her­aus, kein tabel­la­ri­scher Lebens­lauf, mehr ein aus­ge­kipp­tes Puz­zle, bei dem erst einige Stü­cke nach oben gedreht sind.

Ihre Mut­ter und ihr Vater – in die­ser Rei­hen­folge, wie sie betont – betrie­ben frü­her als Gas­tro­no­men das Kul­tur­haus in Söm­merda. Ein gro­ßer roter Stern schien damals dar­auf, sie sagt, sie sehe ihn immer noch leuch­ten. Jeden­falls gehörte für Rosi­tha die Anwe­sen­heit von Musi­kern und Künst­lern wie Otto Paetz, das Spre­chen über und das Zei­gen von Kunst wie selbst­ver­ständ­lich zum Leben dazu, auch das Tan­zen und das Bewe­gen auf einer Bühne. Sie ging in den krea­ti­ven Bereich, lernte Damen­maß­schnei­de­rin und über­nahm mit einem Geschäft schon früh­zei­tig Ver­ant­wor­tung. In der Stadt war sie in ver­schie­de­nen Posi­tio­nen ange­stellt, die meis­ten mit Kul­tur ver­bun­den. Doch wie kam es zum SILO, zu einer eige­nen Galerie?

Als Rosi­tha von den Anfän­gen berich­tet, zitiert sie Her­bert Grö­ne­meyer, einen Künst­ler, den sie frü­her gern gehört hat und heute nicht mehr mag. »Ich drehe schon seit Stun­den / Hier so meine Run­den / Ich finde kei­nen Park­platz«, singt sie vor. Und schil­dert dann, wie sie und ihr Mann Olaf bei einer Park­platz­su­che die Frei­flä­che der alten, seit vie­len Jah­ren leer­ste­hen­den Stra­ßen­meis­te­rei Söm­merda ent­deck­ten, wie der Plan ent­stand, das Gelände zu über­neh­men und etwas Eige­nes, etwas Ande­res dort ent­ste­hen zu las­sen. Sie sagt nicht: Das ist unser. Sie sagt: Wir haben eine Paten­schaft über­nom­men. Das Haus hat uns gefun­den. Und beschreibt als große Bruch­stelle den Umbau der Stra­ßen­meis­te­rei zu einem Wohn- und Galeriehaus.

Rosi­tha erklärt, dass sie einen Zugang zur Kunst schaf­fen möchte, das sei auch päd­ago­gi­sche Arbeit. »Kunst ins Leben zu brin­gen, macht das Leben rei­cher. Die Haus­auf­ga­ben müs­sen wir alle sel­ber erle­di­gen, kochen, backen, waschen. Der All­tag frisst die Seele auf. Wenn man in die Gale­rie geht, kann man das alles mal anhal­ten, kann einen Abstand dazu fin­den. Kunst ver­bin­det die rechte und linke Gehirn­hälfte. Kunst ist eine Pro­vo­ka­tion der grauen Zel­len. Es pro­vo­ziert, etwas Neues zu sehen.« Sie erzählt von Berüh­rungs­angst, die viele vor Kunst haben. »Diese Unsi­cher­hei­ten tra­gen wir alle in uns. Auch ich. Ich bin nicht in allem hei­misch. Aber ich sag das dann auch. Ich bin offen dafür. Man tut mir doch nichts, wenn ich etwas nicht weiß. Muss denn immer jeder alles kennen?«

Am Anfang jeder Aus­stel­lung steht ein Gedanke. So genau kann Rosi­tha nicht beschrei­ben, wie sie zum »roten Faden« fin­det. Der Titel? »Klar, der Name muss locken.« Sie zählt einige ihrer Aus­stel­lun­gen auf, Unter dem Som­mer, 740°, Das Blau vom Him­mel und Schwe­bend unterm Apfel­baum. »Ich habe sehr gern Titel, die den Men­schen die Mög­lich­keit geben, eine Dop­pel­sin­nig­keit zu ent­de­cken. Sie sol­len suchen, ja, wo ist denn der Apfel­baum? Guckt doch, ob Ihr den fin­det. Es gab den Baum nicht. Das ist doch groß­ar­tig, oder?«

Die Künst­le­rin­nen und Künst­ler ihrer Aus­stel­lun­gen kom­men zum Teil von weit her nach Söm­merda. Sie gestal­ten mit Male­rei, Bil­den­der Kunst, Foto­gra­fie, Holz­schnitt, Schmuck, Kera­mik. »Das Unklare ist schon span­nend. Das Schönste für mich ist, wenn ich die Bil­der und Objekte sehe, wenn ich das Werk bei mir habe, die Ener­gie und Kraft spüre und ich darin ein­tau­chen kann. Das ist ein ech­tes Geschenk.«

Ein­mal im Jahr fin­det eine große Aus­stel­lung statt. Fünf Wochen dau­ert diese meis­tens. Davor ste­hen zwei Wochen Auf­bau, danach der Abbau. »Da ist kein Wochen­ende frei. In die­ser Zeit bin ich mit der Gale­rie ver­schwo­ren. Die ist ein Stück von mir«, sagt Rosi­tha. Die Aus­stel­lung wird von ver­schie­de­nen Ver­an­stal­tun­gen beglei­tet, das sei, so sagt sie, das kleine Geheim­nis in der Pro­vinz, immer was los machen, Live­mu­sik bis ultimo, Finis­sage mit Lesung, Son­nen­wend­fest. »Du musst hier wirk­lich los­le­gen. Klap­pern gehört dazu.«

Zur Gale­rie gehört auch ein Café mit Ver­an­stal­tungs­raum. »Es ist gemüt­lich hier, auch ein biss­chen rus­sisch«, sagt Rosi­tha. Eine Bar befin­det sich an einer lan­gen Wand, an der das haus­ei­gene SILO-Bier aus­ge­schenkt wird. Stamm­gäste haben ihre fes­ten Plätze auf den Sofas und Ses­seln. Alte Schau­fens­ter­pup­pen ste­hen dazwi­schen, Schränke, nied­rige Glas­ti­sche. Auf der Bühne wird manch­mal Thea­ter gespielt, einen Heine-Abend gab es schon. »Denk ich an Deutsch­land in der Nacht…«, zitiert Rosi­tha und lässt den Drei­punkt bedeu­tungs­schwer in der Luft ste­hen. Sie hat ihre Damen, die beim Tre­sen hel­fen. Manch­mal schauen auch tags­über ältere Men­schen vor­bei, Allein­ste­hende. »Die sagen oft: Wir kön­nen zu dir kom­men, da sind wir nie allein.«

Sie schlägt ein dickes, grau­me­lier­tes, hand­ge­mach­tes Buch auf. Darin ist jede Aus­stel­lung mit Fotos und Zei­tungs­aus­schnit­ten doku­men­tiert. Das Gale­rie­l­e­ben der letz­ten Dekade hat Rosi­tha akri­bisch ver­ewigt. Ein paar Sei­ten sind noch frei. Rosi­tha hat über­legt, ob sie bei ihrer Buch­ge­stal­te­rin ein neues Buch in Auf­trag geben soll. Willst du noch so weit gehen, hat sie sich gefragt und erzählt, dass sie bis­her in ihrem Leben etwa alle zehn Jahre etwas Neues gemacht habe. Als wir spä­ter in ihr Wohn­haus gehen, zeigt sie einige der Gemälde, an denen sie arbei­tet. In den Abend­stun­den, noch lie­ber in der Nacht, sitzt sie daran.

Nach dem Rund­gang durch ihr Ate­lier spa­zie­ren wir über das Gelände. Rosi­tha greift nach der Zitro­nen­me­lisse, streicht mit geüb­tem Griff die fei­nen Blät­ter gegen den Strich, um ihnen so einen Duft zu ent­lo­cken, ihn zu inten­si­vie­ren, riecht daran und reicht mir die selbst­ge­zo­gene Pflanze. Ich nehme sie, schnup­pere wie Rosi­tha daran, nehme ver­mut­lich etwas ähn­li­ches wie sie wahr; zitro­nig, frisch, stark. Ich könne die Melisse mit­neh­men, sagt Rosi­tha. Es ist ein hei­ßer Tag und das Blatt wird ver­dorrt sein bei mei­ner Ankunft in Wei­mar, der Duft ver­schwun­den, bes­ten­falls eine schwa­che Ahnung von dem, was ich gerade ein­at­mete. Vom Pfir­sich­baum pflü­cke ich auf ihre Inter­ven­tion hin meh­rere Früchte. Sie haben die dop­pelte Größe von denen im Supermarkt.

Mir kommt in den Sinn, dass die­ser Ort, das Heiz­haus im Beson­de­ren ein wei­te­res Gleich­nis dar­stel­len könnte. Das Heiz­haus ver­sorgte die alte Stra­ßen­meis­te­rei mit Wärme. Sie war Ener­gie­zen­trum. Und so wie das Heiz­haus ist Rosi­tha ein sol­ches, ist sie Ener­gie­zen­trum. Sie ist die Ener­gie, wel­che die Gale­rie mit Wärme ver­sorgt, die­ses Gebiet, die Men­schen, die sie zusam­men­führt, die Künst­le­rin­nen und Künst­ler, die sie nach Söm­merda bringt, ist Ener­gie­zen­trum für die­ses Söm­merda. Sie ist Ener­gie. Viel­leicht stimmt das Gleich­nis auch nicht oder geht anders, zum Bei­spiel so, dass die Gale­rie etwas ist, aus dem Rosi­tha Ener­gie schöpft. Oder das Heiz­haus ist ein­fach nur Name für einen Ort, der sich wan­delt und in die­sem Jahr­zehnt eben eine Gale­rie beher­bergt. Aber die Gale­rie ist da, seit zehn Jah­ren das SILO und so viele Men­schen haben hier Kunst gese­hen und dar­über gespro­chen, so viele Stun­den, die gescha­hen, weil Rosi­tha für die­sen Ort die Paten­schaft übernahm.

Im Vor­feld habe ich sie gebe­ten, mit mir an einen Platz in der Stadt zu gehen, der ihr neben der Gale­rie noch wich­tig ist. Wir fah­ren zum Frei­bad und ste­hen auf der über­dach­ten Stadt­park­brü­cke, die sich über die Unstrut spannt. Hier am Ufer war sie als Kind und Jugend­li­che oft. Sie zeigt auf den Fluss und ich sehe die Stru­del, die das Flie­ßen des Was­sers zu einer unbe­re­chen­ba­ren Ange­le­gen­heit machen. Man weiß nie, wo Untie­fen lau­ern. Anschlie­ßend gehen wir zum Ita­lie­ner. Dort wech­selt das Thema. Über Poli­tik spricht es sich anders als über Kunst, gerade in die­sen Tagen, in denen die Bewer­tung der Welt sehr unter­schied­lich aus­fal­len kann. Wir tei­len uns eine Pizza, Rosi­tha wählt die Basis­zu­ta­ten, ich addiere Pilze dazu.

Anschlie­ßend lau­fen wir die Innen­stadt Söm­mer­das ent­lang. Rosi­tha wird mehr­fach erkannt. Wir tref­fen auf ein älte­res Paar, das noch extra­va­gan­ter als sie aus­sieht; Cow­boy­hut, Feder­boa, so, als wäre die Ein­kaufs­straße von Söm­merda ein Lauf­steg, ein Ort, an dem man sich prä­sen­tiert. Hän­de­schüt­teln, dann gleich wei­te­rei­len, wir müs­sen zum Bahn­hof. Das Paar scheint ent­täuscht, dass Rosi­tha ihnen gerade nicht mehr Auf­merk­sam­keit schen­ken kann. Sie erzählt, dass es auf dem Kunst­markt manch­mal ähn­lich ist. »Dort ken­nen mich acht­zig Pro­zent der Leute. Das kann auch anstren­gend sein, gerade, wenn ich jeman­den mal nicht so rich­tig beach­ten kann. Dann heißt es schnell: Die ist ein­ge­bil­det. Aber für mich ist das auch anstren­gend, selbst wenn man mir das nicht immer ansieht. Zum Schluss des Kunst­markts bin ich immer ganz heiser.«

Als wir in der Schüs­sel Rich­tung Bahn­hof unter­wegs sind, schnei­det uns ein Trans­por­ter. Sein Lack ist armee­grün, die Heck­scheibe ist mit Frak­tur­schrift gefüllt. Die Sonne scheint, der Him­mel ist blau, nicht wenige Men­schen sind auf die­ser Allee unter­wegs. Am Hal­te­punkt sit­zen auf den Trep­pen­stu­fen Jugend­li­che und rau­chen ent­spannt. Der Zug Rich­tung Erfurt ist schon ein­ge­fah­ren. Er war­tet auf Bahn­steig 2. Wir ver­ab­schie­den uns von­ein­an­der und set­zen nach der Ver­ab­schie­dung unser Gespräch fort. Die Türen der Regio­nal­bahn schlie­ßen sich. Ich drü­cke von außen auf den Öff­nungs­knopf, um die Abfahrt zu ver­hin­dern, damit wir wei­ter­spre­chen kön­nen. So geht das einige Minu­ten; schlie­ßen, drü­cken, öff­nen. Dann steige ich ein. Drü­cke, öffne wie­der, um reden zu kön­nen, so lange, bis die Tür geschlos­sen bleibt. Der Zug war­tet wei­ter. Wir kom­mu­ni­zie­ren durch die Fens­ter­schei­ben hin­durch: zucken die Schul­tern, tip­pen auf Hand­ge­lenke, heben Augen­brauen. Rosi­tha bleibt, bis der Abel­lio end­gül­tig abfährt. Sie winkt mir nach. In zwan­zig Minu­ten werde ich in Erfurt sein, ich werde die Flyer ver­tei­len, das Pla­kat abge­ben, an der Zitro­nen­me­lisse werde ich rie­chen, in die rei­fen Pfir­si­che bei­ßen und lange über­le­gen, auf wel­che Weise ich die­ses Por­trät for­mu­lie­ren kann. Viel­leicht, denke ich, beginne ich mit der roten Zucker­tüte im Müll, vom Schauen, vom Suchen, vom Doppelsinn.

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