Peter Neumann – »Das Klima der Anderen«

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Peter Neumann

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Von Heimat zu Heimat

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Peter Neumann

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Wulf Kirs­ten, bela­ge­rung

 

Die Geschichte wurde oft als eine zykli­sche Kreis­be­we­gung beschrie­ben, dann wie­der als eine auf­stei­gende Linie, im ver­gan­ge­nen Jahr­hun­dert endete sie mehr als ein­mal in der Kata­stro­phe. Eines der ers­ten über­lie­fer­ten Geschichts­bil­der stammt von dem Vor­so­kra­ti­ker Anaxa­go­ras aus dem 5. Jahr­hun­dert vor Chris­tus, der sie sich als fort­lau­fende Welle von Wir­beln vor­stellte. Wir­bel wer­fen Staub auf, schla­gen Wel­len, trü­ben ein. Sie mobi­li­sie­ren, klä­ren auf, erzeu­gen Tur­bu­len­zen. Sie rei­ßen mit, hin, fort, weg – sie stel­len still.

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Wann immer die Gesprä­che auf die Wie­der­ver­ei­ni­gung, den unaus­ge­setz­ten Wahl­er­folg der Neuen Rech­ten im Osten des Lan­des, auf deut­sche Ein­heit und deutsch-deut­sche Tei­lung kom­men, liegt die Rede von den Ost­deut­schen und den West­deut­schen nah. Der bestimmte Arti­kel erfreut sich gro­ßer Beliebt­heit, auch wenn im Ernst­fall nie­mand so recht ange­ben will und kann, wo nun exakt die Grenze zwi­schen den bei­den ver­läuft. In einer Men­ta­li­tät prägt sich Geschichte aus, in ihr kom­men Hal­tun­gen, Ein­stel­lun­gen, Denk­stile zum Aus­druck. Men­ta­li­tä­ten sind his­to­risch gewach­sen, und sie sind mäch­tig. Men­ta­li­tä­ten erzäh­len die Geschichte einer über Genera­tio­nen, oft sogar über Jahr­hun­derte hin­weg gewach­se­nen Geis­tes­hal­tung, die schwer fass­bar und in vie­len Fäl­len auch hoch­pro­ble­ma­tisch ist. Dass man das hier so mache, ist gerade in länd­li­chen Regio­nen zu einer spre­chen­den Form der Pro­blem­be­wäl­ti­gung gewor­den. Wo man sich von Poli­tik und Medien ver­ges­sen fühlt, ist man auch nie­man­dem Rechen­schaft schul­dig. Es sind aber nicht nur die ver­meint­li­chen Unter­schiede zwi­schen Ost- und West­deut­schen, die das Nach­den­ken über Men­ta­li­tä­ten auf den Plan rufen. Auch die Rede von einem glo­ba­len Süden und einem glo­ba­len Wes­ten, die immer grö­ßer wer­dende Dis­kre­panz zwi­schen den Some­whe­res und Any­whe­res, den Hei­mat­ver­bun­de­nen und den Kos­mo­po­li­ten, zwi­schen kul­tu­rel­lem Assi­mi­la­ti­ons­druck und demo­kra­ti­schem Plu­ra­lis­mus, zwi­schen denen da oben und uns hier unten arti­ku­liert ein gesell­schaft­li­ches Kon­flikt­po­ten­zial, das auf ein jeweils prä­gen­des Klima ver­weist. Wäh­rend seit Vico fest­steht, dass es der Mensch ist, der seine Geschichte macht, ver­wei­sen Men­ta­li­tä­ten auf jene Zeit­schich­ten, die andere vor uns geformt haben.

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Wenn von Men­ta­li­tä­ten als einer Art des Kli­mas die Rede ist, sind nicht die Wald-und-Wie­sen-Theo­rien des 18. Jahr­hun­derts gemeint, die einen direk­ten Ein­fluss zwi­schen Phy­sis und Klima behaup­ten. Dass Ner­ven­fa­sern bei Wärme erschlaf­fen und bei Kälte sich zusam­men­zie­hen, Stärke und Spann­kraft kli­ma­tisch vari­ie­ren. Es war Johann Gott­fried Her­der, der den Begriff des Kli­mas zum ers­ten Mal in einer Weise ver­wen­det, die die moderne Rede von Lebens­welt gera­de­wegs vor­weg­nimmt. In sei­ner vier­bän­di­gen, zwi­schen 1784 und 1791 erschie­ne­nen Abhand­lung Ideen zur Geschichte der Phi­lo­so­phie der Mensch­heit erin­nert der bei Kant in Königs­berg in die phi­lo­so­phi­sche Lehre gegan­gene Theo­loge, Dich­ter und Über­set­zer daran, dass nicht nur die Höhe oder Tiefe eines Erd­strichs, son­dern auch die Spei­sen und Getränke, die der Mensch genießt, die Lebens­weise, der er folgt, die Arbeit, die er ver­rich­tet, Klei­dung, gewohnte Stel­lun­gen sogar, Ver­gnü­gun­gen und Künste nebst einem Heer ande­rer Umstände, die in ihrer leben­di­gen Ver­bin­dung viel wir­ken, dass all diese beson­de­ren Umstände zum Gemälde des viel­ver­än­dern­den Kli­mas gehö­ren. Her­ders kleine Kli­ma­kunde gibt dem his­to­risch viel­fach kon­ta­mi­nier­ten Begriff der Men­ta­li­tät einen ande­ren Spin. Lange bevor die fran­zö­si­schen His­to­ri­ker Lucien Feb­vre und Marc Bloch mit ihrer 1929 erst­mals erschie­ne­nen Zeit­schrift Anna­les. Éco­no­mies, Socié­tés, Civi­li­sa­ti­ons die eigent­li­che his­toire des men­ta­li­tés, also die Men­ta­li­täts­ge­schichte begrün­de­ten, war die Idee einer men­ta­len Topo­gra­phie bei Her­der bereits im Ansatz gebo­ren: Nichts ande­res als die Umwelt, in der wir auf­wach­sen, der banale All­tag, dem wir aus­ge­lie­fert sind, die pro­fane Lebens­welt, die uns umgibt, bil­den die Mate­ri­al­schich­ten, aus dem unsere Men­ta­li­tä­ten gemacht sind. Vom Regio­na­len bis ins Lokale sich ver­schie­bende Gemüts­la­gen, die uns ein beson­de­res Gespür abver­lan­gen. Eine erhöhte Wet­ter­füh­lig­keit. Der­je­nige, der eine Wit­te­rung für Men­ta­li­tä­ten besitzt, gleich dem ambu­lan­ten Wet­ter­be­ob­ach­ter, als den Goe­the sich – aus­ge­rüs­tet mit Ther­mo­me­ter und Baro­me­ter – auf sei­ner Reise durch Ita­lien ver­stand. Wer in die Fremde reist, tut, wie auch der Zaren-Gesandte Hein­rich van Huys­sen in sei­nen Reiß-Beschrei­bung von 1701 erklärt, gut daran, sich nach der Beschaf­fen­heit der Lufft zu erkundigen.

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Men­ta­li­tä­ten kön­nen offen oder kor­rupt, gemä­ßigt oder roh, behag­lich oder extrem drü­ckend sein. Von Men­ta­li­tä­ten gilt, was der latei­ni­sche Kir­chen­va­ter Augus­ti­nus von der Zeit behaup­tete: So lange uns nie­mand danach fragt, glau­ben wir zu wis­sen, was gemeint sei. Sobald wir aber unsere Auf­merk­sam­keit dar­auf rich­ten und sagen sol­len, was einen Bay­ern von einem Meck­len­bur­ger, einen alt­ein­ge­ses­se­nen Vene­zia­ner von einem gebür­ti­gen Römer unter­schei­det, wis­sen wir uns nicht mehr zu hel­fen. Wir sind ver­le­gen. Der Schrift­stel­ler und Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger Hein­rich Böll hat es ein­mal so for­mu­liert: Nichts hat der Köl­ner Kar­ne­val mit der Base­ler Fast­nacht gemein, und sind doch beide rhei­nisch. Wer Men­ta­li­täts­un­ter­schiede nicht wahr­nimmt, geht blind durch die Welt, bleibt unemp­fäng­lich für die fei­nen Dif­fe­ren­zen inner­halb einer Kul­tur, Spra­che oder Land­schaft. Wer aber glaubt, Men­ta­li­tä­ten einem Volk, einer Nation oder auch nur einer Gruppe ein für alle Mal zuschrei­ben zu kön­nen, gerät zu Recht unter Ideo­lo­gie­ver­dacht. Als Erklä­rungs­mus­ter, die schnell zur Hand sind, unter­schei­den sich Men­ta­li­tä­ten kaum vom Kli­schee. Sie sind das. Ohne Frage. Aber sie sind mehr als das. Men­ta­li­tä­ten sind, trotz man­cher Anklänge, etwas ande­res als Iden­ti­tä­ten. Gegen­über dem Begriff der Iden­ti­tät, der heute so gerne im Mund geführt wird, um Grup­pen von­ein­an­der abzu­gren­zen, und der in den sozia­len Medien als Instru­ment des poli­ti­schen Mei­nungs­kamp­fes ver­wen­det wird, genießt der Men­ta­li­täts­be­griff einen ent­schei­den­den Vor­teil: Wäh­rend Iden­ti­tä­ten auf­ein­an­der­pral­len, durch­drin­gen sich Men­ta­li­tä­ten von jeher und ver­bin­den auch weit von­ein­an­der ent­fernte Regio­nen durch geheime Ver­ab­re­dun­gen unter­ein­an­der. Zwei unver­ein­bare Denk­wei­sen kön­nen sich auf ein­mal ver­traut sein, zwei ver­wandt geglaubte fern. Als der Lin­ken-Poli­ti­ker Bodo Rame­low nach dem Eklat um die Wahl des FDP-Man­nes Tho­mas Kem­me­rich 2020 mit dem Vor­schlag an die Öffent­lich­keit trat, die ehe­ma­lige Lan­des­mut­ter und über Par­tei­gren­zen hin­weg aner­kannte CDU-Frau Chris­tine Lie­ber­knecht zu bit­ten, für eine Über­gangs­zeit noch ein­mal in die Staats­kanz­lei zurück­zu­keh­ren, da sprach nicht nur per­sön­li­che Freund­schaft aus die­sem Vor­stoß, son­dern auch eine pro­tes­tan­ti­sche Men­ta­li­tät, zu der sich beide Poli­ti­ker leb­haft beken­nen: In der Ori­en­tie­rung an der Sache waren sich Linke und Kon­ser­va­tive über­ra­schend nah. Wer von Iden­ti­tä­ten spricht, möchte Ähn­lich­kei­ten um der Grenz­zie­hung zu ande­ren wil­len behaup­ten. Wäh­rend Iden­ti­tä­ten sich selbst ein­krei­sen, eröff­nen Men­ta­li­tä­ten die Chance auf eine Erzäh­lung, die viel­schich­ti­ger ist als der Unter­schied zwi­schen denen und uns.

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Men­ta­li­tä­ten sind zäher und lang­le­bi­ger als die media­len Bil­der, die sie her­vor­ru­fen. Sie sind ver­steckte, über­haupt nur sub­ku­tan auf­zu­spü­rende Atmo­sphä­ren, die sich bis in die Lebens­bio­gra­phien hin­ab­senkt. Als die Frank­fur­ter Kul­tur­de­zer­nen­tin Linda Reisch (SPD) auf einer Podi­ums­dis­kus­sion des Goe­the-Insti­tuts am 28. August 1990, also genau am 241. Geburts­tag des Wei­ma­rer Dich­ters kund­gibt, sie fremdle mit dem Osten wie mit kei­nem ande­ren Land, frei­wil­lig würde sie – schon wegen der Schuhe – immer nach Mai­land fah­ren, nie nach Leip­zig – ruft das durch alle poli­ti­schen Lager einen Sturm der Ent­rüs­tung her­vor. Nur Jür­gen Haber­mas ist damals einer der weni­gen, die sich hin­ter sie stel­len: Es sei tri­via­ler­weise wahr, dass unser­ei­ner mit der Nach­kriegs­ge­schichte Ita­li­ens, Frank­reichs oder der USA mehr gemein­sam habe als mit der der DDR: Deren Geschichte war nicht unsere Geschichte. Ob Ost oder West, Links oder Rechts, Katho­li­zis­mus oder Pro­tes­tan­tis­mus: Men­ta­li­tä­ten füh­ren in die Wir­bel­be­we­gun­gen der Geschichte hin­ein. In deren Strom­tie­fen. Jahr­zehn­te­lang kön­nen Fäden aus der Hand gerutscht und lie­gen­ge­blie­ben sein, bis die Geschichte plötz­lich wie­der da ist und sie auf­greift. Men­ta­li­tä­ten sind die Kli­ma­zo­nen unse­rer Gesell­schaft, für die uns nur manch­mal der rich­tige Atlas fehlt.

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