Sibylle Berg – ›RCE

Thema

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Autor

Jens-F. Dwars

Erstdruck in: Palmbaum, Heft 2/2022, S. 171 f. Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Jens‑F. Dwars

Die digi­tale Revo­lu­tion. Zum neuen Roman von Sibylle Berg

 

In Palm­baum 1/2021 habe ich Sibylle Bergs Roman GRM (2019) und den Inter­view-Band Zah­len sind Waf­fen (2021) mit ihr und Diet­mar Dath bespro­chen. Letz­te­rer monierte damals, dass die Linke seit Jahr­zehn­ten die Tech­nik eher ver­damme, statt sie auf Eman­zi­pa­ti­ons­po­ten­tiale zu befra­gen. »Links-Sein«, sagte er, heiße nicht gegen alle mög­li­chen Dro­hun­gen auf­zu­be­geh­ren, son­dern nichts über sich ent­schei­den zu lassen.

Zwei Jahre spä­ter ant­wor­tet der neue Roman der Autorin RCE genau dar­auf. Auf den ers­ten Blick scheint er den Vor­gän­ger­band fort­zu­set­zen. Doch tre­ten die fünf Jugend­li­chen, die in GRM beschlos­sen hat­ten, sich an ihren Pei­ni­gern zu rächen, nur noch als Neben­fi­gu­ren auf, wäh­rend die Nerds, bei denen sie einst unter­ka­men, nun im Mit­tel­punkt ste­hen. Die hat­ten sich bereits damals in die Netz­werke von Regie­rung und Geheim­diens­ten ein­ge­hackt, um die per­ma­nente Kon­trolle aller sicht­bar zu machen: Auf den gro­ßen Wer­be­bild­schir­men in Lon­dons City erschie­nen plötz­lich die Life-Bil­der der Über­wa­chungs­ka­me­ras, ver­se­hen mit den Per­so­nal­da­ten, die einem und einer jeden zuge­ord­net wur­den. Doch statt den erwar­te­ten Auf­stand damit aus­zu­lö­sen, waren die Leute halb stolz, sich auf den Bild­schir­men zu erken­nen, halb neu­gie­rig, geheime Infor­ma­tio­nen über ihren Nach­bar zu erfahren.

Auch der neue Roman setzt in Lon­don ein, »irgend­wann / spä­ter«, in einer »zu kal­ten Woh­nung. Na ja, Woh­nung«. Wir sehen: Auch RCE spielt nicht in einer fer­nen Zukunft, viel­mehr in einer nur leicht über­zeich­ne­ten Gegen­wart. Die Ver­hält­nisse haben sich zuge­spitzt, die Wider­sprü­che zwi­schen absur­dem Reich­tum und Armut, zwi­schen Woh­nen und Hau­sen, Leben und Vege­tie­ren lie­gen offen zutage, bewe­gen aber nie­man­den, weil a) die sach­li­chen Abhän­gig­kei­ten des Über­le­bens zur Anpas­sung zwin­gen und b) die ebenso per­fekt ange­pass­ten Medien rund um die Uhr das Lied von der bes­ten aller mög­li­chen Wel­ten sin­gen und man ihnen gern glau­ben möchte. Denn hin­ter allem steht das Druck­mit­tel der öko­lo­gi­schen Bedro­hung: »bei der Ret­tung des Pla­ne­ten müs­sen wir alle zusam­men­hal­ten. / Soli­da­risch sein.« Freu­dig Ver­zicht leis­ten, Fahr­rad fah­ren, sich fit machen, um das Gesund­heits­sys­tem zu scho­nen. Wir ken­nen die Melo­die bereits …

Aber dann setzt eine uner­war­tete Zeit­rech­nung ein: »2 Jahre und 7 Monate vor dem Ereig­nis« – wie im Zeit­raf­fer, mit einer rück­wärts lau­fen­den Stopp­uhr, wird, wie es im Klap­pen­text heißt, vom »letz­ten Ver­such« berich­tet, »das Aus­ster­ben zu ver­hin­dern«. Genauer gesagt von der minu­tiö­sen Vor­be­rei­tung einer Revo­lu­tion, wie sie Lenin nicht hätte bes­ser pla­nen kön­nen: Die Nerds, die Com­pu­ter­freaks, keh­ren die Waf­fen der Macht wider die Herrr­schen­den, indem sie sich deren fort­ge­schrit­tenste Tech­nik aneig­nen: die Digi­ta­li­sie­rung, mit deren Hilfe eine kleine Möch­te­gern-Elite von Mil­li­ar­dä­ren die öko­no­mi­sche Aus­beu­tung der Res­sour­cen opti­miert, die Mas­sen kon­trol­liert und sie medial dis­zi­pli­niert. Die Nerds grün­den unter dem Logo RCE (= Remo­te­Code­Exe­cu­tion = Angriff durch fern­ge­steu­erte Befehle in einem Ziel­sys­tem) eine kos­ten­los ver­teilte Zei­tung, gewin­nen halb durch Über­zeu­gung, halb durch Erpres­sung Pro­mi­nente, die mit Ent­hül­lun­gen und Fake News die Mas­sen anhei­zen, sie nut­zen die »Mas­sen­ab­len­kungs­waffe Twit­ter«, um Videos zu ver­brei­ten, spren­gen zuletzt die Bör­sen des glo­bal ver­floch­te­nen Kapi­tals und las­sen die alten Lan­des­wäh­run­gen neu dru­cken, um von vorn zu begin­nen, mit einer gerech­ten Wirt­schafts­ord­nung, die jedem ein selbst­be­stimm­tes Leben in aus­kömm­li­cher Arbeit und mit bezahl­ba­rem Wohn­raum ermög­licht. Um das alles zu finan­zie­ren haben sie zuvor unre­gel­mä­ßig kleine, lange unbe­merkt geblie­bene Beträge von den Kon­ten der Mil­li­ar­däre umge­bucht, die sich schnell zu Mil­lio­nen summierten.

Das ein­zige Pro­blem: wie bei Lenin ist auch in die­ser Revo­lu­tion das Volk mehr Objekt als Sub­jekt sei­ner Befrei­ung. Weil es die Ver­hält­nisse nicht selbst durch­schaut, muss es zur Wahr­heit medial ver­führt wer­den. Frei­lich wach­sen die Mas­sen oder viel­mehr die aktiv Betei­lig­ten wäh­rend des Auf­ruhrs über sich hin­aus: groß­her­zig ver­la­chen sie die einst Herr­schen­den und ver­prü­geln höchs­ten deren Büt­tel, wenn die mit Waf­fen­ge­walt dro­hen, doch sie selbst blei­ben fried­lich, genie­ßen den Auf­stand als ein Sich­auf­rich­ten aus lan­ger Ernied­ri­gung. Tat­säch­lich waren und sind alle Revo­lu­tio­nen in ihren Anfän­gen Fei­er­tage. Aber am Mon­tag schreit das Volk nach Brot und wenn der Hun­ger nicht gestillt wird, stopft man die Mäu­ler mit Blut, wird wie­der Ord­nung geschaf­fen, mit einem neuen Oben und Unten …

»Fort­set­zung folgt« heißt es am Ende von RCE. Man darf gespannt sein.

 

  • Sibylle Berg. RCE. Roman, Kie­pen­heuer & Witsch Köln 2022, 704 S., 26 EUR.
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