Romina W. Nikolić – »Aus dem Unterholz«

Person

Romina W. Nikolić

Thema

Dichters Wort an Dichters Ort

Autor

Romina W. Nikolić

Reihe »Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.

»Im Rhi­zom gibt es das Beste und das Schlimmste…«

Deleuze & Guattari

Aus dem Unterholz

In der Erinnerung
ist der Blick ins Blau von Zwei­gen ver­stellt, an der Borke
kriecht eine Ameise empor.
Vor wie vie­len Jah­ren hier ein Kind begra­ben wurde,
ver­ra­ten die Ringe im Holz, ein Kind mit Ker­nen im Bauch.
Mein Bru­der sitzt jetzt in der Krone und spuckt
die Steine ins Gras. Im Zeit­raf­fer sprie­ßen die Keime,
durch­sto­ßen die Wur­zeln das Erdreich,
ver­zwei­gen sich, ver­wach­sen mit ande­ren, wachsen,
sin­gen – geah nänn haa.
Groß­va­ter nahm mich bei der Hand, als ich noch klein war
fiel mir ein Reh­kitz aus der Tasche, einmal
brach ein Mäd­chen durch den Deckel einer Jauchegrube
̶  Chris­tiane oder Chris­tine oder viel­leicht auch Marie
rie­fen die Müt­ter in das Loch hin­un­ter –, einmal
ging einer ganz ver­lo­ren, war ein­fach weg, verschwunden
und als mein Bru­der ver­ges­sen wurde im Wald
war der Früh­ling schon vor­bei, die kal­ten Wie­sen schon weich
und die Sekre­tä­rin stand auf vom Mittagstisch,
ein Riss in ihren beige­far­be­nen Strümp­fen, Großmutter
fiel aus allen Wolken.

Aus den nas­sen Wäl­dern steigt Dunst.
Die Uto­pie vom Wan­dern durch eine leere Welt.
Vom Wan­dern im Bewusst­sein: Ich wandere.
Vom Gehen im Bewusst­sein: Ich gehe.
Und die Erde singt und die Bäume sin­gen und die Wur­zeln sin­gen ein Lied
ohne Anfang, ohne Ende.
Dann: hallt ein Schuss durch den Nebel,
Wild springt auf, ein Flat­tern, Flucht
und aus der ange­spann­ten Stille danach stei­gen Gesich­ter, Erklärungen:
Hier liegt die Lunge, hier liegt das Herz,
die Leber, die Galle, die Milz.
Ein Reh­kitz, warm in der Hosentasche.

Als ich noch klein war, dachte ich,
die Dinge bekä­men Namen und alles wäre gesagt.
Ich sagte: Das ist der Schnet­ters­berg, das ist ein Baum.
Und ich dachte ich wüsste, was es zu sagen gäbe
von den Deck­schich­ten der Gebirge,
von den Dru­sen und Geoden,
von der Tek­to­nik der Schä­del­plat­ten win­zi­ger Säuger,
von den Fal­tun­gen des Schie­fers und vom Muttergestein,
das dem Bru­der den Rücken auf­schlitzte beim Sturz aus den Ästen,
von den schweiß­nas­sen Kissen,
den Fie­ber­mus­tern und wir­ren Träumen:
Am Fuße der Hügel zieht ein
Schat­ten­band übers Gras, die Tiere wer­den unruhig,
Groß­va­ter sitzt auf der Schwelle
und raucht – geah nänn haa, mei Jung, geah nänn haa.

Aus dem Unter­holz steigt Nebel
und die Müt­ter­chen, als ich noch klein war,
kro­chen aus den Büschen,
auf den Buckeln, Äste und Zweige
im Haar der Kin­der die kno­chi­gen Fin­ger abends
unterm Tau­ben­schlag scho­ben Sauerampfer
in die offe­nen Mün­der, Stachelbeeren
ein Schar­ren über den schläf­ri­gen Köpfen.
Sie wieg­ten die Kleins­ten in ihren Schür­zen und
nachts noch lagen sie uns in den Ohren
mit ihren zitt­ri­gen Stim­men und
ihren unglaub­li­chen Worten:
Da ging es um, immer ging es um
weiße Frauen, wilde Män­ner, Gärt­ner ohne Kopf
und Rap­pen in Höl­len­ge­span­nen und unsag­bar grau­sige Tode
und dann hieß es: Schlaft gut, Kin­der, keine Angst,
mor­gen früh, so Gott will…

Und immer begann das Ver­ste­hen von vorn,
als wenn man nach Schmet­ter­lin­gen greift
und in den Hän­den nur bun­ter Staub übrig bleibt.
Im Schlaf wie­der­ho­len sich die Sequen­zen der Jagd,
ein Tier hetzt sich ab
auf dem Tep­pich, auf dem Bildschirm.
Ein ein­ge­roll­ter Igel treibt in einem Waschbecken.
Eine Katze rei­tet auf einer Schildkröte.
Ein Bock stößt einen Tou­ris­ten vom Rad.
Es gibt kein Video von unse­ren Ver­su­chen, den Kater zu baden.
Von unse­rem Hasen, der gehäu­tet an der Stall­tür hing
– hier liegt die Lunge, hier das Herz.
Vom Schä­fer­hund der Nach­barn und dem Moment,
als er sich fest­biss in mei­nem Arm
beim Spa­zie­ren. In bestimm­ten Straßen
bran­det das Gebell an die Hoftore,
ein wüten­des knur­ren­des Knäuel Fell,
die Lef­zen flat­tern, flei­schige Lappen
in den Näp­fen. Im Sand
rol­len Kin­der über­ein­an­der weg, die Hunde
ste­hen jetzt rat­los an den Zäu­nen. Ent­fernt gauzt noch einer
in den Abend, ein roter Teufel
hüpft auf sei­nen Arsch­ba­cken über den Schirm
Hüh­ner und Kühe, die Tiere in den Stäl­len der Nachbarn,
Schweine, Zie­gen, Taubenschwärme
segel­ten über der Sied­lung in der Ther­mik der sie­ben Schlote,
Kin­der­schuhe in den Ofen­lö­chern, das ist das Lied
vom Ende des Spiels.

Als ich noch klein war,
führte der Heim­weg immer vor­bei an den Weisen,
den Hütern der mor­schen Zäune,
den alten Män­nern mit Schiebermützen,
ein Fläsch­chen bei der Hand.
Man­chen hab ich nicht ein ein­zi­ges Mal spre­chen hören,
manch ande­ren erkannte ich von fern am Lachen
und immer gab es eine Klug­heit mit auf den Weg: Der Alko­hol,
er hätt‘ mech scho gånza Völ­ker­stämm‘ hi’g’richt,
ower n Enzel­ner tut er niss
.
Manch einer lachte,
manch einer kratze sich bloß den Schorf von der Glatze,
schob die Kappe wie­der zurecht,
räus­perte sich, nahm noch einen Zug.

Da waren auch Män­ner mit Sensen.
Ich erin­nere mich an Män­ner mit Leimruten,
Män­ner, die uns zürnten,
die die Mes­ser schon gezückt hatten,
uns ein­fin­gen und in Käfige sperrten
und das kopf­lose Flat­tern, das pani­sche Fiepen.
Ich erin­nere mich,
wie mir ein Alter in Lum­pen einen Fink in den Napf warf,
an das Kna­cken der win­zi­gen Knochen,
den Blü­ten­staub im Gefieder.
Ich erin­nere mich an das schwarze Haar
eines Mäd­chens, dem ich sang
vor vie­len vie­len Hun­dert Jahren
mei Mädla, geah nänn haa.

Ich erin­nere mich an Frauen, gebückt,
den Brand­ge­ruch, das schwarz-gelbe Unge­zie­fer auf dem Feld,
ich sehe grobe Hände, die Aar­döp­fel aus dem Boden wühlen,
ich sehe Frauen in Trachten,
in der kasa­chi­schen Steppe weht ihnen der Wind in die Kleider,
eine wilde Tscher­kes­sin hält dem Blick der Kamera stand, ein
Schwarz­brau­ner reißt am Zügel. In Schönbrunn
zieht eine Pfer­de­fuhr­werk vol­ler Christdemokraten
zur Ein­heits­fahrt um den Stausee,
die Män­ner und Frauen, das Volk.
Es wird ange­sto­ßen und gegrölt, auf das Volk!
Ich bin das kleine Mäd­chen, das am lau­tes­ten brüllt.
Ich bin ein Dicker, dem zwei Fin­ger fehlen.
Ich bin der Sohn des Kut­schers, der den Wagen len­ken darf.
Ich habe rote Backen.
Ich trabe gemäch­lich neben mir.
Ich fliege den Gäu­len um den Arsch.
Wir alle erin­nern uns an die­sen Tag.
An das Feu­er­werk, an das kühle Schwarzbacher
und die Rost­brat­würste vom Adler.
Die Sin­ger­ta­ler spie­len auf und die Frauen stei­gen auf die Tische
und erwach­se­nen Män­nern wird schwin­de­lig und
die Flech­ten wach­sen lang­sa­mer an den Stäm­men und
die Schil­fen modern daheim in den Kübeln,
Fie­ber­mus­ter, wirre Träume.

 Hun­ger, jaulte Puma, als er auf die Straße rannte.
Läuske­che­lei, schrie ein glat­zi­ger Mann und
trat einen Ball aus dem Blu­men­beet sei­ner Mutter.
Häng die Wösch urdent­lich hie, keifte eine Grau­haa­rige im Perlonkittel,
Ein Mäd­chen schüt­telte Fal­ten aus gelb­li­chen Schlüpfern.
Hun­ger, jaulte Puma.
Groß­va­ter nahm mir das Mes­ser aus der Hand,
geha nänn haa, mei Mädla,
und schälte die Kar­tof­feln zu Ende.
Über den Dächern, kreis­ten feu­rige Kugeln,
Onkel Her­bert zwinkerte
mit sei­nen feuch­ten Maulwürfsäuglein,
der And­rees hätte ihn am Arm gepackt und
da hätte er es sehen kön­nen, es wäre alles wahr.

Schön­brunn ist der Aberglaube.
Schön­brunn liegt im tie­fen Wald.
Ein Hünd­chen vor der Motorhaube.
Im Acker­bo­den schläft sich’s kalt.

Böh­mer sagt, er hätte Gras gese­hen, das sich aufrichtete,
Gras, das fiel, und die Köni­gin der Insekten
sei auf­ge­stie­gen aus einem Riss in der Erde.
Aus den Kin­der­bäu­chen wach­sen Bäume, Hunde fres­sen Dreck.
Die Mecha­nik der Säug­lings­mün­der, das Zucken win­zi­ger Schnuten
weiß nichts von den Toten­grä­bern, die ihre Urah­nen verscharrten
auf den Ter­as­se­nä­ckern und doch sind alle verbunden,
gibt der Eine dem Ande­ren den Spa­ten in die Hand.
Meine Groß­mutter weinte
ein gan­zes Jahr.
Puma jaulte.

Eine Ameise kriecht über einen Unter­arm, der Blick geht ins Geäst.
Wie viele Kin­der schon aus die­sen Kro­nen fielen,
wie viele sich beim Abstieg die Haut an der Rinde scheuerten,
wie viele Müt­ter die Scha­len der Früchte an ihren Schür­zen blank rieben
und sie den Kin­dern mor­gens nachtrugen,
wie viele Milch­zähne in den Holz­äp­feln ste­cken blieben.
Groß­va­ter schälte die Äpfel in einem Zug.
Groß­mutter kochte Mus.
Schön­brunn ist eine warme Küche. Jeder Weg endet an einem Tisch.
Auf der Holz­kiste in der Ecke sitzt Berta und stopft wol­lene Socken.
Els­beth jam­mert, mei‘ Herz, mei‘ Arm.
Die Gäß mit ihren Jun­gen wärmt sich vor dem Ofen.
Nach dem Kohlentragen
die erste Capri Sonne, Großmutter
schnei­det pel­zig-graue Inseln aus der Rinde eines Brotes,
auf den Fens­ter­bän­ken Ruß,
in den Nasen­mu­scheln hält er sich tagelang.

Als ich noch klein war, gab es
jah­re­lang die glei­chen Serien, die glei­chen Beschimpfungen:
Schne­agäns, ver­hur­ri­chelte, läu­se­len­dige, trau­riche Hünd‘!
Gesich­ter bewe­gen sich in Zeit­lupe auf­ein­an­der zu,
in Zeit­lupe glei­tet ein Gebiss in ein Glas,
Bläs­chen tau­meln nach oben,
Els­beth wim­mert im Schlaf.
Den Glim­mer­schie­fer durch­schnei­den Züge von Quartzporphyr,
Grau­wa­cke im Gabel­tal, in der Streu­schicht des Wal­des ringsum
hau­sen Asseln, Regen­wür­mer, Milben,
hau­sen Tau­send­füß­ler, Spring­schwänze, Ringelwürmer,
in einer Hand voll Erde unterm Mikroskop
tum­meln sich win­zige Organismen,
Bak­te­rien, Glo­cken- und Wimperntierchen,
Spo­ren und Pilz­ge­spinste in den Körperhöhlen,
Flech­ten, Zecken in den Achselmulden,
Natur­ver­bun­den­heit, sym­bio­ti­sche Ver­wach­sung, Befall.
Die Tiere wer­den unruhig.

Geah nänn haa, mei Mädla – Groß­va­ter nahm mich bei der Hand.
Die Grä­ber waren Groß­mutter wichtig.
Ohne zu klop­fen trat der Pas­tor ein, nahm Platz am Tisch.
In der Mikro­welle wölbt sich der Maasdamer
wie die Magmab­la­sen in den Supervulkanen.
Mag­da­lena hat glut­ro­tes Haar.
In den Nach­bar­hö­fen ver­blu­ten die Säue.
Meine Mut­ter malt gerne Kreise.
Groß­mutter glaubt an den Teufel.
Rot­braun war das Fell ihrer Hündin,
als Groß­va­ter den Sack ver­schnürte, erzählt man mir.
Pumas Fell war schwarz, und
daran glaube ich, daran muss ich glauben.
In dem Som­mer, als sie nach­ein­an­der ein­ge­schlä­fert wurden,
hatte der West­be­such die Farb­filme schon aufgebraucht.
Jetzt sind die Hunde bloß ver­schie­den graue Flecken
auf einer Schwarz-Weiß-Aufnahme
und ihre Kör­per längst zum Hun­det­raum verwittert
unter den Buchen am Schnettersberg.
Hun­ger, jaulte Puma ehe er auf die Straße rannte
und der Benz ihn erwischte, das ein­zige Auto des Tages,
und die alte Senta folgte ihm
aus Kum­mer in den Schlaf.
Da Boden war recht locker, sagte Opa, als er zurückkam
und das war wohl der ein­zige Trost.
Schön­brunn ist ein Hundegrab.

In den Kübeln modern die Schilfen.
Der Schim­mel­pilz hüllt kleine Tiere ein wie eine flau­schige Decke.
Aus dem Unter­holz kriecht das Unge­zie­fer direkt zu mir ins Bett.
Schön­brunn ist das Ein­schla­fen mit kal­ten Füßen,
das in sich Hin­ein­hor­chen nach Zeichen
einer töd­li­chen Erkran­kung, Brennnesseln
in den Kis­sen der Alten, Gebisse im trü­ben Wasser
auf den Nachttischschränkchen.
Da Toad braucht sei‘ Ursach‘, sagen die Weisen,
die ehr­wür­di­gen Hüter der Zäune.
Manch einem sitzt er schon in den Knochen,
man­chem lau­ert er auf im Zungengrund
oder den dun­kel­rosa Fal­ten der Rosette.
Aus den Bäu­chen der Toten wach­sen die Bäume.
Blät­ter trei­ben her­vor, Blü­ten, Früchte.
Den Bür­ger­meis­ter erwar­tet der Tod
wie die Bau­ern mit ihren Sensen,
die Kräu­ter­frauen mit ihren Sicheln.
Die Schaf­garbe ver­geht wie das Wiesenschaumkraut,
die Brun­nen­kresse wie Angelika,
Johan­nis­kraut wie die Brennnessel,
wie Kugel­dis­teln, Wei­den­rös­chen, Knö­te­rich und Mädesüß.
Mit gro­ben Hän­den stopft Berta
die Nes­seln in einen Kissenbezug.
Die Hasen fres­sen Löwenzahn.
Die Schweine quiet­schen vor dem Schlachter.
Groß­va­ter nahm mich bei der Hand.
Schön­brunn ist die Strick­be­we­gung der Fin­ger im Schlaf.
Ein­mal hatte man einen an den Füßen aufgehängt
mit dem Kopf in einem Ameisenhügel.
Der Wind trug die letz­ten Schreie aus dem Wald
in jeden Traum in Hörweite.
Die Köni­gin der Insekten
erscheint Böh­mer noch heute im Schlaf.
Aus der Streu­schicht des Waldes
kriecht mir Unge­zie­fer ins Bett.
Asseln, Wür­mer, Milben.

Els­beth jam­mert, mei‘ Herz, mei‘ Arm.
Die Nach­bars­frau reicht Blut­wurst durchs Fenster,
Press­kopf und den neu­es­ten Stand:
dass das Wim­mern jetzt wie­der ange­fan­gen hat
dass die Sau jetzt ange­sto­chen wird
dass der Bol­zen glatt durch den Kno­chen gegan­gen ist
dass die Kleine heut das erste Mal Blut rüh­ren darf
dass es mit der Els­beth bestimmt nun end­gül­tig ist
dass die Frauen jetzt alle im Hof gebraucht werden
dass im Brüh­trog das Was­ser nun heiß genug ist
dass die Män­ner die Sau kaum geho­ben kriegen
dass die Els­beth ja schon lange nicht mehr hatte baden können
dass die Els­beth ja nur noch liegt
dass es nun zu Ende geht, dies­mal ganz bestimmt
dass die Sau aber nun an die Lei­ter gelehnt wird
dass die Els­beth schon län­ger schlimm Schmer­zen hatte
dass man nun aber Einen trin­ken muss
dass das Hacken jetzt gut vorangeht
dass sie gleich noch das fri­sche Fleisch rüberschickt
dass an die Füße eine schöne Erb­sen­suppe gekocht wird
dass es Els­beth ja nun end­lich geschafft hat
dass es halt nun anders nicht gegan­gen wäre
dass der Schlach­ter ja lange schon bestellt gewe­sen war

Groß­va­ter nahm mich bei der Hand.
Geah nänn haa.

Als ich noch klein war, war Schön­brunn die Angst
vor wei­ßen Frauen, Gärt­nern, Rap­pen und grau­si­gen Toden,
die Angst vorm Aus­stei­gen an der fal­schen Haltestelle,
die Angst davor, ein­fach ver­ges­sen zu wer­den, die Angst
der Kin­der vor den schwit­zen­den Küchenfrauen,
rie­si­gen buck­li­gen Unge­tü­men mit Kel­len vol­ler Kapernsoße,
die Angst vor Ber­gen von Muffkartoffeln,
die Angst vorm Zorn der Erzieherinnen,
Angst in Clau­dias Augen als sie ein fet­ti­ges Kotelett
in der Hosen­ta­sche zum Abfall­ei­mer schmug­geln muss:
Die Schul­spei­sung hat scho‘ gånza Völ­ker­stämm‘ hi’g’richt!
Ich erin­nere mich an glück­li­che Hungertage
im Gebüsch mit Mar­tin und mei­nem Reh­kitz aus Plastik,
an Tage, an denen wir über da Mäd­chen in der Jau­che­grube lachten,
an Tage, an denen wir wuss­ten, wer wir waren
und was wir wer­den wollten.
Ein Knal­lerb­sen­strauch, eine Eberesche.
Aus Groß­va­ters Bauch wächst eine Kirsche,
aus Groß­mutter ein Apfelbaum.
Als Kon­rad gehäu­tet wurde
legte Mar­tin mir einen Steinpilz
auf die Fens­ter­bank, eine Taubenklaue
eine halbe Tube Putzi ließ er mir da
und als Mar­tin verschwand
aß ich die Zahnpasta
allein in mei­nem Schrank.

 

  • Romina W. Niko­lić: Aus dem Unter­holz. Aus­züge aus einem Lang­ge­dicht, Edi­tion Muschel­kalk, Band 55, Wart­burg Ver­lag, Wei­mar 2023.
Diesen Artikel teilen:

Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio

Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2024 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]

URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/romina-w-nikoli-aus-dem-unterholz-i/]