Sigrid Damm – »Wandern – ein stiller Rausch«

Personen

Sigrid Damm

Ulrich Kaufmann

Ort

Gotha

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Ulrich Kaufmann

Erstdruck in: Palmbaum 1/2021. Alle Rechte beim Autor. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Ulrich Kauf­mann

Eine Wan­de­rin

 

Im Vor­feld des 80. Geburts­ta­ges der im thü­rin­gi­schen Gotha gebo­re­nen Erzäh­le­rin Sig­rid Damm erschien der Band Wan­dern – ein stil­ler Rausch. Zum Jubi­läum hat sich die Autorin noch ein grö­ße­res, schwer erar­bei­te­tes Buch geschenkt: Wie­der ist es ein Werk über Goe­the. In dem Dop­pel­por­trät Wech­sel­fälle einer Freund­schaft erkun­det die Erzäh­le­rin Goe­thes Ver­hält­nis zu sei­nem »Dienst­her­ren« Carl August.

Der Text vom Wan­dern basiert auf dem vor acht­zehn Jah­ren publi­zier­ten Band Tage- und Näch­te­bü­cher aus Lapp­land. Dies war ein Pracht­band, »ein Traum von einem Buch«, wie es ein Kri­ti­ker sei­ner­zeit for­mu­lierte. Sig­rid Damm hatte den Text geschrie­ben und der viel­sei­tig begabte Sohn Joa­chim (Hams­ter) Damm schuf damals wun­der­volle Col­la­gen. Durch seine Buch­ge­stal­tung ent­stand ein gemein­sa­mes Gesamt­kunst­werk. Dabei darf nicht ver­ges­sen wer­den, dass es Hams­ters jün­ge­rer Bru­der Tobias war, der den Text setzte und die Bil­der repro­du­zierte. Hams­ter Damms far­bige Col­la­gen waren so wir­kungs­mäch­tig, dass der fol­ge­rich­tig »zer­ris­sene« Text der Mut­ter ­ ­– ins­be­son­dere auf hel­le­ren Blät­tern – etwas in den Hin­ter­grund geriet. Autorin und Ver­lag woll­ten mit zeit­li­chem Abstand ergrün­den, wie das Pro­sa­stück für sich wirkt.

Der Text ist aus dop­pel­ter Per­spek­tive erzählt – aus der Sicht einer rei­fen Frau und eines halb so alten Man­nes. Aus dem »Sie« und dem »Er« der Erst­aus­gabe von 2002 wur­den nun die »Wan­de­rin« und der »Wan­de­rer«. Damals konnte man ver­mu­ten, dass hier zwei Schrei­bende am Werk gewe­sen wären. Nun erfährt der Leser – im ange­füg­ten »Dank« – , dass tat­säch­lich Erin­ne­run­gen und Tage­buch­auf­zeich­nun­gen der Söhne für die Erzäh­le­rin Sig­rid Damm eine stoff­li­che Grund­lage waren. Das Cover von Hans J. Wie­de­mann »zitiert« ein Foto Hams­ter Damms aus dem ers­ten Lapp­land-Buch: Einen im Was­ser gespie­gel­ten son­ni­gen Herbst­wald. Diese Spie­ge­lung könnte für die Dopp­lung der sie­ben­tä­gi­gen Wan­de­run­gen ste­hen. Beide, Mut­ter und Sohn, gehen den glei­chen Weg – zu unter­schied­li­chen Zei­ten. Oft bezie­hen sich die Erzäh­lun­gen der Wan­de­rin und des Wan­de­rers aufeinander.

Sig­rid Damms ruhi­ges Buch ist ein Gegen­ent­wurf zur hek­tisch-schnell­le­bi­gen Welt der Groß­städte. Erkun­det wird die Schön­heit der sami­schen Land­schaft: die der Berge, Flüsse, Tiere, vor allem die der Men­schen. Das harte Leben der Urein­woh­ner, der Fischer und Ren­tier­züch­ter, wird nicht nur aus der Distanz gese­hen. Nein, Damm gelingt es, sehr per­sön­li­che Por­träts zu zeich­nen. Die Wan­de­rin und der Wan­de­rer wer­den in Hüt­ten ein­ge­la­den, kom­men mit den Ein­hei­mi­schen ins Gespräch.

Auf den ers­ten Blick glaubt man, eine Idylle zu lesen. Die Erzäh­le­rin kann jedoch auch im nord­schwe­di­schen Land der Samen die ver­hee­ren­den Fol­gen der welt­wei­ten Umwelt­zer­stö­rung nicht aus­blen­den. Zu Beginn der Schil­de­rung des vier­ten Tages erschrickt der Leser: »Allein wan­dern. Allein sein. An die­sem Tag des wie­der­hol­ten Schwei­gens bin ich so allein, daß ich mit einem Mal die gesamte Erde zu sehen meine.

Kleine blei­che Tele­gramme von der Welt fal­len auf mich. Ich sehe Eis­bä­ren, die Lei­ber vol­ler Umwelt­gifte, so daß ihre Fort­pflan­zung gestört ist, Kada­ver von Pot­wa­len, deren Schad­stoff­werte die von Klär­schlamm über­schrei­ten. Eis­mö­wen, die an einem Kon­zen­trat von chlor- und brom­ar­ti­gen Sub­stan­zen ver­en­den. Ich sehe die Kin­der der Eski­mos, die Babys, die mit der dioxin­be­las­ten Mut­ter­milch täg­lich zwan­zig­mal mehr Poly­chlo­rierte Biphe­nyle ein­sau­gen als die Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­tion für tole­rier­bar hält…« Noch erschre­cken­der ist, dass die Schrift­stel­le­rin dies bereits 2002 zu Papier gebracht hatte …

Wäh­rend der Wan­de­rer meist über aktu­elle Pro­jekte und Zukünf­ti­ges nach­denkt, blickt die Ältere zuneh­mend zurück. Ihre Wan­de­rung durch die archai­sche Land­schaft Lapp­lands fließt mit der gedank­li­chen Wan­de­rung durch ihr Leben zusam­men. »Ich werde noch eine kleine Weile sit­zen blei­ben und dann mei­nen Weg fort­set­zen; es wird die letzte Weg­stre­cke sein.« (S. 175) Mit die­sen Wor­ten tritt die Wan­de­rin aus der Erzäh­lung. Die luf­tige Set­zung des Tex­tes und die Wahl einer ande­ren Schrift machen es mög­lich, die sich anschlie­ßende Rei­hung dreier Zitate (von Franz Füh­mann, Frie­dens­reich Hun­dert­was­ser und Rein­hard Lettau) im Taschen­buch deut­li­cher her­vor­zu­he­ben. In der Zit­at­mon­tage geht es drei­mal um den Tod. So wird eine Ver­bin­dung zwi­schen dem Ver­schwin­den der Erzäh­le­rin aus dem Text und dem Lebens­ende hergestellt.

 

  • Sig­rid Damm – Wan­dern – ein stil­ler Rausch. Suhr­kamp Insel, Ber­lin 2020, 190 S., 12 Euro.
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