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Antje Babendererde
Isegrimm, Arena Verlag, Würzburg 2016. Der Abdruck erfolgt mir freundlicher Genehmigung des Arena Verlags Würzburg.
Synopsis
Jola lebt in einem kleinen Dorf in Thüringen und ist mit Kai zusammen, den sie ihr Leben lang kennt. Am liebsten ist sie draußen im Wald und beobachtet Tiere, eine Freizeitbeschäftigung, der Kai und ihre Freundin Sassy nur wenig abgewinnen können.
Doch in diesem Sommer ist alles anders. Ein mysteriöser Dieb treibt sein Unwesen im Dorf, Jola und ihre Freunde kommen einem alten Nachkriegsgeheimnis auf die Spur und Gerüchte tauchen auf, dass der Mann, der Jolas beste Freundin ermordete, und sich nach seiner Verhaftung selbst richtete, gar nicht der wahre Mörder war.
Jola fühlt sich auf einmal beobachtet in ihrem Refugium, und eines Tages macht sie eine merkwürdige Entdeckung, die ihr Leben und das des Dorfes verändern wird.
***
Ich verschlucke einen ungläubigen Laut, als ich die winzigen Mäusekadaver im Gezweig erblicke, vier an der Zahl, blutig gepfählt auf den langen Dornen des Schlehenstrauches.
Er ist nicht in der Nähe, der Würger mit seiner schwarzen Augenbinde, sonst hätte er mich längst entdeckt. Behutsam schiebe ich einen Zweig zur Seite und da ist es, das ein wenig unförmig geratene Nest. Sieben grünliche Eier mit purpurnen Flecken liegen in ihrer flauschigen Mulde aus Wollgras, Daunenfedern und Tierhaar.
Tierhaar? Ich schaue genauer hin. Nein, dafür ist es zu fein, zu lang. Eine gelockte Strähne hat sich vom dornenbewehrten Panzer des Nestes gelöst, die hellen Haare bewegen sich sacht im warmen Maiwind. Menschenhaar, durchzuckt es mich. Schaudernd lasse ich den Ast los, der mit einem Rascheln zurückschnippt.
Plötzlich ein raues Kreischen dicht über mir. Das weiße Nackengefieder des amselgroßen Vogels ist gesträubt, der Kopf nach vorn gestreckt, sein langer Schwanz aufgefächert wie bei einem Pfau. Vor Schreck mache ich eine unbedachte Bewegung, meine Füße verlieren den Halt auf dem umgestürzten Birkenstamm und ich rausche durch die Zweige der Schlehe. Dornenspitzen ritzen meine Haut wie scharfe Nadeln, verhaken sich in meinem T‑Shirt und zerren an meinem Haar. Mit einem heiseren Schrei lande ich auf dem Hosenboden im Gras.
Der weiß-schwarze Vogel mit dem dunklen Hakenschnabel scheppert und kreischt. So wütend kann Angst klingen. Für den Würger bin ich ein Feind, der Vogel verteidigt seine Brut und seine makabere Vorratskammer.
Ich will ihn nicht stören. Schnell rappele ich mich auf und schultere meinen kleinen schwarzen Rucksack. Mit hastigen Schritten laufe ich quer über die Wiese zum Waldrand, tauche in den blauen Schatten der Kiefern. Mein Herz rast, doch der Aufruhr kommt nicht allein vom Schreck, den der Vogel mir mit seinem Gezeter eingejagt hat.
Ich kenne jede Ecke, jeden Winkel dieses Waldes, jeden Baum, jeden Stein und jede Kuhle, und ich bin ganz bestimmt kein Angsthase – doch gegen die grauenvolle Erinnerung, die das gelockte Haar am Nest des Vogels in mir heraufbeschwört, bin ich machtlos. Sie fährt mir unter die Haut wie ein scharfer Splitter.
Unvermittelt ist alles wieder da, frisch, schmerzhaft und beklemmend. Vor fünf Jahren verschwand aus unserem Dorf ein elfjähriges Mädchen. Alina, ein blondgelockter Engel – meine beste Freundin. Ein Mann aus unserem Dorf hatte sie getötet, aber ihre sterblichen Überreste hatte man nie gefunden.
Ich stolpere über eine Wurzel und unterdrücke einen Fluch. Als ich den Kopf einziehe, um mich unter einem Kiefernast hinweg zu ducken, spüre ich plötzlich die dunkle Schwere eines Blickes in meinem Rücken. Die feinen Härchen auf meinen Armen richten sich auf. Wer sollte mich hier beobachten?
Ich fahre herum, mein Blick hetzt über das Dickicht von Beerensträuchern, Birkengestrüpp und Kiefernschösslingen. Meine Sinne sind angespannt, meine Atmung beschleunigt sich, Kälte steigt mir das Rückgrat hinauf.
Da … ein leises Rascheln hinter dem Gesträuch. Bin ich nicht allein? Schwachsinn, sagt mein Verstand, doch mein Blick versucht fieberhaft das wuchernde Grün zu durchdringen. Ein Reh vermutlich. Was sonst? Ich spüre das Pochen meines Herzens im ganzen Körper.
»Hallo«, rufe ich. »Ist da wer?«
Meine Stimme klingt fremd und wacklig. Ich stehe und lausche, bis mir die Ohren dröhnen. Das Knacken brechender Zweige beendet die Stille und mein Mut schrumpft. Ich drehe mich um, gehe ein paar Schritte rückwärts, dann laufe ich los. Ich achte nicht auf die Äste, die mir ins Gesicht peitschen und nicht auf meinen Rucksack, der mir gegen den Rücken schlägt. Wie gehetztes Wild springe ich über Wurzeln und am Boden liegende Äste, schliddere einen Grashang hinunter und komme wieder auf die Füße. Ich kann ziemlich schnell und lange rennen, ohne aus der Puste zu kommen, aber diesmal keuche ich wie eine alte Frau.
Das macht mich wütend. Ich bin die Herrin des Waldes, er ist mein Refugium – und ich habe mich von einem lächerlichen Knacken in die Flucht schlagen lassen, bloß wegen einer dämlichen Haarsträhne an einem Vogelnest.
Lass es nicht zu, Jola, warnt die Stimme in meinem Kopf. Du hast keine Angst. Du kennst keine Angst. Lass nicht zu, dass sie Besitz von dir ergreift, sonst endest du wie deine Mutter. Angst ist eine Falle, Angst macht dich zum Opfer. Sie kann dich auffressen wie ein wildes Tier und nichts als bleiche Knochen übriglassen.
Doch meine Beine werden immer schneller.
Ohne mich umzudrehen oder auszuruhen, lasse ich zwanzig Minuten später die Schatten des Waldes hinter mir und erreiche den Holzstoß am Forstweg. Mein Fahrrad, das mich zurück ins Dorf bringen wird, lehnt an den sauber aufgestapelten Stämmen. Das Adrenalin tobt noch durch meinen Körper, ich habe Seitenstechen – aber alles ist wieder unter Kontrolle. Als ich nach dem Lenker greife, nehme ich im linken Augenwinkel eine schattenhafte Bewegung wahr.
Ein dumpfer Schrei kommt aus meiner Kehle, ich reiße die Arme in die Höhe, stolpere ein paar Schritte rückwärts und setze mich zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Hosenboden. Ein zerzauster schwarzer Lockenkopf erscheint hinter dem Holzstoß, ich blicke in Kais Grinsegesicht.
»Hey, was ist denn mit dir los?«, fragt er mit gespielter Besorgnis. »Du siehst aus, als hättest du ein Eichhörnchen verschluckt.«
Meine Hände tasten über den Waldboden und werden fündig. Ich bewerfe Kai mit Kiefernzapfen und Rinde, schimpfe wie ein Rohrspatz, habe endlich jemanden, an dem ich die Wut über meine Angst auslassen kann.
»Idiot«, stoße ich hervor, »du sollst dich nicht so anschleichen.«
Kai lacht. Sein warmes, vertrautes Kai-Lachen. Mit eingezogenem Kopf und filmreifer Abwehr-Pantomime kommt er auf mich zu und reicht mir seine Hand. Ich greife danach und mühelos zieht er mich hoch.
Kai trägt ausgewaschene graue Cargo-Shorts und sein geliebtes schwarzes Party Hard-T-Shirt, das er sich in Berlin auf unserer Klassenfahrt gekauft hat. Kai Hartung und ich kennen uns, seit wir krabbeln können. Er war mein bester Freund, bis in den Winterferien aus dieser Freundschaft mehr geworden ist.
»Hey, du blutest.« Kai lässt mich los und schiebt mit Daumen und Zeigefinger meinen Kopf zur Seite.
Ich fasse an meine rechte Wange, spüre, wie es brennt. »Ich habe ein Raubwürger-Gelege entdeckt, sieben grünliche Eier. Sie sehen aus wie gemalt, wunderschön. Dabei hab ich mir in der Schlehenhecke wohl das Gesicht zerkratzt.«
Kai betrachtet mich mit einer Mischung aus milder Nachsicht und Spott, aber sein Blick täuscht. Seit wir richtig zusammen sind, geht ihm mein Faible für den Wald und seine Bewohner zunehmend auf die Nerven. Er findet Tiere nur mäßig aufregend. Wie die meisten Jugendlichen, die auf dem Dorf aufgewachsen sind. Außerdem will er mich nicht teilen – nicht mal mit einem seltenen Vogel.
In letzter Zeit läuft es für uns beide nicht mehr so gut. Genaugenommen seit drei Wochen, seit wir das erste Mal richtig miteinander geschlafen haben. Auf einmal habe ich das Gefühl, in einem Kokon gefangen zu sein, eingewickelt in Erwartungen, die mir die Luft abschnüren. Doch in meinem Inneren summt es. Es brodelt. Es bebt. Es wartet.
Worauf? Ich weiß es nicht. Ich warte auf alles Mögliche. Dass etwas passiert mit mir. Dass das Warten ein Ende hat.
***
ola ist der Wölfin und auch dem mysteriösen Jungen Olek immer wieder begegnet. Schließlich hat sie auf dem Truppenübungsplatz die Höhle entdeckt, in der er sich wohnlich eingerichtet hat. Olek ist krank, weigert sich aber, einen Arzt aufzusuchen. Jola hilft ihm und verliebt sich in ihn.
In der folgenden Szene kommt Jola in die Höhle zurück, um Olek Lebensmittel und ein paar nützliche Dinge zu bringen, vor allem aber, um ihn endlich wiederzusehen.
Als ich endlich in Oleks Höhle stehe, ist sein Krankenlager verwaist. Die Nachmittagssonne scheint durch das Fensterloch, sie erwärmt und erhellt den kleinen Raum. Alles ist ordentlich aufgeräumt und sieht irgendwie verlassen aus. Wie eine eiserne Klammer legt sich die Enttäuschung um mein Herz.
Hat Olek sich aus dem Staub gemacht? Sicher das Naheliegendste, wenn man etwas Schlimmes getan hat. Wieso sollte er mir vertrauen? Weil ich ihm das Leben gerettet und ihm etwas zu essen gebracht habe? Was hast du dir bloß erhofft, Jola? Völlig erledigt lasse ich mich auf Oleks Matratze sinken und befreie mich aus den Riemen des Rucksackes.
Ja, verdammt, er hätte mir vertrauen müssen. Immerhin weiß ich schon seit ein paar Wochen von seiner Existenz, weiß, dass er der Dieb ist und habe ihn nicht verraten. Wenn irgendjemand im Dorf herausbekommt, dass ich ihn decke und ihn auch noch mit Lebensmitteln versorge, wird mein Ruf vollkommen ruiniert sein. Ich kann sie schon hören, die Alten. Nestbeschmutzerin. Räuberbraut. Polackenliebchen.
Er ist weg, Jola.
Hat alles stehen und liegen gelassen und hat sich aus dem Staub gemacht. Offensichtlich hat das Cefuroxim schnell gewirkt. Im Grunde muss ich mich darüber freuen. Aber wenn Olek weg ist, was wird dann aus mir?
Ich lege die Arme auf meine Knie, lasse den Kopf darauf sinken und fange an zu heulen. Meine Schultern zucken, Schluchzer kommen tief aus meinem Inneren und Tränen strömen über meine Unterarme. Ich flenne, wie ich es seit Alinas Verschwinden nicht mehr getan habe.
»Jola.«
Mein Kopf schnellt in die Höhe. Da steht er, nur zwei Meter von mir entfernt. Er trägt den Holzbogen quer über der Brust, fünf oder sechs gefiederte Pfeilenden ragen aus dem Köcher auf seinem Rücken und er hält ein totes Kaninchen an den Läufen. Ich schniefe und wische mir mit dem Handrücken über Augen und Nase. Bin völlig hin- und hergerissen. Sprachlos.
Die eiserne Klammer fällt ab und mein Herz beginnt heftiger zu schlagen. Ich bin nicht allein. Wenn ich die Prüfungen vermassele, wenn Kai Schluss macht, wenn niemand im Dorf mehr mit mir spricht, dann kann ich immer zu meinem Waldelf in die Höhle ziehen und mit ihm hier leben.
»Du weinst.« Olek blickt bestürzt.
»Freudentränen«, schniefe ich.
Er legt das Kaninchen auf einem Holzblock neben seinem selbstgebauten Herd ab und befreit sich vom Bogen und dem Rückenköcher, die er beide an die dafür vorgesehenen Haken in der Wand hängt. Er trägt Kais Party Hard-T-Shirt und zum ersten Mal muss ich wirklich über den dämlichen Spruch lachen.
Nachdem der Tumult in meinem Herzen sich ein wenig gelegt hat, finde ich auch die Worte wieder. »Es ist nichts … ich dachte nur, du wärst … weg.«
Olek setzt sich mir gegenüber auf den niedrigen Steintisch, sodass sich bei der kleinsten Bewegung unsere Knie berühren. Der Duft von Kiefernharz, Waldboden und wilder Minze geht von seinem Körper aus.
»Wo soll ich denn hin?«
Seine Frage tröstet und beunruhigt mich gleichermaßen.
»Nach Hause?«
»Das ist mein Zuhause.«
Okay.
»Danke für mein Leben, Jola«, sagt er leise.
Ich murmele ein verlegenes: »War doch selbstverständlich.«
»Hast du … hast du jemandem erzählt von mir und dieser Höhle?«
»Nein, Olek« Ich schüttele vehement den Kopf. »Und das werde ich auch nicht.«
»Gut. Auch von der Wölfin darfst du niemandem erzählen.«
»Mach ich nicht.«
»Versprich es mir.«
»Ich schwör’s.«
»Gut.« Sein schiefes Lächeln lässt mein Herz erneut schneller schlagen.
»Sie … sie hat Welpen, nicht wahr?«, stoße ich hervor.
»Vier Stück.«
»Gibt es einen Rüden?«
»Nein.« Er schüttelt den Kopf. »Sie ist …«, Olek scheint nach einem passenden Wort zu suchen. »Alleinerziehend«, sagt er schließlich. »Ist Stress so allein mit den vier Kleinen, deshalb ich helfe ein bisschen.«
Oleks Deutsch ist gut. Ein paar Worte sind verdreht, aber ich verstehe ihn bestens.
»Du hilfst ihr ein bisschen?« Ich deute auf den Bogen an der Felswand. »Damit?«
»Ja.«
»Was du da tust, Olek, wird nicht ewig unentdeckt bleiben. Mein Vater, er ist …«
»Förster, ich weiß.«
»Und Jäger«, sage ich. »Das Sperrgebiet ist sein Revier. Die Wölfin, sie hinterlässt Spuren. Losung an den Wegkreuzen, Reste von Rissen, Trittsiegel im Schlamm an der Wildsuhle.«
»Ja, aber ich beseitige Spuren, halte sie mit Menschengeruch fern. Es … funktioniert.«
Menschengeruch? »Deswegen hast du dort überall hingepinkelt.« Er hat tatsächlich sein Revier markiert, damit die Wölfin fernbleibt.
Olek zuckt mit den Achseln. »Du doch auch.«
Mir schießt das Blut ins Gesicht. Weiß Gott, wie oft ich dort in die Büsche gepinkelt habe, in dem Glauben, allein zu sein mit Fuchs und Hase. Aber das ist nun auch egal.
»Olek«, sage ich, »du kannst nicht verhindern, dass die Leute aus dem Dorf irgendwann spitzkriegen, dass sich in ihrer Nähe eine Wölfin niedergelassen hat. Und dann wird die Hölle los sein.«
»Die Hölle?«
»Na ja, es wird ziemlich viel Wirbel geben. Die Leute werden Angst haben, die Wölfin könnte sich an kleinen Kindern vergreifen und Stimmung gegen sie machen.«
»Ist Schwachsinn. Großen Schwachsinn.«
»Großer Schwachsinn«, verbessere ich ihn. »Es heißt: Großer Schwachsinn.«
»Sie ist sehr scheu. Sie mag Menschengeruch nicht.«
»Ja, aber die Leute haben Vorurteile. Sie fürchten sich nun mal vor Wölfen.« Und mit Argumenten ist gegen tiefsitzende Ängste nichts auszurichten, mit dieser Problematik kenne ich mich bestens aus.
Ich muss an die Schafe am Waldrand denken. Leichte Beute, Häppchen auf dem Silbertablett. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass die Wölfin sich ein Schaf holt oder eine Gans.
Das Vernünftigste wäre, mit meinem Vater zu sprechen. Aber ich will nicht, dass das Märchen von Olek und mir zu Ende ist, bevor es richtig angefangen hat. Außerdem habe ich gerade einen Schwur geleistet.
»Wie geht es deiner Hand?«, frage ich ihn.
»Besser.«
»Zeig mal her.«
Olek hält mir seine Rechte entgegen. Die Hand ist nicht mehr geschwollen, die beiden Bisslöcher in Zeige- und Mittelfinger sind noch rot umrandet und ich schnuppere daran.
»Sieht gut aus«, sage ich. »Nimm dich das nächste Mal vor dem Hofhund in Acht.«
Verlegen wendet er den Blick ab.
»Du schleichst im Dorf herum und beklaust die Leute, Olek. Du bist ein Dieb. Du hast auch mich bestohlen.«
Wortlos langt er in die Seitentasche seiner Shorts und reicht mir mein Opinel-Messer. Ich schiebe seine Hand von mir weg.
»Behalte es, du kannst es mehr gebrauchen als ich. Es geht dabei auch nicht um mich, Olek. Die Leute sind wütend, sie werden dir eine Falle stellen und irgendwann kriegen sie dich.«
»Niemand kriegt mich.« Er steckt das Messer wieder ein.
Ich hole tief Luft und frage: »Wo kommst du eigentlich her? Irgendwo muss doch deine Familie sein.«
Die Antwort ist Schweigen.
»Du kommst aus Polen, nicht wahr?« Ich deute auf das Wörterbuch. »Warum versteckst du dich hier, Olek?«
Kopfschütteln.
.»Du kannst mir vertrauen, ich verrate dich nicht.«
Wieder gequältes Kopfschütteln. Olek sieht aus, als ob er mir alles erzählen will und nicht kann. »Wenn ich es dir sage, dann …«
»Müsstest du mich töten, ich weiß.«
Er grinst. Ich habe ihn tatsächlich zum Lachen gebracht, meinen geheimnisvollen Höhlenbewohner. Ein Blick auf meine Armbanduhr sagt mir, dass ich mich auf den Rückweg machen muss. Ich stehe auf.
»Du willst schon gehen?«
Mein Magen zieht sich zusammen. Olek ist einsam. Am liebsten möchte ich ihn in die Arme nehmen, ihm sagen, dass er nun nicht mehr allein ist. Dass ich ja jetzt da bin, dass alles gut wird, dass …
»Du musst aufpassen, Jola.«
»Aufpassen?«
»Auf dich aufpassen. Hier im Wald … ist nicht gut, dass du immer allein unterwegs bist. Ich versuche … ich …«
»Du passt auf mich auf?«
Er nickt.
In Anbetracht der Tatsache, dass erneut ein Mädchen verschwunden ist, und meinem seit Wochen anhaltenden Gefühl, dass der Wald Augen hat, bin ich unheimlich froh über Oleks Geständnis.
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