Person
Thema
Externe Informationen
Thüringer Literaturstipendium »Harald Gerlach«
Peter Neumann
Thüringer Literaturrat e.V.
bild könnte enthalten: himmel, berg, ozean, im freien, natur und wasser.
du wartest auf den bruch, aber er kommt nicht
als hätten die bäume zu lange auf dem dachboden gestanden
die tagesform des internets, trockengefallen.
deiche, wehre, vermuschelte kanäle, ein echter
herrndorf-himmel ist das: eine baumreihe, die ihren schatten
bis zur unkenntlichkeit in die länge zieht. strohballen
liegen gekastet, halbe pausen, eine landschaft
die bloß modell steht, ohne menschen, berge, bonsai.
milane legen sich in die luft, wir gleiten vorüber
spülfelder, die uns beschützen vor den blicken
die es nicht gibt, und nur die regionalbahnen wissen
von den dörfern, den lichtern, dass es sie gibt.
für daniel bayerstorfer
I.
Gewisse Orte haben die Eigenschaft, uns etwas anzugehen. Wir kehren immer wieder an sie zurück, ob bewusst oder unbewusst, ob in Erinnerung oder auf Reisen, ob als Local oder als Stranger oder als beides zugleich, gewissermaßen als Longer, der sich nach einem Ort, an dem er bleiben kann, sehnt: Bevor die Orte uns etwas angehen, werden wir von ihnen angegangen, heimgesucht, nicht in Ruhe gelassen. Es sind Orte, die uns gleichermaßen anziehen wie abstoßen, ein polares Gefälle eintragen zwischen dem, was ist/war, Trockenfallen, ein Höhenunterschied, der Areale ihre Schichten nach aufblättert, in ungeheure Tiefen hinabführt, an die allzu bekannte Oberfläche hinaufspült, ein Tageskalender zum Abreißen: Wo aber waren wir stehengeblieben, wo ist die Zeit? Es sind Orte am Rand, es sind immer wieder die Ränder, die abschüssigen Neigungen und Senken, die wir hinabpurzeln, Böschungen, aus denen wir, halb erlöst, halb versehrt, noch einmal hervorstraucheln, murmeln: Wipper, Weida, Orla, Ilm. Wir sprechen von Gegenden, die sich eigensinnig verhalten zu den normierenden Prozessen inmitten der Mitten noch größerer Mitten und doch, beinahe unmerklich, ohne es zu wissen, auf ihre eigene Weise Mitten verschlingende Mitten erzeugen. Wir sprechen von Gebieten, die eine äußerst hartnäckige, weil Generationswechsel unterlaufende, das allgemeine Auf und Ab schlicht ignorierende Kontinuität ausbilden, die Zeit konservieren. Orte, die bewahren wollen und Gegenwart verdrängen, aus‑, mit- und fortgerissen werden, unentschieden dastehen in aufsteigender Tiefe. Es sind Orte mit seltsamen Namen. Die heißen Krähwinkel, Hintertupfingen, Schilda. Mustergültige Orte sind das. Es gibt ein Krähwinkel in Baden, ein schwäbisches Krehwinkel bei Schorndorf, ein bayerisches Krawinkel zwischen München und Landshut, zwei thüringische desgleichen, eines bei Gotha, eines bei Freyburg, ein westfälisches Dorf gibt es, das Krewinkel heißt. Der Dramatiker August von Kotzebue, auch so ein verwinkelter Name, hat den Namen wahrscheinlichen nur seines wunderlichen Klanges wegen für sein Lustspiel Die deutschen Kleinstädter verwendet. Denn wie muss es da zugehen im kleindeutschen Städtchen, wo jeder auf Titel, auf Amt und Anrede beharrt? Nicht wahr: Untersteuereinnehmerin Staar, Vizekirchenvorsteher Staar, Oberfloß- und Fischmeisterin Brendel, Stadtakzisekassaschreiberin Morgenroth, Bau‑, Berg- und Weginspektorssubstitut Sperling, Sabine und Olmers. Olmers, ein schlichter Mann in Glas und Rahmen, ohne Spitzenhalskrause und Blumenstrauße. Und Sabine? – Muss warten: Wie? – schon zu Ende? Keine Silbe von ihm? Er weiß doch, daß ich den Sperling heiraten soll … Sabinchen, die Kuchen sind schon aus dem Ofen, köstliche Kuchen! sie machen dir Ehre.
II.
Das war der Anfang, der Auftakt desjenigen Textes, der verantwortlich dafür ist, dass ich heute als neuer Gerlach-Stipendiat Dankesreden schwingend vor Ihnen stehen darf. Und auch wenn Sie den Rest des Textes nicht kennen, und es Ihre und meine und die Zeit des Ministers überanspruchen würde, ihn zur Gänze zu lesen, möchte ich doch ein paar Worte über die methodische Anlage des Textes verlieren, nicht nur, damit Sie und ich wissen, worauf ich mich in der nächsten Zeit einzulassen habe, wo hinein mich stürzen werde, sondern auch darum, weil die Anlage des Textes sich als Versuch einer literarischen Topografie unserer Zeit versteht, und insofern politische Stellungnahme bedeutet, und also für die Gespräche im Anschluss, den Chitchat bei Häppchen und Sekt nicht ganz gleichgültig, nicht ganz egal sein könnte. Das Verfahren, dessen sich der Text bedient, wird im Englischen mit dem Begriff des deep mapping bezeichnet. Deep mapping bezeichnet ein literarisches Verfahren, bei dem ein abgestecktes Areal auf seine geschichtlichen Tiefenstrukturen hin untersucht wird. Vertikales Schreiben sozusagen. Zum Einsatz kommen beim vertikalen Schreiben vor allem dokumentarische Mittel wie Berichte und Listen, Briefe und Emails, Wetteraufzeichnungen und Nachrichtenmeldungen, Fotografien, Erinnerungen, Administrativa und O‑Töne, Sagen und Märchen, Fundstücke aus Natur‑, Kultur- und Geistesgeschichte, Zeitzeugnisse aller Art. Die Fiktionalisierung erfolgt erst über die Art der Inbeziehungsetzung des Materials, seiner Konstellierung. Solche – zu deutsch – Tiefenkartierungen sind mehr als Landschaftsdichtungen im herkömmlichen Sinne, gleichwohl sie ein wesentliches Element dieser Gattung aufnehmen und für sich produktiv machen: die Genauigkeit der Anschauung, der Blick in die Landschaft und der Umgang mit ihr als eine Art geistige Inbesitznahme. Nichts, was nicht poesiefähig wäre: Geographie, Ethnographie, Geschichte, Kultur. Mit Heimattümelei und selbstverliebtem Regionalismus hat all das nichts zu tun. Allerdings begreift das deep mapping Landschaft nicht bloß als Sediment, als geschichtete Zeit, Spiegel von Selbstentwicklung und kultureller Identität im Wandel, als vorrationale, mythische Bewusstseins- und Erinnerungslandschaft – also Landschaft als Kleinod und historische Singularität, man denke an Bobrowskis Sarmatische Zeit, die wiederkehrenden Erfurt-Episoden in den Lang- und Journalgedichten Jürgen Beckers, Lutz Seilers müde, von der Radioaktivität des Braunkohleabbaus kontaminierte ostthüringische Dörfer. Das deep mapping versteht Landschaft in erster Linie nicht als Sedativ, sondern als Eruptiv, als diejenige energetische Masse, deren latente, aufgespeicherte oder unabgegoltene Kräfte jederzeit wieder hervorbrechen können – und den Spiegel verkehren. Insofern ist auch gar nicht klar, wer hier gerade wen oder was in seinem geistigen Besitzstand wähnt. Es geht nicht um eine Landschaft, die allmählich verdrängt wird, eine Kultur, die zunehmend verloren geht, womöglich auf immer verschwindet, und also vor dem Untergang noch einmal zu Wort kommen soll, ein allerletztes Mal – Landschaft als Relikt und historische Aufgabe, man denke an Droste-Hülshoffs Bilder aus Westfalen, neuerdings auch Christoph Wenzel, der sich mit vergleichbarer Akribie und feinem Gespür diesem widerborstigen Landstrich zuwendet, den verschwundenen Dörfern im rheinischen Braunkohlerevier. Es geht darum, dass die verschwunden geglaubten Landschaften plötzlich wieder auftauchen, da sind, nie wirklich weg waren. Solche Landschaften verhalten sich wie der Wolf, der in die Wälder Mitteleuropas zurückkehrt und seinen angestammten Platz mit aller Macht einfordert. Eine Landschaft in den Blick zu nehmen, heißt für das vertikale Schreiben nicht, etwas festzuhalten, das in vielleicht zehn oder weniger Jahren nicht mehr vorhanden sein wird, oder ohnehin schon nur noch als Erinnerung existiert, es heißt, etwas sichtbar zu machen, das die Zeit in einem Zustand der Latenz überdauert hat und in zehn oder weniger Jahren mit aller Gewalt wieder aus der Tiefe hervorbrechen wird bzw. aus ihr bereits hervorgebrochen ist. Landschaftsdichtung als Seismographie.
da sitzen wir beide nun also
und warten, ein bus kommt, sitzen
wir beide, im bus, da sitzen
wir beide, während der andere schon
weg ist zum zug: halle, schkopau,
leuna, hier zieht das ganze deutsche mittelalter
wieder auf, pforten, von fackeln
umleuchtet, die feuertürme einer alten
stadt, ich mach dir ein leichentuch
aus dem bettlaken dort auf der leine,
bevor die wilde jagd durch die wäsche
fährt und sie zerreißt, die toten
tage: von hier an gibt es kein zurück,
der blick dringt unaufhaltsam vor
bis zu den dingen, da sind die berge, die talgründe,
die saale, ein licht, das unbeweglich
durch die felder geht, und die häuser ansteckt,
kerze für kerze, siehst du da drüben
die gärten, diese schönen deutschen gärten,
die äpfel, die ich schäle, sind uns
noch immer vorausgelaufen, wie schwer
wiegen die arme der pappeln
III.
Als Wulf Kirsten 1979 im Leipziger Insel-Verlag eine Anthologie zur gegenwärtigen Landschaftsdichtung herausbringt, da nennt er sie – den gesellschaftlichen Herausforderungen seiner Zeit entsprechend – Veränderte Landschaft. Areale, irgendwo zwischen agrarischer Dorfgemeinschaft und der um sich greifenden, alles noch unter sich begrabenden Industrialisierung. Landschaft tritt bei Kirsten als geschichtlich gewachsene Größe hervor, als Produkt sozialer Kräfte, und wird von hier aus in ihren Verwerfungen, den ihr innewohnenden Widersprüchen, die sie in einem Prozess der ständigen Bewegung halten, verstehbar, kritisierbar, letzthin auch gestaltbar. Ich würde heute, auch vor dem Hintergrund der politischen Diskursverschiebungen der letzten Jahre – einer in diesem Ausmaß nie für möglich gehaltenen Provinzialisierung des Geistes –, von magmatischen Landschaften sprechen: Areale, irgendwo zwischen dem Phlegma, dass alles so bleiben möge, wie es immer war, und dem besinnungslosen Taumel, die Trägheit nach eigenen Maßstäben zu verteidigen. Ränder, die auf einmal zu Zentren werden, Zentren der Abwehr, der selbsternannten Hüter einer immer schon vorherbestimmten – wer bestimmte sie, wann? – Identität: Leitkultur, ick hör dir trapsen. Gruppen, die wutentbrannt, Nase schnaufend, durch die Straßen ziehen und den Normalzustand proklamieren. Denn was da gerade passiert, gehört neutralisiert, unschädlich gemacht, eingemeindet, oder gerade ausgemeindet. Die Provinzialisierung des Geistes ist heute mitten unter denen angekommen, die sich als seine Fürsprecher verstehen. Oder wie ist die Nationaltümelei zu verstehen, mit der sogenannte Intellektuelle sich dieser Tage per Erklärung, die an sprachlicher und geistiger Erbärmlichkeit kaum zu über-/unterbieten ist, in die Grenzen desjenigen Landes einzumieten versuchen, das es so, in dieser Form, schon lange nicht mehr gibt. Good old Dschermani, isch over. Oder wie ist die Vermessenheit zu verstehen, mit der von eben denselben Personen Demokratien zu Diktaturen und Diktaturen zu Demokratien erklärt werden, während in anderen Ländern Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Journalistinnen und Journalisten, Aktivistinnen und Aktivisten inhaftiert werden, Menschen, die jede öffentliche Unterstützung gebrauchen könnten. Das hat nichts mit Polemik, auch nichts mit der viel beschworenen Reizbarkeit zu tun, die jeden Intellektuellen als aufmerksamen Beobachter seiner Gegenwart auszeichnen sollte. Das hat allein mit der bewusst eingesetzten Suggestivität politischen Herumgemeines zu tun, die jeden vernünftigen Diskurs von vornherein verunmöglicht, und damit, dass die Konflikte, die auf diese Weise aufgerufen werden, in Wahrheit Deckkonflikten sind, an denen sehr viel älteres Material, sehr viel ältere Konflikte aufsitzen, latente, aufgespeicherte, unabgegoltene Vergangenheit. Die Literatur, insbesondere das deep mapping, wird aber spätestens hier zu einem Ort, an dem solche verborgenen Konfliktstrukturen aufgedeckt und im Spiegel ihrer eigenen geschichtlichen Gewordenheit neu vermessen werden können, ohne das Ergebnis immer schon im Voraus zu kennen. Denn abgeschlossene, geometrische Räume, gerade das sind die Areale und Tage, durch die wir uns gegenwärtig bewegen, nicht, sind sie nie gewesen.
farbeimerweise fisch: heringe sind früchte
des meeres, du kannst sie einlegen, braten, marinieren.
es gibt heringssalat, hering mit roter beete,
hering im pelzmantel, in grüner soße, es gibt hering
mit remoulade, hering im speckmantel, hering
roh, mit zwiebeln und sauren gurken im brötchen, geräucherter
hering, den gibt es, mit pellkartoffeln, hering
mit schnitzel und aal, oah, legger, nee, schnitzel
mit hering und aal gibt es heute leider nicht.
auch die katze freut sich über den hering, die schuppen
das silber. wie der junge, der, über und über
beflockt mit möwenfedern, ewig schmelzender schnee,
seine glänzenden hände am nicki abwischt,
wo doch schon gar nichts mehr geht, während
er weiter die fische vom haken abzieht, die versprengten
aufsammelt vom boden. stralsunder mole, das chor
aus schnurrenden kurbeln, und einem blick, der
das geländer stillhalten kann. wollmütze, military-style.
auf der zum meer gelegenen seite nur deutsche.
nächster wurf, von ganz hinten, gleich drei heringe
zappeln, ihre augen, hervortretendes gestein.
Ich danke der Jury des Thüringer Literaturstipendiums Harald Gerlach für diesen Preis, meinen Freundinnen und Freunden, für das Backup, das sie sind, ich danke Nastasia Tietze für Thüringen und Toskana, dem Lese-Zeichen und der Literarischen Gesellschaft Thüringen für die Unterstützung, die ich von ihnen erfahren habe, ich danke Mario Osterland für acht Ausgaben In guter Nachbarschaft, es geht weiter, allem voran danke ich aber Uta Hünniger für die Zeichnung, die den entscheidenden Anstoß für den Text gegeben hat, für den ich heute voller Dankbarkeit dieses Stipendium entgegennehme.
›Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio
Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2024 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]
URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/peter-neumann-in-aufsteigender-tiefe-dankrede-zur-verleihung-des-thueringer-literaturstipendiums-harald-gerlach-2018/]