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Susanne Schmidt-Knaebel
Erstdruck in: Palmbaum - Literarisches Journal aus Thüringen 1-2018 / Thüringer Literaturrat e.V.
Ein Düsenjäger schoss durchs Fenster
Gelesen von Susanne Schmidt-Knaebel
Dieser Roman bedient sich eines geschlossenen Erzählrahmens. Dietrich Gabler wird auf dem Weg zur Beerdigung seines Onkels von der Erinnerung an seine eigene Jugend eingeholt. Die Krankheit von Tante Gertrud, der Witwe des Verstorbenen, wird mit den Abenteuern und Sprüchen der alten Kameraden Gero, Anne, Gaby, Onne, Wolfi usw. verflochten. Dazwischen taucht in Bruch-stücken immer wieder Gablers eigener Weg auf: über die Kopfschmerzen im Kinderzimmer, endlose Untersuchungen in diversen Krankenhäusern bis zur Diagnose vom Hirntumor und der lebensgefährlichen Operation. Dann die Stationen nach dem glücklich überstandenen Martyrium. Der Krankgeschriebene im Polstersessel, erster Ausgang am Arm des Vaters, schließlich der einsame Gang in die Schonung mit den alten Gräbern, die vom Hausarzt verschriebenen Tabletten in der Tasche … Der zufällig gerettete Dietrich nimmt den Kampf gegen widrige Gegebenheiten auf: Schwerbeschädigtenausweis, ärztliche Ermahnung zu »geregelter Beschäftigung«, Kur mit Arbeitstherapie. Dort lernt Dietrich Eva kennen, und das Leben scheint neu zu beginnen. Doch nach der Rückkehr in die Wohnung der Eltern lautet die Alternative Studium oder »Sanitätsbeauftragter«. Da sich der Gedanke ans Studieren als Hirngespinst erweist, bleibt nur der Dienst in der Männertoilette des Bahnhofs. Die Rettung ist das heimlichgeführteTagebuch.Dietrichbekommt eine Halbtagsstelle in einer Buchhandlung und nimmt wieder Kontakt zu Eva auf. Hier kehrt die Schilderung in die Rahmengeschichte zurück. Gabler wird von der genesenen Witwe Gertrud verabschiedet: »Junge, jetzt fahre endlich … hast mir geholfen, danke.«
Für Drescher ist wichtig, dass die Figur dieser Tante nicht biographisch ist, sie ist das Zentrum seines Bemühens um die literarische Gestaltung des ansonsten im Kern Selbsterlebten: Gabler hat die Seite gewechselt, wird vom Hilfsbedürftigen zum Helfer. Hinter dieser Figur steht der Autor selbst, der sich ohne Larmoyanz dem eigenen Schicksal stellt. Wenig ist erfunden, alles gestaltet, und so gelingt ein fiktiver Text, der seine Wahrheit aus der persönlichen Erfahrung bezieht. Der 71-jährige Drescher hat sich ein Leben lang auf diesen Bericht vorbereitet. Die erste Fassung hieß Steile Pfade, und zwischen ihr und dem jetzt gedruckt Vorliegenden gab es viele weitere Schichten.
Ein Vergleich zeigt, dass die sparsame und eben deshalb effektive Symbolik erhalten blieb: die tickende Armbanduhr in den Stunden vor dem Suizidversuch, die plötzlich offenstehende grüne Lattentür des Klinikparks, die in der Straßenbahn gefangene Schwalbe. Der 48-jährige IchErzähler spricht in allen Fassungen häufig die flapsige, ehrliche Sprache der jugendlichen Protagonisten. Dazu passt der stilistische Kniff, über weite Teile das Stilmittel des inneren Monologs zu benutzen. Auch der Obertitel des Romans weist darauf hin: Immer noch, Jahrzehnte nach der Tumoroperation, geht es um das, was sich im Kopf des Dietrich Gabler abspielt. Im Text selbst dokumentiert der stereotype Tempuswechsel zwischen Präsens und Imperfekt, wie eng die beiden Schichten des Erlebens miteinander verschränkt sind: Gegenwart und Vergangenheit. Bemerkenswert ist auch die Liebe zum Detail, mit der der Autor die versunkene Welt des DDR-Alltags heraufbeschwört. Das ist interessant sowohl für diejenigen, die ihn nicht selbst erlebt haben, als auch für Leser, die sich an die Brikettfabriken, Kamillencreme-Dosen, gelben Fondanthasen, Kassenbrillen aus Nickel, Plastevorhänge und wachstuchbespannten Pritschen erinnern.
Peter Drescher hat schon manche schöne Studie geliefert (Rhön-Paulus und der Sohn des Hofkapellmeisters). Die Hirngespinste werden sich als ein Höhepunkt seines Werks erweisen.
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