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Annerose Kirchner
Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin
Mein Name ist Annerose Kirchner, ich lebe seit fast 46 Jahren in Gera und wirke als Schriftstellerin. Der Stolperstein e. V. Gera hat mich gebeten, etwas zum heutigen Tag zu sagen.
Am 3. April 1991 schrieb mir der Schriftsteller Henry William Katz, kurz H. W., auch Bill genannt, aber eigentlich Herz Wolff, in einem Brief:
»Ich weiß, dass Sie 40 Jahre alt sind und ich bin mehr als 2x so alt. Aber Kollegen ignorieren das Alter. Wir interessieren uns weniger für Geburtsscheine und mehr für Gedichte und Geschichten, die wir schreiben.
Ich komme mit meiner Frau Friedel (geboren in Heilbronn) und mit meiner Tochter Eve (geboren in Paris). Hoffentlich gibt’s in Gera anständige Hotels. … Wir freuen uns schon sehr, Sie bald in Gera kennenzulernen. Ich sah Gera zum letzten Mal genau vor 58 Jahren.«
Anlass für diesen Brief war die Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn für eine Lesereise von H. W. Katz, nun im wiedervereinigten Deutschland.
Über meinen Förderer und Freund, den Schriftsteller Wulf Kirsten in Weimar, der mit Katz korrespondierte, kam auch unser Kontakt zustande. In Gera blieb nur für 2 Tage Zeit, leider und schade. Doch es gelang mit Unterstützung der Geraer Bibliothek eine unvergessliche Veranstaltung. Am Nachmittag vor der Lesung bekam ich einen Anruf von Werner Simsohn. »Herr Katz ist da. Kommen Sie zu uns in die Wasserstraße in Untermhaus.« H. W. Katz empfing mich mit Freude und umarmte mich. Wir hatten ein intensives Gespräch bei Kaffee und Kuchen, was viel zu schnell zu Ende ging.
Nach der Lesung verabschiedeten wir uns etwas traurig, aber unser Briefwechsel ging weiter, den ich nach dem Tod des Schriftstellers mit seiner Witwe Friedel bis 1999 fortführen konnte. Sie redete mich immer mit »Liebe Annerose« an – was für ein Vertrauen, was für eine Zuwendung. Danach kam leider kein Lebenszeichen mehr.
H. W. Katz kam schon schwerkrank nach Gera, ein Jahr später, am 6. 6. 1992, starb er zuhause in Deerfield Beach, in Florida, im Alter von 85 Jahren. Ein Schock, denn er wollte unbedingt ein zweites Mal und damit für längere Zeit nach Gera kommen.
H. W. war Jude, Journalist und Sozialdemokrat und bezeichnete sich zuletzt als Kommunist. Als Schriftsteller sah er sich wohl nicht, da er in den USA nie als Autor und Journalist Fuß fassen konnte. Die Wurzeln seines Schreibens liegen in Gera. Davon zeugen seine beiden Romane »Die Fischmanns« und »Schloßgasse 21«, deren Lektüre ich Ihnen wärmstens ans Herz legen möchte. Er schrieb sie im Exil 1933–1937 und verarbeitete darin das Schicksal der nach Deutschland eingewanderten Ostjuden, auf der Flucht vor Pogromen. 1914 kam er als Achtjähriger – aus Westgalizien, aus dem Schtetl in Rudky, südlich von Lemberg, damals Österreich, dann Polen – mit Vater, Mutter und Bruder Michael nach Gera. In Gera lebten bereits einige Verwandte, andere kamen noch hinzu. Sie wohnten hauptsächlich im Bereich des Zschochernplatzes – Bauvereinsstraße, Arndtstraße, Altenburger Straße und auch Margaretenstraße, als Händler mit verschiedenen Geschäften.
H. W., der sich früh in jüdischen Vereinen engagierte und über die Heimvolkshochschule Tinz zur Sozialdemokratie fand, schrieb für renommierte Zeitungen. Ab 1932 war er in Berlin und arbeitete für die »Welt am Montag«. Nach der Bücherverbrennung 1933 in Berlin entschloss er sich umgehend zur Flucht nach Frankreich.
Seinen Roman »Die Fischmanns« reichte er 1937 für ein literarisches Preisausschreiben ein. Unter 80 eingesandten Texten wählte die Jury, der u. a. Anna Seghers angehörte, das Manuskript zur Auszeichnung mit dem Heinrich-Heine-Preis aus. Der Roman erschien im bedeutenden Exilverlag Allert de Lange in Amsterdam und trat danach einen Siegeszug mit zahlreichen Veröffentlichungen, u. a. in New York, an. Hochgelobt von Schriftstellern wie Bruno Frank. »Schloßgasse 21« erschien 1940. Beide Bücher erschienen erst Mitte der 1980er Jahre in der BRD.
H. W. Katz konnte mit seiner Frau und der kleinen Tochter 1941 in die USA emigrieren. Er hielt immer Kontakt/Briefwechsel mit bedeutenden Schriftstellern, vielfach mit Hermann Kesten, Alfred Döblin, auch in den 1980er Jahren mit Stefan Heym und Walter Janka.
H. W. Katz plädierte sein Leben lang für Toleranz. »Nicht hassen dürft ihr«, sagte er einmal zu Schülern. »Nachdenken müsst ihr. Und nie vergessen dürft ihr: In euren Händen liegt die Zukunft Deutschlands«. Er blieb immer ein Gegner des Nazismus und interessierte sich nach 1989 für das weitere Schicksal Deutschlands. Er bezeichnete Gera als seine Heimat. Und man hörte auch etwas »Gersch« noch in seiner Stimme… Er sah sich immer als Heimatvertriebener, als Flüchtling.
Heute findet in Gera mit der Stolpersteinverlegung die erste offizielle Würdigung von Henry William Katz und seiner Familie statt. Würdig wäre es auch, ihm in der Stadt noch eine Gedenktafel zu setzen. Mein Wunsch, ihm einen Stolperstein zu setzen, geht nun in Erfüllung. Es ist eine kleine, würdige Ehrung – eigentlich ein Sieg über das Unfassbare, was die einstigen jüdischen Mitbürger, nicht nur in Gera erleiden, mussten. Mit der »Polenaktion« 1938 wurden auch Aron, seine Ehefrau und Sohn Saul nach Polen abgeschoben und in Lemberg und Belzec ermordet. H. W. überlebte und sein Bruder Michael, letzterer floh nach Palästina und kam später auch in die USA.
Ich danke der Stadt Gera, dem Stolperstein e. V., Gunter Demnig, der hier verlegt – und allen Beteiligten für diese wichtige Ehrung, die nun eine sichtbare, längst überfällige Erinnerung ist. So werden Steine zu Denkmälern, als Rufer, Mahner und Erinnerer. Diese Steine sollten zum Denken, zum Andenken und Nach-Denken anregen. Vergessen wir sie nicht, wenn wir hier in den Straßen unterwegs sind.
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