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Michael Knoche
Erstdruck in Die Horen 64 (2019) Nr. 276, S. 46–55. In der vorliegenden leicht gekürzten Fassung vom Autor autorisiert für den Thüringer Literaturrat e.V.
Wolfgang Haak lässt in seinen Gedichten, Prosagedichten und Romanen stets erkennen, wo er herkommt: aus Thüringen. Zwar wurde er am 28. Januar 1954 in Genthin, Sachsen-Anhalt, geboren, aber schon als Dreijähriger ist er ins Thüringische zurückgekehrt, wo auch seine Vorfahren zu Hause waren. Später hat er in Jena Mathematik und Physik für das Lehramt studiert, war Lehrer und von 1991 bis 2019 Schulleiter des Musikgymnasiums Schloss Belvedere Weimar. In der Wendezeit war er einer der Sprecher des Neuen Forums Weimar. In dieser Zeit ist das Gedicht »Ausflug« entstanden.
ausflug
hier stand ich als kind
und der nabel der welt
hieß taupadel,
im katzenstillen dorf
zwei hahnenschreie von
der welt entfernt.
mit klopfendem herzen
stieg ich auf den gleisberg,
als könnte ich von dort oben
meine zukunft erblicken.
über golmsdorf und kunitz
kehrte ich nach jena zurück
und ahnte nicht:
mein lebensweg führt über taupadel,
meine zukunft liegt katzenstill
zwei hahnenschreie von der welt.
Nördlich von Jena gibt es den Alten Gleisberg und den benachbarten Großen Gleisberg, von dem aus man auf der anderen Saaleseite die Dornburger Schlösser sehen kann. Hier gibt es Golmsdorf, Kunitz und das winzige Dorf mit dem wohllautenden Namen Taupadel, das heute zu Bürgel gehört. Man glaubt, beim Autor eine gewisse Lust zu spüren, diese Namen anklingen zu lassen.
Das Gedicht besteht aus drei Strophen und beschreibt in drei Schritten eine einfache Bewegung: Den Ausflug nach Taupadel (sechs Verse), den Aufstieg auf den Gleisberg (vier Verse), schließlich die Rückkehr nach Jena (sechs Verse). Von den 64 Wörtern des Gedichts werden alle belangvollen wiederholt: ich, Welt, Taupadel, katzenstill, Hahnenschreie, Zukunft. Sie kehren wieder wie in einer Musikkomposition in Rondoform.
Erzählt wird von einer enttäuschten Hoffnung, die das lyrische Ich als Kind erlebt hat. Bei dem Ausflug auf den Berg war es zu keiner Erkenntnis über seine Zukunft gelangt. Aber dem Erwachsenen ist klargeworden, dass sein Lebensweg nicht über die »Welt« (Jena?), führt, sondern über den »katzenstillen« Kindheitsort Taupadel. Mit »Lebensweg« ist wohl kaum eine berufliche Laufbahn gemeint, denn dafür bieten die zwei Dutzend Häuser des Dorfes keine Basis, es muss um eine innere Ausrichtung gehen. Taupadel, der vom Kind als »Nabel der Welt« empfundene Ort, erweist sich als der rechte Kompass.
Die Wörter »katzenstill« und »zwei Hahnenschreie« reichen aus, um die Abgeschiedenheit des Dorfes im Gegensatz zur Welt zu charakterisieren. Das Gedicht berührt, weil es den Wunsch nach Selbstvergewisserung ungeschwätzig und bilderstark auf den Punkt bringt.
Zweiundzwanzig Jahre nach der Veröffentlichung des Gedichts »Ausflug« kommt Wolfgang Haak in einem kurzen Prosatext noch einmal auf die Landschaft um Taupadel zurück.
Über den Alten Gleisberg hinweg
Hinter mir Taupadel, vor mir der Alte Gleisberg. Über den Südhang getupft purpurne Bluttropfen. Die Blüten der Pfingstrosen. Mit dem Wurzelstock in der Hand beginne ich die Flur neu zu vermessen und verschiebe die Grenzsteine meiner Erinnerungen. Auf der Höhe stehe ich an den Brandplätzen der letzten Osterfeuer. Die laute Welt murrt fern. Eine Goldammer singt das Lied von der Einsamkeit. Da capo, da capo, al fine. Abstieg durch die Buchenhallen des Nordhangs. Ratlos halte ich Rast am verlassenen Dachsbau und sehe überwinterte Blätter wie Träume zu Tal wirbeln. Ich finde jene Zeile wieder: Auch das Vergangene ändert sich täglich. Also lasse ich die Flasche kreisen und trinke mit den Schatten der Wandergenossen von einst. Hinter Löberschütz gerate ich am Rand einer stillgelegten Strecke auf das Abstellgleis. Ein Geisterzug fährt lautlos vorüber. Mein Tagwerk beschließe ich Wort für Wort als Streckenläufer auf abschüssiger Lebensbahn. Vor mir Taupadel, hinter mir der Alte Gleisberg. Rüttelnd steht der Bussard im letzten Blau.
Wieder wird eine Wanderung geschildet, die uns schon aus dem Gedicht bekannt ist: Aufstieg auf den Alten Gleisberg und Rückkehr – diesmal nicht nach Jena, sondern auf einem Umweg über Löberschütz – nach Taupadel. »Hinter mir Taupadel, vor mir der Alte Gleisberg,« heißt es am Anfang, »Vor mir Taupadel, hinter mir der Alte Gleisberg,« heißt es im vorletzten Satz, bevor wie mit einem abschließenden Kameraschwenk der Bussard im Rüttelflug als letztes Bild stehen bleibt.
Trotz des Frühlings herrscht ein elegischer Ton. Der Wanderer, mit dem Wurzelstock in der Hand, bewegt sich nicht nur in der realen Welt. Er kodiert die wahrgenommen Phänomene in seiner Phantasie um. Er sieht rote Bluttropfen, wenn er auf Pfingstrosen trifft. Er hört die Goldammer das Lied der Einsamkeit singen, wenn er ihre Stimme vernimmt. Er sieht Träume, die zu Tal wirbeln, wenn er auf vom Wind aufgewühlte Blätter stößt. Er lässt die Flasche kreisen, aber kein Wandergenosse ist bei ihm. Irgendwann gerät er auf ein Abstellgleis, aber er sieht sich auf abschüssiger Lebensbahn.
Hier wird das poetische Verfahren Wolfgang Haaks sichtbar. Die wahrgenommene Welt verwandelt sich in innere Bilder und surreale Phänomene, oder besser umgekehrt: Das Ich sieht wie Don Quijote bei seinen Abenteuern wundersame innere Bilder und hält sie für die eigentliche Realität. Bei Cervantes müssen wir lachen, weil die Diskrepanz zwischen den beiden Welten zu groß und zu komisch ist. Haaks Bilder sind nicht spaßhaft, sondern verunsichernd, weil unklar ist, welche Realität, die äußere oder die innere, eigentlich gilt.
Der Satz: »Ich finde jene Zeile wieder: Auch das Vergangene ändert sich täglich« steht unvermittelt inmitten der Beschreibung der wahrgenommenen Dinge. Diese Stelle scheint mir der Schlüssel für das Verständnis des Textes zu sein: Das Ich ist sich der eigenen Geschichte nicht mehr sicher. Die Grenzsteine der Erinnerung sind verschoben. Die Gegensätze der Wahrnehmung werden nicht aufgelöst. Gleichwohl ist der Grundton des Textes nicht düster, denn die Landschaft kann neu vermessen werden, offenbar in wiederholten Anläufen und mit immer anderen Erfahrungen. Kein anderer Ort bietet sich dafür so an wie die vertraute Topographie um Taupadel, dem Kindheitsort und einstigen Nabel der Welt.
Haaks Texte beziehen sich oft auf eine konkrete Landschaft, die geographisch, geologisch, biologisch, ornithologisch, sprachlich und historisch genau charakterisiert ist, ohne idyllisch oder auch nur intakt zu sein. Aber nicht die Landschaft ist das Thema seiner Texte, sondern das Ich, das in der Landschaft nach der verlorenen Einheit der eigenen Person sucht.
Die Titel von Haaks Prosastücken bestehen fast immer nur ein aus einem Wort: »amsel«, »morgens«, »schnee«, »Erdrutsch«, »Trinkhalle«, »Brauereiteich«. Eine Wortkombination wie »Prager Burg« fällt schon aus dem Rahmen. Manchmal sind mehrere Texte zu Zyklen gruppiert und innerhalb des Zyklus durchnummeriert. Die Zyklen nennen sich z. B. »Luftschiffe«, »Mordgrund«, »Tischgesellschaft« oder »nachtgeschichten für stadtführer«. Dieser Zyklus unterscheidet sich von anderen Textgruppen dadurch, dass er eine beißende Satire auf bestimmte Wendehälse darstellt, die heute Touristen durch die Stadt Weimar führen.
Haaks kurze Prosastücke, für die er von seinem Publikum besonders geschätzt wird, liegen in vier Bänden vor: Die erste Einzelpublikation im Wartburgverlag Weimar (2001) heißt Lebensumwege. Prosastücke in Kurzfassung (herausgegeben und mit einem »Nachsatz« versehen von Wulf Kirsten). 2004 erschien bei Dielmann in Frankfurt a. M. Treibgut, Warmzeit. Kurze Prosa. 2019 ist dort Wort/still/leben. Gedichte und kurze Prosa erschienen. 2008 kam im Quartus-Verlag Bucha Bagatellen. Prosaminiaturen heraus.
In der deutschen Literatur gibt es für Haaks »Prosagedichte« – so würde ich das Genre dieser Texte bezeichnen – nicht sehr viele Beispiele. Unter den neueren Autoren wären vielleicht Ben Witter (Tagebuch eines Müßiggängers, 1962), Jürgen Becker (Die Türe zum Meer, 1983), Christoph Ransmayr (Passagen aus Die letzte Welt, 1988) oder Botho Strauß (Der Untenstehende auf Zehenspitzen, 2004) zu nennen.
Haaks Lyrik ist nicht geschlossen publiziert, sondern verstreut in Künstlerbüchern, Zeitschriften und Anthologien abgedruckt. Hingegen liegen zwei Romane von ihm vor: 2005 erschien Der Sohn des Windmüllers (Dössel), der bereits in den achtziger Jahren geschrieben wurde, aber beim Untergang der DDR-Verlage in der Wendezeit unter die Räder kam, und 2014 der Roman Zeitumstellung (Bucha).
*
Zeitumstellung – es ist ein unwirklicher Moment, wenn morgens um 2 Uhr die Zeiger der Uhr für eine Stunde stehen bleiben, die Züge auf freier Strecke anhalten und der Wechsel von Sommer- auf Winterzeit vollzogen wird. In einer solchen Nacht kehrt Tobler in Wolfgang Haaks Roman Zeitumstellung in das halbverfallene leerstehende Mietshaus der Witwe Keller zurück, um sich an die Zeit zu erinnern, als er hier halblegal in der Wohnung eines abwesenden Freundes gelebt hat. Das gespenstische Haus erscheint Tobler – ähnlich wie dem Landvermesser in Kafkas »Schloss« – wie ein Gebirge oder Labyrinth mit zahllosen Gängen und Räumen, in denen man sich leicht verirren kann. Im Dunkel leuchten verblichene Inschriften heraus »Täglich frische Milch, Betteln verboten, Wählt die Kandidaten der Nationalen Front«, und ein Kind singt »Maria durch ein‘ Dornwald ging, Kyrieeleison«. Die Geschichte changiert zwischen Traumwelt, erinnerter und real erlebter Zeit.
Die Person, die Tobler zuerst trifft, ist Zörgel, der Spitzel. Er lebt noch immer im Wahn seines Überwachungsauftrags und zeigt Tobler in einem Kellerzimmer Schnappschüsse, die er von ihm heimlich aufgenommen hat. Dann taucht in seiner Erinnerung Frau Keller auf, die Wohnungsbesitzerin, und fordert eine rückständige Miete ein. Er begegnet seiner alten Freundin Monika, der Fischverkäuferin. Sie riecht nach Zitrone mit einem leichten Hauch von Fisch und atmet warmen Pfefferminzduft. Mit ihr geht nicht nur Tobler ins Bett. Aber eigentlich erwartet er eine andere Frau.
Zum Heizen braucht Tobler Kohlen, die er nur unter der Hand bekommen kann, weil ihm das Wohnungsamt keinen Brennstoffbezugsschein ausstellt. So fällt ihm Richard ein, der Kohlenträger, der im Vorderhaus wohnt und schwerer Alkoholiker ist. Dieser feiert mit dem Ladendieb Dietsch und seinen Kumpanen, die alle nicht in das Raster des Arbeiter- und Bauernstaates passen, zwischen Mülltonnen und Hinterhofmauern ein wüstes Gelage mit Gesang, Schnaps und Bratwürsten. Später pochen Müller und Schmidt, die Parteigenossen, hart an Toblers Tür und wollen ihn, den zwischen Trotz und Furcht Schwankenden, zur Ausübung seines Wahlrechts zwingen. Im Vorderhaus, im Hinterhaus, in der Toreinfahrt, auf Kellertreppen, Bodenstiegen und in den leeren Höhlen der Fenster begegnet Tobler nach und nach dem ganzen Panoptikum von Gestalten des Mietshauses wieder.
Besonders anrührend ist die Geschichte von Irma, der Milchverkäuferin. Sie hat einen Liebhaber unter den russischen Soldaten der Stadt, der sie immer mittags für ein Schäferstündchen zwischen Butterblöcken, Milchkannen und Quarkschüsseln aufsucht. Aber die Militärpolizei ist ihm bereits auf der Spur, und eines Tages wird er auf der Flucht über den nahegelegenen Friedhof gnadenlos erschossen. Das Kind darf Irma noch zur Welt bringen, aber es wird ihr weggenommen.
Die Figur Tobler, die alles erlebt, hält die Geschichten zusammen. Über ihn selbst erfährt der Leser – ähnlich wiederum wie bei Kafkas Landvermesser – nur wenig. Was er beruflich macht, bleibt ungewiss. Es geht nur darum, was Tobler sieht und fühlt und träumt. Alle Gegenstände, die mit dem Haus verbunden sind und in sein Blickfeld geraten, werden auf das Genaueste beschrieben: Die Balkone ohne Geländer, der Schwarm Krähen, der das Gemäuer belebt, oder der Apfelbaum im Hof. Er verliert, heißt es, seine Blätter in unterschiedlichen Phasen, die einen beim ersten Windhauch, die Trotzigen unter ihnen erst, wenn sie bei zunehmender Windstärke sich nicht mehr halten können und loslassen müssen. Dann werden sie heftig aufgewirbelt und kommen noch ein Stück in der Welt herum, bevor sie in den Dachrinnen landen und die Fallrohre verstopfen. Es ist diese Nahsicht auf die Dinge, die Haaks Roman so atmosphärisch dicht machen.
Die Geschichten laufen am Ende wie in einer Spirale immer schneller auf den Zusammenbruch der politischen Verhältnisse zu. Die Personen haben wie Tobler bei seinem Gang durch das unheimliche Haus die Orientierung verloren. Der Parteigruppenleiter macht einen letzten Versuch, Tobler zum Eintritt in die SED zu überreden, gerade jetzt, »wo wir mit uns sehr selbstkritisch ins Gericht« gehen. Der Ladendieb Dietsch wird vorzeitig aus der Haft entlassen, der Spitzel Törgel heizt seinen Ofen mit Akten. So ist der Roman vor allem ein präzises Zeitportrait der letzten Tage der DDR, als die Welt äußerlich noch unerschütterlich bestand, aber die Erosion der Gewissheiten weit fortgeschritten war. Das vorletzte Kapitel enthält einen sarkastischen Ausblick auf die Biografien der Hausbewohner in den Jahren nach der Wende, wo alles vorkommt: Aufbruch, Anpassung und Untergang.
Gebaut ist der Roman wie ein Kammerspiel: Es gibt nur einen einzigen Schauplatz, das Mietshaus in einer Kleinstadt der DDR kurz vor der politischen Wende. Man könnte auch an ein Gemälde von Bruegelscher Art denken, das uns einen Berg von einem Haus mit vielen Kammern, bevölkert mit zahllosen Menschen, zeigt. In 72 kurzen Kapiteln auf 192 Seiten erzählt Wolfgang Haak viele kleine Geschichten, die auch für sich stehen könnten. Sie machen ihre Protagonisten zum Teil auf liebevolle, zum Teil auf satirische Art kenntlich. Die Episode, wie der Kohlenträger mit dem Hilfsheizer aus der Stadtgärtnerei nach einem Fest im Hof alleine dasitzt und seinem Freund mit bezechtem Kopf lallend mitteilt, dass er ihm jetzt gerne einen Schlag in die Fresse versetzen möchte, hat Beckettsche Qualität.
Es ist kein Wunder, dass Tobler beim Gang durch das Haus immer wieder das Lied von dem abgestorbenen Dornwald hört. Es beschwört das Bild von Unfruchtbarkeit und Tod herauf, bevor die Dornen beim Vorübergang Marias mit dem göttlichen Kind zu blühen beginnen. Die »Zeitumstellung« mit ihrer unwirklichen zusätzlichen Stunde bedeutet keinen Zeitverlust, sondern einen Zuwachs an erinnerter Zeit.
Wolfgang Haaks Titel sind in ihrer Lakonie immer gut gewählt, seien es die für die Gedichte, für die kurzen Prosastücke oder die beiden Romane. Wenn man einen Gesamttitel für sein bisheriges Werk suchte, fände ich »Bagatellen« geeignet. Mit diesem Wort werden in der Instrumentalmusik inspirierte kleine Werke bezeichnet. Beethoven hat die Gattung durch seine gleichnamige Folge von musikalischen Aphorismen geadelt. Bagatellen – das trifft den Charakter von Haaks Dichtung sehr gut: Seine Poesie kommt scheinbar einfach daher, aber sie erschließt eine genau lokalisierbare Welt in ihrer Gegensätzlichkeit. So entstehen große Kleinigkeiten.
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