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Sergej Lochthofen
Reihe »Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Die Stille wurde unerträglich.
Der innere Zustand im Kopf und der äußere im Zimmer hatten sich angeglichen.
Ich starrte seit einer halben Stunde auf den Bildschirm und konnte mich nicht entschließen, auch nur einen Buchstaben zu setzen. Auf ein weißes Blatt Papier hätte man wenigstens etwas kritzeln können. Das ging hier nicht. Ein Computer hat ganz offensichtlich auch seine schwachen Seiten, sehr schwache.
»Zu welchem Teufel?…« Diese etwas aus der Zeit gefallene Art, sich zu empören, habe ich offenbar von meinem Vater geerbt, aber das half mir jetzt auch nicht mehr: Ich sollte tatsächlich zugesagt haben, einen Text zu liefern? Und dann noch zu diesem Thema? Unmöglich.
Der letzte Dichter an diesem Ort war meines Erachtens am 22. März 1832 von uns gegangen. Danach mühten sich viele, aber nur den Wenigsten war es vergönnt – so meine innere Überzeugung – sich mit Recht, Dichter nennen zu dürfen. Und schon gar nicht traf das auf mich zu. Ein Kurzschreiber, der sich durch einen Zufall des Lebens, ein Stolpern, ein Ausrutschen – oder war es gar schon ein Straucheln? – in die Gefilde der Langtexter verirrt hatte. Alles, was zwischen zwei Pappdeckeln klemmte und viele Seiten hatte, flößte mir Ehrfurcht ein, seit ich als Neunjähriger die »Schatzinsel« verschlungen hatte. Nun also erwartete man von mir, dass ich dichtete…
Jedenfalls hatte ich schon den ganzen Vormittag an einem Absatz gesessen, das heißt an drei mageren Sätzen gefeilt, jedes zweite geschrieben Wort wieder verworfen, ein neues gesucht und das gleich wieder gelöscht.
Es gab diese lichten Momente des Daseins, wenn der Text aus einem sprudelte wie ein übervoller Frühlingsbach nach der Schneeschmelze im März. Leicht, fröhlich, ungestüm. Fast singend. Das war so ein Moment nicht. Die Sätze quälten sich schwerfällig über die Zeilen wie der Grundschlamm in einem abgelassenen Teich der Abflussrinne entgegen.
Doch dann, plötzlich, hörte ich ein leises Kratzen.
Wie mit einem kleinen Nagel über ein Stück Glas.
Mein Blick ging sofort durch die offene Tür in den Wintergarten. Aber da war nichts. Nur der Wind verwirbelte ein paar welke Blätter des Ahorns, der kahl und starr hinter dem Fenster steht, auf dem gläsernen Vordach. Sollte ich mich doch verhört haben?
Erneut kehrte Stille ein.
Ich wollte mich schon wieder in meine tristen Gedanken vertiefen, da spürte ich einen Blick auf mir. Also doch. Ich hatte mich nicht getäuscht. Es war Clara. Aus der Ecke des Glasdachs, dort, wo sich der Blauregen zwischen Hauswand und Wintergarten festgekrallt hatte, schaute mich ein ernst dreinblickendes, abgrundtiefes, schwarzes Auge an. Von Katzen und Hunden, mit denen ich aufgewachsen war, wusste ich, dass sie je nach Laune und innerem Zustand lachend, traurig oder neugierig dreinschauen können. Clares Blick verriet nichts. Sie war einfach über derlei vordergründiges, ja aus ihrer Sicht gewiss, anbiederndes Verhalten der Mit-Tiere erhaben.
Es gab keinen Zweifel, sie blickte tiefer. Offenbar in Regionen unser selbst, von deren Existenz wir nur ahnen können.
Jetzt kam sie, mich aus meiner Pein zu befreien. Ein schwarzer Engel mit pechschwarzem Gefieder, das in der Sonne bisweilen wie dunkles Perlmutt schimmerte.
Sie ließ vorsichtig den dicken Ast der Kletterpflanze los und landete etwas linkisch, die beiden Flügel kurz aufklappend auf dem Glasdach. Dabei beobachtet zu werden, mochte sie nicht. In der Regel waren ihre Flugkünste ja auch äußerst beeindrucken. Heute nicht so. Natürlich verstand ich, dass sich der Untergrund für einen eleganten Auftritt denkbar ungünstig gestaltete. Ihre Krallen kratzten erneut über das Glas. Es war eindeutig, sie kam, um mir zu helfen. Und wohl auch ein wenig aus Eigennutz. Denn ich hatte ihr heute noch nichts gebracht.
Unser Verhältnis war in letzter Zeit nicht ungetrübt. Ein Corvus corone corone soll bisweilen über hundert Jahre alt werden. Ob Clara noch jung war oder bereits ihr Nest in der Kiefer gebaut hatte, als weder die Häuser, noch die Kirche, noch der Park die Landschaft jenseits der Stadtmauer prägten, sondern die Flussaue, wer weiß das schon? Manchmal tat sie jedoch genau so, als hätte sie alles schon gesehen: die Pickelhauben und die Braunhemden, die Sowjetsterne und den langen Zug der Menschen, in den Händen die Kerzen…
Und außerdem, nicht ich habe sie mir gezogen, sondern sie mich. Nur ganz am Anfang unserer Bekanntschaft konnte ich so töricht sein zu glauben, ich wäre frei in meiner Entscheidung. Heute lächle ich nur über so viel Einfalt.
Eigentlich ist Äsop an allem Schuld. Schon als Kind fragte ich mich, woher so ein Rabe ein Stück herrlichen Käse haben konnte? Und kann er wirklich so dumm gewesen sein, den wunderbaren Bissen dem Fuchs zu überlassen?
Heute weiß ich mehr. Auch unser Verhältnis gründet sich auf einem Stück Käse. Ganz klassisch. Wie in der Fabel. Nur, dass ich es gebracht und nicht gestohlen hatte. Er war übrig geblieben von einem herrlichen nächtlichen Gelage im Garten, mit viel Rotwein und Freunden. Lag unter der Glasglocke im kühlen Keller und ward vergessen. Als ich mich wieder daran erinnerte, machte der vorzügliche »Tomme de Savoie« einen recht zerlaufenen Eindruck. Essen ging nicht mehr. Aber einfach wegwerfen auch nicht. So nahm ich das Stück französische Bauernkunst und schritt damit in den Park wo, von meinem Schreibtisch gut sichtbar, eine prächtige, alte Kastanie steht. Die es als einzige weit und breit vermag, der grässlichen Meniermotte Widerstand zu leisten. Zwar bekommen auch ihre Blätter im Herbst rostige Flecken, trotzdem macht der Baum aber immer noch einen gesunden und grünen Eindruck.
Der unterste Ast der Kastanie liegt in meiner Augenhöhe, ist dick und knorrig und gleicht einem zehn Meter langen Pfad, auf dem allerlei Getier bequem wandern kann. Was Eichkatzen ab und zu auch gern tun.
Ich legte die Käsereste also stückweise auf die Rinde und ging ein paar Meter zurück. Dann spürte ich diesen Blick auf mir zum ersten Mal. Ich schaute mich um und konnte nicht erkennen, was mich in Unruhe versetzt hatte. Die Jogger, die einen Steinwurf entfernt von mir schwatzend trabten, konnten es nicht gewesen sein. Die Frau mit den beiden Möpsen an der Leine, auch nicht. Die hatte sich mit einem Beutel in der Hand gerade gebückt, während ihre beiden schwarz-schnäuzigen Lieblinge ihr gelangweilt zuschauten, als ginge sie das überhaupt nichts an.
Alles schien ganz normal, wie immer, und doch hatte ich dieses unruhige Gefühl in mir. Dann sah ich »Sie«, geschützt vom Schatten des Blätterdaches, nahe am Stamm auf der benachbarten Platane sitzen. Wie eine schwarze Sphinx blickte sie auf mich herab und rührte sich nicht.
Und wie der äsopsche Fuchs zerfloss ich sofort in meinem breitesten Lächeln und begann zu säuseln:
»Na komm… Musst keine Angst haben… Es ist feinster französischer Käse… Komm »Carl«, komm…«
Noch war ich blind genug zu glauben, ein Rabe – das Wissen um eine Rabenkrähe kam viel später – musste grundsätzlich männlich sein. Welch ein Irrtum.
Später, als wir uns bereits kannten, musste ich sie verschämt in »Clara« umbenennen. Denn irgendwann stellte sie mir tatsächlich ihren Gatten vor, und ich wusste sofort, dass es auch in der Vogelwelt nicht viel anders zugeht als bei den Menschen: Die meisten klugen Frauen haben an ihrer Seite einen Dödel…
So! Jetzt ist Schluss mit dem Schmalz!
Die Geschichte mit Clara muss an anderer Stelle weiter erzählt werden. Die Bestellung der Herausgeber lautete kurz und prägnant: 7 000 Zeichen (mit Leerzeichen!) pro Text. Das sind schon 7 689 und in diesem Fall 13,66 Cent pro Wort…
Wie soll ich da noch eine Clara ernähren? Offenbar ist mit französischem Käse nichts mehr »an Dichters Ort«!
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