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Ulrike Gramann
Marta Press, Hamburg 2017. Der Abdruck des Romanauszuges erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.
Ehrling kam einmal in der Woche nach H. Dort war das Werk. Die erwachsene Bevölkerung der Kleinstadt H. und der umliegenden Ortschaften arbeitete im Werk. In H. befand sich die Erweiterte Oberschule, in der halbwegs neuen, von Birken bestandenen Waldsiedlung. Der Bahnhof, die Kastanien, die jetzt in Blüte kamen, und daneben das Kulturhaus, das dem Werk gehörte. Das Kulturhaus hatte einen Zeichenzirkel eingerichtet, den die Arbeiter in der Freizeit besuchen sollten. Die Teilnahme war kostenlos, wie die Benutzung der Bibliothek kostenlos war. Nur das Bier im Keller kostete vierzig Pfennig. Der Zeichenzirkel bestand aus der Bibliothekarin, einer Lehrerin aus dem Nachbarort, einem Bauingenieur, einer Chemielaborantin und Ehrling.
Im Werk wurde Industriekeramik hergestellt. In den Ferien nach meinem vierzehnten Geburtstag habe ich zum ersten Mal im Werk gearbeitet. Ich kontrollierte elektronische Bauteile. Ich schob jedes Bauteil mit der Pinzette unter die Lupe. Ich fragte die Arbeiterin neben mir, wozu die Teile dienten. Sie wusste es nicht. Das war in den Winterferien. Im Sommer arbeitete ich in einem Labor. Ich hatte stundenlang nichts zu tun, weil es in den Räumen zu heiß für die Messgeräte war. Die Leute an den Maschinen mussten warten, bis es sich so weit abkühlte, dass die empfindlichen Geräte korrekt messen konnten. Es durften sich nicht zu viele falsche Messwerte ergeben, denn die Werte waren die Werte, und sie mussten immer korrekt sein. Ich lernte, alles so zu machen wie die Arbeiterinnen und nichts zu fragen. So lange ich noch nicht in der Elften war, erzählte ich auch nicht, dass ich studieren wollte. Ich saß in der Kantine und aß mein Brot wie die Arbeiterinnen und holte meine Zigaretten nicht raus, weil die Frauen Kinder hatten, die waren so alt wie ich. Sie wollten nicht, dass Kinder rauchen. Nachher mit sechzehn durften wir Schichten arbeiten. Ich schlief in der Frühschicht ein; in der Mittelschicht verbrannte ich mir den Arm am Muffelofen; in der Spätschicht hörte ich die Witze des Meisters an. Mit sechzehn rauchte ich offen meine filterlosen Zigaretten. Die Frauen in der Sinterfertigung trugen keine Kittelschürzen wie die in der Qualitätskontrolle, sondern blaue Latzhosen, die über dem Bauch, auf den Brüsten und an den Oberschenkeln fettig schwarz glänzten. Jede stand vor einer Presse, mit der aus Metallstaub Teile gefertigt wurden, deren Verwendungszweck uns ebenfalls unbekannt war. Der Griff, mit dem die Presse in Bewegung gesetzt wurde, musste immer mit beiden Händen bedient werden. Die Rohlinge, kohlschwarze Bauteile, wurden gesintert. Sintermetalle sind extrem harte und verschleißbeständige Werkstoffe, die durch Druck und hohe Temperaturen verdichtet werden. Die Arbeiterinnen benutzten Männertaschentücher. Wenn sie sich damit die Nase putzten, wurden die Taschentücher schwarz. An den Trockenpressen bekamen alle einen Schmutzzuschlag. In der anderen Abteilung, in der die Bauteile nicht aus Pulver, sondern aus Schlamm hergestellt wurden, bekamen die Arbeiterinnen Rheuma. Die Nasspressen wurden von den Arbeiterinnen Matschpressen genannt. Zur Spätschicht ging ich zu Fuß und fuhr zurück mit dem Schichtbus, zusammen mit zwei oder drei anderen Frauen. In der Pause redeten sie, auf der Heimfahrt schwiegen sie. Wenn ich Frühschicht hatte, fuhr ich mit dem Fahrrad. Im Wald wurde es langsam hell, und ich hatte keine Angst vor dem Mann, von dem die Frauen im Werk sagten, dass er an der Birkenlinie lauern würde. Ich stellte mich in den Pedalen auf und fuhr mit einem Schwung den Hang hoch, hinter dem die Oberschule lag und dahinter wieder das Werk, das sich auf die ganze Länge von H. erstreckte, und die Bahn führte gerade durch.
Deshalb führte die Bahnlinie später, als das Werk größtenteils stillgelegt war, durch Industrieruinen. Die Hallen wurden besenrein gemacht und abgeschlossen. Aber wenn eine Scheibe zerschlagen wurde, gab es niemanden mehr, der sie ersetzte. Glas bedeckte den Boden, durch die Fensterhöhlen flogen Tauben ein und aus, und dann übernahmen Tiere und Pflanzen die Hallen, zuerst Tauben und Hexenringe, Schimmelpilzkolonien. Noch später, wenn Dächer einstürzten, würden Gras, Birken und Königskerzen kommen und Stalkereinsamkeiten. Wenn nicht jemand die Hallen kaufte, die Fenster schlösse und Einkaufscenter oder Handwerksbetriebe dort ansiedelte. Dann würden wieder Jugendliche dort hinkommen, vielleicht.
Als ich zum Zeichenzirkel ging jedenfalls, arbeiteten alle Jugendlichen der Umgegend in den Ferien im Werk. Die Abiturienten gingen zusätzlich einmal in der Woche dorthin, um eine Arbeit zu leisten, die wissenschaftlich-praktisch genannt wurde. Es war ein und dasselbe Werk, es war eine andere Welt. Die Forschungsabteilung, in der ich darauf vorbereitet wurde, eine Studierte zu werden, war mit der Produktion verbunden, ja sie hätte ihr dienen sollen, aber die Beziehungen zwischen Forschung und Produktion waren unterirdisch, unsichtbar. Und keine Arbeiterin und kein Arbeiter ging zum Zeichenzirkel. Das erfuhr ich alles nach Biermanns Ausbürgerung. Aber das ist vielleicht nur ein zufälliger, chronologischer Zusammenhang, der sich in meinem Leben ergeben hat.
In der siebenten Klasse hatte ich alle Bücher aus der Bibliothek des Dorfs gelesen, in dem meine Eltern wohnten. Danach fuhr ich alle zwei Wochen in die Werksbibliothek, um eine Tasche voll Bücher zu holen, die ich las und ohne Verspätung zurückgab. Als ich an die EOS überging, fragte mich die Bibliothekarin, ob ich nicht ein wenig für den Zeichenzirkel werben konnte. Ich warb mich. Sie hatten eigentlich an Schüler der Abiturstufe gedacht, nahmen mich aber trotzdem. Es waren die ersten Erwachsenen, die ich duzte, obwohl sie nicht mit mir verwandt und keine Nenntanten waren. Ehrling kam mit dem Zug von Göschwitz. Er war deshalb immer schon eine halbe Stunde vor Beginn da und räumte in den Zeichenmaterialien, die knapp waren, aber kostenlos. Im November 1976 war ich drei Monate dabei. Ich nahm meine Pastellstifte und ging eine halbe Stunde zu früh hin. Ehrling hatte mir geraten, mit weichen Stiften zu zeichnen. Es sollte gut für die Lockerung der Handgelenke sein. Oder für mich. Ich hatte mir solche Stifte besorgt, aber ich kam nicht der Stifte wegen so früh. Ehrling war aus Burgau, Burgau ein Vorort von Jena. In Jena wusste man einfach mehr als in H. Über alles. Ich sagte den Namen Biermann.
»Kalkül«, antwortete Ehrling.
Kalkül heißt Rechnung, Berechnung, Überschlag.
Ich fragte, ob er meinte, dass die Regierung damit gerechnet hatte, dass Biermann in Köln solche Lieder singen würde.
»Darauf gezählt.«
»Du meinst, es war eine Gelegenheit, ihn auszubürgern?«
»Du kannst Gift darauf nehmen.« Aber der sei jetzt nicht staatenlos. »Jeder DDR-Bürger ist BRD-Bürger, wenn er drüben ist.«
»Aber er will da nicht sein.«
»Nein.«
Im Winter hatte ich Biermann im Radio gehört. Meine Mutter war ins Zimmer gekommen und hatte verlangt, dass ich das Radio leiser stellte. Wegen der Nachbarn.
»Die sehen selber West.«
»Aber nicht so etwas. Sondern Was bin ich und Spiel ohne Grenzen.«
Das waren Spiele ohne DDR darin. Die DDR wäre nicht amüsant gewesen. Aber im Biermann-Radio war sie drin und nicht lustig. Wenn ich das Radio nicht leiser gestellt hätte, hätte ich es ausmachen müssen. »Feind hört mit.« (Das hatte meine Mutter aus einer ganz anderen Epoche.)
Als der Winter vorbei war, redete ich mit Ehrling.
Ob er ein Buch von Biermann hatte?
Er hatte eins oder sogar mehrere. Wenn ich es lesen wollte, musste ich zu Ehrling kommen. Ich könnte so lange darin lesen, wie ich wollte. Oder es abschreiben. Aber nicht mitnehmen.
War das nicht vielleicht verboten, solche Bücher abzuschreiben?
»Du musst ja nicht darüber reden.«
Weitergabe bedeutete, dass jemand über den geredet hatte, der etwas weitergab.
Ehrling wollte sich auf mein Schweigen verlassen.
Ehrling sprach davon, dass einige Schriftsteller protestiert hätten. Ich wusste schon Bescheid. Ein Schriftsteller, dessen Roman über die Schicksale minderjähriger Wehrmachtssoldaten wir im Unterricht behandelt hatten, hatte seine Kollegen deswegen öffentlich beschimpft.
Ehrling sagte, es würden noch viele weggehen.
Göschwitz war eine Adresse in Jena-Burgau. Als ich zu Ehrling nach Göschwitz fuhr, blühte der Raps. Viele gingen weg, aber ich kannte sie nicht persönlich. Über dem Schreibtisch hing ein Bild von Marx. Es war das Einzige, das einen Rahmen hatte. Der Rest waren polnische Plakate, die an die Wand genagelt waren, kleine Pappvierecke auf die Ecken, und dann die Nägel durch. Druckplatten lagen übereinander, mit ein paar Zeitungsbogen getrennt, Aquarellkarton, den Ehrling benutzte, wenn es kein Tiefdruckpapier gab. Im Nebenzimmer stand Ehrling und malte. Polen war das Land, in dem die Kunst weniger begrenzt war. Ich hatte den Namen des Dichters noch nie gehört, der über die Neugasse in Jena geschrieben hatte
»Was hast du in Jena gemacht?«, fragte meine Schulfreundin.
»Ich war in der Bibliothek.«
»Was hast du gelesen?«
»Ich habe ein Buch von Sarah Kirsch gelesen.«
»Haben sie das im Kulturhaus nicht?«
»Nein.«
»Komisch.«
»Ja.«
Als ich eine Jugendliche war, war Sarah Kirsch noch im Land. Ich schrieb die Gedichte von Fuchs und Biermann in ein Buch, das so groß wie ein Klassenbuch und grau eingeschlagen war. Ich wollte Teil dieses Kollektivs von Menschen sein, die Gedichte und ganze Bücher mit der Hand abschrieben und lesen lernten, indem sie schrieben. Ich war sicher, mein graues Buch war verboten. Ein verbotenes Buch versteckte man nicht im Bücherschrank, sondern dahinter. Ich schob es von oben her hinter den Schrank, der schief stand und mit seinem Gewicht in Richtung Wand drückte, so dass das Buch nicht weiterrutschen konnte. Zwei Jahre später sah ich Sarah Kirsch im Westfernsehen. Die Kamera zeigte sie neben einem Baum ohne Blätter, vor nackter Heide, halbfern. Ich merkte mir nur das Bild, nicht was sie sagte und nicht ob Frühling war oder Herbst.
Aber Sarah Kirsch sei doch aus Liebeskummer fortgegangen, sagte jemand.
***
(Und) meine Mutter stand im Garten und schnitt Petersilie für die Suppe ab. Sie sah so verletzlich aus. Meine eigene Haut war ganz kalt und ganz glatt unter dem Regen.
Und wo kam ich her.
Aus Berlin.
Und warum ich kein Telegramm geschickt hatte. Hier war ein Handtuch für die Hände, hier war ein Teller. Meine Mutter ließ gewiegte Petersilie in die Suppe fallen. Sie konnte mir keinen Hausschlüssel geben, denn seit der Scheidung war das Untergeschoss vermietet und Fräulein Becker hatte den Zweitschlüssel. Sie erzählte mir von Fräulein Becker. Auch Erzählung stellt Verbindung her. Fräulein Becker wusch ihre Wäsche im Waschbecken und ließ die Strümpfe im Zimmer trocknen. Eines Tages würden ihre langen, blondierten Haare den Abfluss verstopfen, denn sie wusch auch ihre Haare im Waschbecken. Wo sonst?, dachte ich. Aber ich bekam Fräulein Becker nicht zu Gesicht.
»Was stehst du wie fremd.«
Ich setzte mich.
Und ob die Suppe war wie früher.
»Ja. Genau wie früher.«
Und warum ich so plötzlich gekommen war, ein Telegramm zum Beispiel hätte sich gehört.
Ein Telegramm hätte sich gehört. Ein Telegramm hätte nichts geändert. Ich nahm die Teller und wusch sie ab. Ich war gekommen, weil ich eine Unterschrift brauchte. Ich hatte ein Schreiben vorbereitet.
»Hiermit bestätige ich, Annegret Stein, geborene Grüber, geboren am 18. Februar 1925 in Görschdorf, dass meine Tochter Inge Stein, geboren am 15. Januar 1961 in Jena, bei mir nicht verschuldet ist noch dass ich ihrer Pflege bedarf. Datum Unterschrift.«
Meine Mutter las das und machte eine Bewegung, an deren Ende ihre Hand auf meinem Gesicht landete. Nicht mit der Wimper zucken. Es schmeckte alles wie immer. Es hatte nie wehgetan. Ja, ich würde ausreisen. Ja, deshalb brauchte ich diese Unterschrift. Nein, es gab keinen speziellen Grund. Der Grund war: alles.
Und was Pflege hieß? Sie war gesund.
Aber so lautete die vorgegebene Formulierung.
»Du hast mich nie nach Berlin eingeladen, du wirst mich nicht in den Westen einladen.«
Das Wort dafür hieß Undankbarkeit, und ich nahm es genau wie die Backpfeife, keine Überraschung, etwas Peinlichkeit, aber kein Schmerz.
Meine Mutter begann zu weinen.
Ich lehnte am Spülstein und trocknete mir die Hände am Geschirrtuch ab.
Was sollte denn »alles« sein?
Alles war, dass ich erstickte.
Brauchte ich Geld, war es das.
Nein.
Hatte ich einen Kerl im Westen.
Ich hatte keinen Kerl.
Hatte ich nicht gehört, wie viele Menschen keine Arbeit hatten, im Westen.
Ich hatte es gehört.
Und wo wollte ich leben.
(In einer Wohngemeinschaft.) Ich sagte nichts, ich wusste schon, wie das ausgehen würde, ich wusste nicht, ob ich die Schwächere war, und wollte nicht die Stärkere sein. Ich benötigte diese Unterschrift. Ich sagte, dass es aufgeklart hatte, der Regen aufgehört hatte, dass wir etwas laufen sollten. Dass wir zu den Sümpfen laufen sollten.
(…) Meine Mutter schlüpfte in ihre Schuhe mit dem nicht zu kleinen Keilabsatz und schickte den Blick rücklings ihre Beine hinunter. Sie waren noch schön. Ein paar lange Haare ringelten sich unter dem Dederon. Ich hatte jahrelang nicht an Zuhause gedacht.
»Wer nach Berlin geht, ist schon halb im Westen.«
Das wusste ich schon. War jemand hier gewesen?
»Dass du dein Studium hingeschmissen hast, hast du auf einer Postkarte geschrieben. Wovon du lebst, hast du nicht geschrieben.«
»Ich arbeite.«
»Man rutscht leichter ab, als dass man sich hocharbeitet.«
»Es ist interessante Arbeit.«
»Interessant.«
Sie spuckte das Wort hin.
»Für Buchverlage.«
»Du hättest Lehrerin werden können!«
»Hätte ich. War jemand hier?«
»Wer soll hier gewesen sein?«
»Um nach mir zu fragen.«
»Was hast du gemacht, dass wer nach dir fragen sollte?«
»Nichts.« Ich hätte nicht fragen sollen. Ich sagte: »Lass uns auf die Sümpfe gehen.«
Ich hatte meine Schuhe nicht ausgezogen. Sie sah es jetzt. Sie sagte nichts. Ich nahm mein Notizbuch aus dem Rucksack und steckte es ein. When the music’s over. In meinem Kopf. Das Licht ausmachen. Wer zuletzt geht. Turn out the light. Im unteren Flur schloss sie die Zwischentür ab. Das hatten sie früher nie gemacht. Aber jetzt gab es Fräulein Becker. Ich würde nicht zuletzt gehen. Meine Mutter seufzte, als sie das Haus abschloss.
»Verkauf das Haus«, sagte ich. »Zieh in die Waldsiedlung, zu deiner Rente hast du schön was dazu, wenn du das Haus verkaufst. Und du hast keinen Ärger mit Handwerkern mehr.«
»Es ist mein Vaterhaus.«
»Der Opa ist lange tot.« (Und warum brach ich das jetzt vom Zaun?)
»Deine Schwester will es nicht«, sagte sie, »dass ich verkaufe.«
»Meine Schwester«, sagte ich, »wird nie hier einziehen. Wenn sie etwas nicht will, ist es das Haus. Ob du verkaufst, bestimme ich nicht und nicht meine Schwester.«
»Und du willst es auch nicht.«
»Nein, Mutter. Nicht mal, wenn ich hierbleibe.«
»Ihr werdet mir einen Vorwurf machen, später.«
Ich würde ihr keinen Vorwurf machen.
»Weil du lieber in den Westen gehst.«
»Egal, ob im Osten oder im Westen.«
Die Straße mündete in einen nadelbestreuten Waldweg. Kiefern, am Eingang des Waldes standen Kiefern, erst nach hundert Metern fing der Mischwald an, und je mehr man sich den Sümpfen näherte, desto feuchter wurde es. Man ging auf Kies, rechts und links Gräben, viele Birken, vereinzelt Erlen zwischen den Bäumen. Sie hatten mir früher immer erzählt, dass der Arbeitsdienst diese Wege gerichtet hatte. Als ich noch nicht wusste, was der Arbeitsdienst war. Später hatte ich Spaziergänge verweigert. Ich war mit dem Fahrrad hingefahren, allein, und war stundenlang auf den Sümpfen gewesen. Sie sagten so: auf den Sümpfen. Die Sümpfe lagen voll in der Sonne, und letzte Tropfen vom Regen glänzten auf dem Gras. Die stumpfe Oberfläche der Schilfblätter war schon trocken, trocken würde sie bald wieder rascheln, bewegt von schnellen, unsichtbaren Fingern. Wir gingen den Bohlenweg bis zu einer Bank, die unter einem einzelnen Baum stand und mit der der Weg endete. Dahinter war es zu sumpfig. Ich habe nie erfahren, ob man in den Sümpfen wirklich so tief versinken konnte, dass man sich nie mehr befreien würde. Im Dorf wurde nicht über so etwas geredet. Ich kannte trockene Wege, die durchführten, ich war da oft gegangen und hatte früher da gespielt. Mit meiner Mutter würde ich nicht hingehen. Sie würde sich aufregen, nachträglich. (Und ich regte sie so genug auf.) Dabei kannte sie die trockenen Stellen mit Sicherheit auch. Sie war hier geboren, sie hatte immer hier gewohnt. Und seit es die Keramischen Werke gab, hatten die Leute hier in den Werken gearbeitet, dort, jenseits der Sümpfe. Und der Anblick der Hochspannungsprüfanlage war den Leuten vertraut, auch das Knistern und Krachen, wenn sie Versuche machten, deren Blitz und Donner sich in der trockenen Luft entlud. Ich hatte geglaubt, dass es bei uns zu viel Elektrizität in der Luft gab und wir alle aufgeladen waren durch freie Elektrizität. Ich glaubte es noch immer. Meine ganze Spannung kam von diesem Ort.
»So. Und ich muss das also unterschreiben.«
»Es wäre gut. Ich wäre dir dankbar. Ja.«
»Dankbarkeit.« (Genau der Ton wie »interessant«.)
»Ich habe doch wirklich keine Schulden bei dir.«
»Wie du dir das vorstellst.«
Ja, wie stellte ich mir das vor.
»Du warst meine Kleine.«
Ich zögerte, dann sagte ich, dass sie Rentnerin war. Sie konnte beinahe jederzeit in den Westen kommen.
Sie wollte nicht.
Und eigentlich war es mir recht. Ich schaute über die Sümpfe. Weiter hinten liefen Schienen und endeten unter bräunlichem Wasser, dessen schwarzer Grund den Himmel schluckte. Früher hatte es hier eine Bahn gegeben. Moor war abgebaut und in ein Moorbad gebracht worden. Jetzt war alles verkommen. Und obwohl nun keine Loren mehr über die Schienen liefen und ihr Gewicht keinen Druck mehr ausübte, war die Schienenstrecke bald in den weichen Grund gesunken, als sei die Last erst zu viel geworden, als sie fehlte. (…) Weiter hinten lag eine verrostete Lore schräg und halb im Wasser. Und die Bretter, aus denen diese Bank hier gezimmert war, vermorschten. Und ein Mann aus meinem Jahrgang hatte ein Buch geschrieben, das »Hineingeboren« hieß. Das musste ich ihr nicht erzählen. Und was hätte ich ihr damit auch sagen wollen.
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