Roland Bärwinkel – »Zeppelinplatz, luftige Gegend«

Person

Roland Bärwinkel

Ort

Weimar

Thema

Dichters Wort an Dichters Ort

Autor

Roland Bärwinkel

»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.

Der Zep­pe­lin­platz. In Wei­mars Nord­vor­stadt öff­net sich vom Kreu­zungs­punkt Röhrstraße/Döllstedter wie ein gebau­ter Fächer. Dar­auf heute leuch­tende Sze­nen aus  Gebäu­den, einem Spiel­platz, höl­zer­nen Sitz­bän­ken, Lin­den, Men­schen, Fahr­zeu­gen, Tie­ren. Ein gespreiz­ter Zir­kel. Benannt nach Graf Zep­pe­lin, einem Pio­nier der Luft­fahrt. Zwi­schen­durch war es der Platz der Deutsch-sowje­ti­schen Freund­schaft. Es gab Räume für die Volks­so­li­da­ri­tät, den Pols­te­rer, die Fell­an­nahme, einen Ein­kaufs­la­den. Kiosk, Maler­ge­schäft und Fri­sör. Zwei Lit­faß­säu­len. Von oben aus genü­gen­der Ferne erscheint der Platz im Som­mer wie ein Brok­koli. Rechts vor dem Tor­durch­gang Ecken­er­straße einst das Wäsche­ge­schäft des Sozi­al­de­mo­kra­ten Kurt Nehr­ling. Heute Büro der Wohn­stät­ten. Denun­ziert wurde Nehr­ling und wegen soge­nann­ter Wehr­kraft­zer­set­zung im KZ Dachau ermor­det 1943. Stra­ßen­be­nen­nun­gen als Abbild ihrer Zeit mit der Wahr­neh­mung jüngs­ter Ent­wick­lun­gen in der Erobe­rung der Lüfte. Ein luf­ti­ges Stück der Nord­vor­stadt. Um ein luft­schiff­ver­däch­ti­ges Oval aus Beton sind die Park­bänke aus Guss und Edel­stahl posi­tio­niert. Zwi­schen Him­mel und Erde dar­auf zu sit­zen. Der untere Teil eines Luft­schif­frump­fes ist wie diese Bank kon­stru­iert. Auch der Zep­pe­lin­gon­del könnte es nach­emp­fun­den sein. Die bei­den Zep­pe­lino-Gerüste, die auf­fäl­ligs­ten Spiel­ele­mente des Plat­zes. Sogar ein Sand­kas­ten in der Form eines Luft­schif­fes, gut durch­dacht. Hier wird die Welt dis­ku­tiert. Gele­gent­lich ist es wie die War­te­halle auf einem Flug­platz, nur transparent.

Käthe Koll­witz steht unter Lin­den. Ihr Nie wie­der Krieg ein ent­schlos­se­ner und muti­ger Gegen­ent­wurf zu einer Kriegs­eu­pho­rie, die süch­tig nach Hel­den wurde. Spon­tane Haus­fei­ern. Gedämpfte Ruhe, bis ein Ball gegen die Haus­wand schlägt, ein Auf­takt nur. Hin­ten raus zum Rem­brandt­weg ein leben­di­ges Amal­gam, ein aus den Ansprü­chen ihrer Bewoh­ner wech­selnd geform­ter Platz auch hier. Am run­den Tisch in der Küche, mit dem Blick über Kat­zen­gras, eine Lord Bute-Pelar­go­nie, auf Baum­kro­nen, Schorn­steine, ein Elster­nest. Am unte­ren Schei­tel des Hori­zonts schon das Haupt einer Ham­mer­weide. Kin­der­spiele, ihre Gesich­ter und Bewe­gun­gen, die Wärme, die sie aus­strah­len, die­ses Ganz-bei-sich-sein. Eine blau­fun­kelnde, chrom­glän­zende Kawa­saki VN 800 A. Zwi­schen der Alt­stadt und der Thü­rin­ger Bahn ent­stand im frü­hen 20. Jahr­hun­dert die Nord­vor­stadt mit den Stra­ßen nach Etters­burg und But­tel­stedt als Haupt­stra­ßen. In der Uridee bewirt­schaf­tete Hin­ter­höfe. Das Areal ange­legt für sich selbst­ver­sor­gende Not­lei­dende des Krie­ges. Wit­wen mit Wai­sen. Kriegs­heim­keh­rer und die in die Lan­des­haupt­stadt Strö­men­den, ange­lockt von Arbeit. Groß­fa­mi­lien. Hier in die­ser Woh­nung als wären wir eben in der Luft, schweb­ten. Hier beein­flusst es mein Schrei­ben, Umgang zu haben mit Men­schen aus unter­schied­lichs­ten Beru­fen, mit Lebens-Läu­fen so unvor­her­seh­bar schei­nend wie denen der Kugeln im Flip­per­au­to­mat. Ste­he­rin­nen nenne ich die selbst­be­wuss­ten, impro­vi­sa­ti­ons­fä­hi­gen, star­ken Frauen, die hier leben, denen Nie­der­la­gen kei­nes­wegs fremd geblie­ben sind. Die Weg­achse des Plat­zes führt bis zur Ful­daer. Über den Rem­brandt­weg, die ehe­ma­lige Richt­ho­fen, ein Flug- und Kampf­held des Ers­ten Welt­krie­ges. Auch Luft­schiffe fuh­ren Angriffe, bis Lon­don. Die­ser Weg also vom Zep­pe­lin­platz aus wird als Straße bezeich­net, nach Hugo Eckener, einem Luft­schiff­pio­nier wie Zep­pe­lin. Ich ent­de­cke ahnungs­los und uner­war­tet Geschichte und Geschich­ten. Eckener gelang die erste Non­stop-Atlan­tik­über­que­rung. Der Ark­tis­for­scher Fried­jof Nan­sen und Eckener grün­de­ten die Inter­na­tio­nale Gesell­schaft zur Erfor­schung der Ark­tis. Wei­mar hat eine Nan­sen-Straße, lei­der nicht hier nebenan. Ein drit­ter Luft­schif­fer leiht der Dürr­straße sei­nen Namen: Lud­wig Dürr. Er kon­stru­ierte die Groß­luft­schiffe bis zum LZ 130, der Graf Zep­pe­lin II, dem letz­ten, vor dem 2. WK in Dienst gestell­ten Luft­schiff deut­scher Bau­art. Wel­chen Schat­ten zöge es über den Zep­pe­lin­platz: Länge: 245 Meter, Durch­mes­ser 41,2 Meter, Volu­men: 200.000 m. Zep­pe­lin und Rota­ti­ons­el­lip­soid Rug­by­ball und Zigarre. Auf den Gul­li­de­ckeln von 1898 vor der Koll­witz-Schule, der ursprüng­li­chen Lui­sen-Schule zu ste­hen, kann viel bedeu­ten. Bei der groß­ar­ti­gen Birke unter den über­ra­schend zahl­rei­chen und eigen­wil­li­gen der Nord­vor­stadt zu war­ten. Den hüb­schen Cou­si­nen der fin­nisch-lapp­län­di­schen,  den Tan­ten der Bir­ken ent­lang einem Bach in mei­ner Hei­mat und den Uren­ke­lin­nen jener aus rus­si­schen Mär­chen in der Pabst­straße. Dass sich etwas ein­stellte, anfühlte. Anwand­lung vom Wunsch nach Ruhe, lee­rem Durch­lauf von Zeit. Meine Seh­sucht in die­sem Vier­tel. Ein Buch machen mögen, mit Fotos, Unbe­kann­ter Ort oder Texte der Nord­vor­stadt nennte ich es.

Brun­nen­straße: Die erneu­erte und so erhal­tene Wer­bung für eine Kohle‑, Koks- und Holz­hand­lung. WGs mit Archi­tek­tur­stu­den­ten. Alte Stü­cke in den Stra­ßen von Eisen­zäu­nen, Stie­fel­ab­tre­tern, Hin­weis­schil­dern, Schup­pen. Piz­za­la­den, Ero­tik­fach­ge­schäft,  Flei­scher, Kon­di­tor, Brief­kas­ten, Text­wa­gen: schon Geschichte. Pabst­straße: nach dem Ober­bür­ger­meis­ter der Stadt benannt. Beim Bau der Was­ser­lei­tung gemein­sam mit Louis Dölls­tedt agierte er als füh­ren­der Mann der Stadt­ver­wal­tung. Sinn­reich bil­den beide Stra­ßen einen rech­ten Win­kel, wo sie auf ein­an­der tref­fen. Von der Dölls­ted­ter aus ist die über­wach­sene Weit­sprung­grube auf dem Schul­ge­lände noch zu erken­nen unter Kas­ta­ni­en­rie­sen. Das unter­ir­di­sche Schwimm­be­cken im Gebäude, was macht es heute? Ein Schlot spie­gelt sich in den Fens­tern mei­nes Lieb­lings­hau­ses; ver­zerrt, gedop­pelt, vasen­för­mig, in abge­trenn­ten, ver­setz­ten Stü­cken. Hein­rich C.G. Herbst besorgte die Ver­ein­heit­li­chung des Maß- und Gewichts­sys­tems im Groß­her­zog­tum und in Thü­rin­gen. Die Herbst­straße ver­bin­det die Röhr­straße mit dem tie­fer gele­ge­nen Asbach und dem Frei­bad. Stößt auf die Schwan­see­straße, zwölf Jahre hieß sie nach Sta­lin. Schwim­men im Frei­bad in der ers­ten Stunde an einem duns­ti­gen Alt­wei­ber­mor­gen in der Sep­tem­ber­wo­che, in der es geschlos­sen wird. Schwe­ben, flie­gen. Mein jun­gen­haf­tes Glücks­grin­sen.  Über mir Geräu­sche von Hub­schrau­bern, in rot und weiß oder in gelb. Die aus­fran­sende Kiel­li­nie eines Jets. Gleich hin­ter dem Frei­bad die ehe­ma­lige Sauna, ein Geschenk der fin­ni­schen Part­ner­stadt Hämmenlinna.

Led Zep­pe­lin hat für das Cover ihres Debüt­al­bums von 1969 einen Aus­schnitt aus einem his­to­ri­schen Foto gewählt. Zu sehen ist das bren­nende Luft­schiff  Hin­den­burg  bei sei­nem Lan­de­ver­such in Lakehurst, New Jer­sey, am 6. Mai 1937. Ein Foto, das um die Welt gegan­gen ist.

Von zep­pe­li­nes­ker Auf­ge­bla­sen­heit spricht DF Wal­lace in einer sei­ner Geschich­ten. Das gefällt mir. Die­ser Platz hilft mir wach und neu­gie­rig zu blei­ben, von hier aus schenkt er mir Erkun­dun­gen ohne  Gepäck. Ich schreibe anders, bin ich nicht vor Ort. An den Bau­zäu­nen um die aus­ge­ho­be­nen Gru­ben vor dem Schmuck­stück Wei­ma­r­hal­len­park steht als Fir­men­name: ZEPPELIN. Leicht und schwe­bend, ist zu ver­mu­ten, wird hier wenig.  Ein Luft­schiff, das vor­über­zieht, das gibt es bereits. In mei­nen Tag­träu­men. Wie schon ein­mal ganz real, vor mehr als ein­hun­dert Jah­ren. Es gibt Fotos in Sepia davon und dar­aus gemachte Post­kar­ten, koloriert.

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