Ron Winkler – »Begleitvermutung, hölderlinear«

Person

Ron Winkler

Orte

Jena

Kahla

Thema

Von Heimat zu Heimat

Autor

Ron Winkler

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Eines frü­hen Dezem­ber­mor­gens ein Sta­pel Bücher vor der Tür. Der gesamte Höl­der­lin vor mei­nem Stu­dio in Rom in herbst­lich fluss­tal­klam­mer Luft. Feucht wie an der Saale, feucht wie nah dem Neckar, feucht wie Tiber. Die Bücher hat­ten eine Farbe, die sie noch immer haben. Eine Farbe nicht mehr ganz dicht an der Ursprungs­farbe. Aber ein­deu­tig die Farbe auch der Tür, des Tibers, der Win­ter­flora wie des Tals, von dem ich meine, dass es meine erste Hei­mat war. Oder, da Hei­mat nie ein mathe­ma­tisch fixer Wert sein kann, der mir bewusste Anfang einer noch uner­kann­ten grö­ße­ren Hei­mat. Und ande­ren Heimat.

Es waren sechs Bände Höl­der­lin, es sind sechs Bände Höl­der­lin geblie­ben. An denen Hei­mat haf­tete und haf­tet: die des ver­lo­re­nen Dich­ters, die des Fin­ders, die des frem­den hei­mat­li­chen Roms. Die der Buch­ge­stalt und die der Zei­chen. Die mir immer Hei­mat sind bezie­hungs­weise wer­den kön­nen. Als Twist eines Gedan­kens hin zu Poe­sie. Oder wenn in Gesprä­chen die Che­mie stimmt, beson­ders in Unter­hal­tun­gen mit Frem­den. Oder sogar als umfas­sende externe Über­nahme jenes Orts, an dem ich auf­ge­wach­sen bin, durch einen Roman von László Krasznahorkai.

Hei­mat hat eine Aus­deh­nung, aber keine exakte Grenze. Ich meine damit zum einen, dass Hei­mat kein Punkt sein kann (für mich), Aber Punkte haben kann. Kno­ten­punkte, Ver­wer­fungs­kerne, Ver­stricktheits­zei­chen­ge­ber. Für Madeleine-Effekte.

Die Unschärfe ist groß. Je mehr ich über Hei­mat her­aus­zu­fin­den suche, desto vager wird sie mir. Eine Spree fließt hin­durch, die ich nicht liebe, einige Kas­telle, die ich nicht kenne, war­ten auf ihre sym­bo­li­sche Ent­nahme. Einige Men­schen wol­len in meine Hei­mat gehö­ren, aber das will ich nicht (obwohl ich nichts gegen sie habe). Höl­der­lin, komm. Höl­der­lin, komm lass uns singen:

Fröh­li­che Hei­mat über­all, / Tönet durch die Lüfte fro­her Schall.
Hei­mat­ton, Hei­mat­baum, Hei­mat­duft in jedem Raum,
Fröh­li­che Hei­mat über­all, / Tönet durch die Lüfte fro­her Schall.

Ach, das kann es ja nun doch nicht sein. Außer­dem, mein lie­ber Fried­rich, fehlt mir par­tout der Platz für dei­nen Tex­te­sta­pel. Aus­zugs­weise bist du mehr. Es muss mich nach dir ver­lan­gen. Also habe ich dich ver­kauft (in gute Hände); du wirst mir als Fügung in der Vita blei­ben – und meine Hei­mat­zeit ver­schiebt sich nicht zu sehr ins 19. Jahr­hun­dert. Auch wenn das fri­de­ri­zia­ni­sche Ber­lin mehr von dei­ner Art von Fried­rich brau­chen könnte. Höl­der­lin­türme und Unica-Zürn-Paläste und van-Hoddis-Strom.

Aber auch Man­gel ist ein Weg zu Hei­mat. Oder Man­kos: so wie mein Mut­ter­mal (das kein Makel ist); die Malai­sen inner­halb des Male­ri­schen; bestimmte Mäßig­kei­ten, die man mit eige­ner Ins­ge­heim­heit auf­lädt. Und eben auch die Schocks, die man nicht los­wird: Die Narbe überm Auge, weil man als Kind an einem Feri­en­sonn­tag vom Motor­rad mit­ge­ris­sen wurde (über kei­nen Höl­der­linasphalt). Von älte­ren Mäd­chen wegen irgend­was ver­leum­det wer­den. Arm aus­ge­ku­gelt. Fuß gebro­chen. Zu klein sein für sein zar­tes Alter. Zu lyrisch sein für Sport. Zu sport­lich für ein Instru­ment. Juckende Hage­but­ten­sa­men im Shirt. Die asym­me­tri­schen Gefechte mit stech­freu­di­gen Insek­ten. Die Alt­stadt­licht­schacht­tau­ben wie per­so­ni­fi­zierte DDR. Ver­se­hent­lich Sei­fen­bla­sen­lauge durch den Stroh­halm sau­gen statt in ihn hin­ein zu pus­ten. Das Tauch­sie­der­was­ser auf dem lin­ken Fuß. Die ver­mu­te­ten Rap­to­ren unterm Bett. Die eige­nen fal­schen Fri­su­ren. Zur Tor­tu­ren­pro­phy­laxe Teil der Schin­der­meute sein. Papp­scha­den mit dem heim­lich aus­ge­lie­he­nen Tra­bant. Das abge­brannte Rei­fen­la­ger. Der Zukunfts­ab­bruch nach der zehn­ten Klasse. „Sieh zu, dass du Land gewinnst!“

Das Land gewann sich schließ­lich selbst, die gelieb­ten Berge aber blie­ben von beschei­de­ner Höhe. Man kann sich seine Hei­mat eben nur ein biss­chen aussuchen.

Obwohl ich das Wort hier sehr oft ver­wende, benutze ich es in der Regel kaum. Ich fahre von einer Region, in der ich lebe, in die Region, aus der ich komme. Fahre nicht von Hei­mat zu Hei­mat. Will nicht Hei­mat fin­den. Ebenso nicht: erfinden.

Hei­mat ist, nicht in jedem Satz dar­über nach­den­ken zu müssen.

Hei­mat ist, nicht 10.000 Zei­chen dar­über zu schrei­ben zu haben.

Da sind Men­schen, mit denen man sich sofort (immer wie­der) schnell ver­bin­den kann.

Da sind Orte wie eine zweite Haut.

Gegen­den, die einen knis­tern las­sen. Stun­den, in denen man gut arbei­ten kann. Über­haupt arbei­ten kann. Sowieso etwas zu kön­nen.

Hei­mat ist, wo jeder Tran­sit mög­lich ist.

Ist ein besee­len­des Netz aus Rezi­pro­zi­tä­ten. Oder so was in der Art. Dort, wo ich bin und wo man zulässt, wer ich bin. Auf Basis von Inter­ak­ti­ons­in­ten­si­tä­ten, die mir adäquat sind, auch wenn ich sie nicht steu­ern kann.

Vie­les darf Kulisse sein, aber es muss ein gro­ßer Rest an Fle­xi­bi­li­tät bestehen, an Poten­zial. Meine Rou­ti­nen dür­fen mich nicht überschreiben.

Ich hätte manch­mal gern mehr Hei­mat. Mehr Geliebte, mehr Kin­der, mehr Uto­pien, mehr unver­baute Land­schaft, mehr Regen, mehr Fin­ger­spit­zen­ge­fühl. Mehr Platz für Kunst. Mehr Freunde. Eine grö­ßere Band­breite, bezo­gen auf Geschmack. Im Mund, in den Rou­ti­nen, im Gedicht.

Ich hätte sehr gern andere Begriffe für die­ses auf­dring­li­che Wort. Ich hätte gern mehr Hei­mat für die, die eine bes­sere brau­chen. Wäre ich gerne mehr Hei­mat? Jetzt, wo ich frage: Sehr wahrscheinlich.

Ein Har­mo­nien­spen­der, Sym­pa­thien­trä­ger, Inter­es­sen­trig­ger und Ideen­aus­lö­ser im Schoos der alten Ewig­kei­ten … jedoch, wenn’s geht, in klei­ner Pathos­größe. Hei­mat ist: Die Wirr­nis kön­nen. Die spe­zi­elle Form von Uner­mess­lich­keit. Das dis­kon­ti­nu­ier­li­che Kon­strukt aus Rück­halt, teils spukhaft.

Hei­mat ist, wo das Sys­tem ver­sagt (und einen etwas Eige­nes trägt). Eine Son­der­form Umge­bung. Mehr­fach gesam­ter Höl­der­lin: als ein Beginn.

 

***

»Von Hei­mat zu Hei­mat – eine lite­ra­ri­sche Spu­ren­su­che« ist eine Reihe des Thü­rin­ger Lite­ra­tur­ra­tes e.V. mit freund­li­cher Unter­stüt­zung der Kul­tur­stif­tung des Frei­staats Thüringen.

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