Mona Krassu – »Falsch erzogen«

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Autor

Jessica König

Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Jes­sica König

Unan­ge­passt, eigen­sin­nig, anders – Vom Auf­wach­sen in der DDR

 

Mona Kras­sus drit­ter Roman Falsch erzo­gen gibt einen Ein­blick in die intimste Sphäre der DDR-Gesell­schaft: die Fami­lie. Auch hier hielt die Staats­ideo­lo­gie Ein­zug und hier war sie auch am bedroh­lichs­ten, da sie es ver­mochte, selbst die per­sön­lichs­ten Ver­trau­ens­be­zie­hun­gen zu zer­rüt­ten. Erzählt wird die Geschichte von Solveig, die in den sieb­zi­ger und acht­zi­ger Jah­ren in einer Durch­schnitts­fa­mi­lie auf­wächst und sich als Her­an­wach­sende immer stär­ker von ihrer Fami­lie löst.

Die begrenzte Sicht­weise der Erzäh­le­rin, die zu Beginn des Buches gerade ein­mal vier Jahre alt ist, die phy­si­schen Mau­ern der DDR, die als unüber­wind­bar gel­ten, und die Fes­seln, die der Staat dem Spre­chen und Den­ken auf­zwingt – all diese Gren­zen ver­bin­det Krassu gekonnt. Hin­weise auf die staat­lich sank­tio­nierte Unter­drü­ckung wer­den durch uner­laub­tes Schauen und Lau­schen an Fens­tern und Tür­rit­zen geschickt ein­ge­floch­ten, ohne dass schwer­fäl­lige oder umständ­li­che Dar­le­gun­gen nötig wären. Wenn Solveig bruch­stück­hafte Infor­ma­tio­nen erhascht, durch­schauen die Lesen­den oft mehr, als die junge Erzäh­le­rin begrei­fen kann. Diese Kluft zwi­schen ihrem Ver­ständ­nis und dem der Lesen­den ist gleich­zei­tig ein Raum emo­tio­na­ler Kraft. Durch die Augen eines unschul­di­gen Kin­des wird das Ver­sa­gen der Erwach­se­nen, denen es nicht gelingt, ein emo­tio­na­les Ver­ständ­nis für Solveig zu ent­wi­ckeln, umso ner­ven­auf­rei­ben­der. Jede Seite ist durch­tränkt von der Trauer und Wut eines hilf­lo­sen Kin­des, das nicht nur in Unwis­sen­heit gelas­sen, son­dern auch ver­nach­läs­sigt wird.

Dabei gibt es an Solveig viel zu lie­ben. Wie jedes Kind ist sie auf­merk­sam, wiss­be­gie­rig und klug. Sie liebt Worte, nimmt sie ernst und will wis­sen, was sie bedeu­ten: Was hat es mit der »Rock‘n‘Roll Arena in Jena« auf sich, und was heißt eigent­lich »Repu­blik­flucht«? Doch aus der Sicht ihrer Eltern, Lehrer:innen und Nachbar:innen ist diese Neu­gier keine Gabe, son­dern ein Ärger­nis – schlim­mer noch, eine Bedro­hung. Auf ihre Fra­gen wird mit Vor­wür­fen, Ruhig­stel­lung und Dro­hun­gen mit dem Erzie­hungs­heim reagiert. Alle erwar­ten, sie müsse doch wis­sen, wie man sich im sozia­lis­ti­schen Sys­tem zu ver­hal­ten hat. Doch eine Erklä­rung bleibt aus. Solveigs Frus­tra­tion ist spür­bar: »Andau­ernd ist irgend­et­was falsch«.

Natür­lich ist diese Art der Erzie­hung nach­voll­zieh­bar. Sie ist in vie­ler­lei Hin­sicht der lobens­werte Ver­such, Solveig alle Wegen offen zu hal­ten und sie vor einem Abglei­ten auf die »schiefe Bahn« zu bewah­ren. Aber es wird viel Scha­den ange­rich­tet unter dem Deck­man­tel der sozia­lis­ti­schen Erzie­hung. Solveig fühlt sich nir­gends akzep­tiert, geschweige denn gewollt. Darum ist sie stän­dig in Bewe­gung: Als Kind flüch­tet sie zu ihrer Nach­ba­rin Frau Becker oder zur Schau­spie­le­rin Eleo­nore Satt­ler, der sie im Haus­halt hel­fen soll, nach der Tren­nung ihrer Eltern zu ihrem Vater oder auf den Dach­bo­den, spä­ter sogar aus ihrer Klein­stadt nach Jena. Sie sucht Zuflucht in den Gedich­ten Eva Stritt­mat­ters, den Büchern ihrer Mut­ter und der Musik von Udo Lin­den­berg. Als Jugend­li­che ver­bringt sie ihre Tage in einer Thea­ter­gruppe und im »Bau«, einem Abriss­haus, in dem sie mit Gleich­ge­sinn­ten Über­le­gun­gen zu einer bes­se­ren DDR anstellt. Im beklem­men­den Haus ihrer Mut­ter und des par­tei­treuen Stief­va­ters hält es sie kaum. Sie weiß nicht, wohin mit sich, weil sie viel­leicht wirk­lich kei­nen Platz hat im rigi­den Dik­ta­tur­staat der DDR, in dem alles, was sie liebt, ver­bo­ten ist.

Die­ses Gefühl des Anders­seins nimmt auch nicht ab, als Solveig lang­sam erwach­sen wird. Ver­bie­gen las­sen kann sie sich nicht, und so wird sie nur noch rebel­li­scher. Um ihr non­kon­for­mes Ver­hal­ten zu bre­chen, lässt ihr Stief­va­ter sie in eine soge­nannte »Trip­per­burg« ein­wei­sen. In die­sen Sta­tio­nen wur­den in der DDR tau­sende Mäd­chen und Frauen unter dem Vor­wand, dass sie »Her­um­trei­be­rin­nen«, »Arbeits­bum­me­lan­tin­nen« oder »Aso­ziale« seien, wochen­lang ein­ge­sperrt und dis­zi­pli­niert, gede­mü­tigt und miss­han­delt. So wird Solveigs kind­li­che Sorge – »Konnte man denn wirk­lich wegen ein paar fal­scher Wör­ter ein­ge­sperrt wer­den?« – grau­same Rea­li­tät. Krassu wei­gert sich, Solveigs Trauma sprach­lich zu rekon­stru­ie­ren. Eine ein­zige schwarze Seite ver­wehrt den Lesen­den den Ein­blick in den unaus­sprech­li­chen Ter­ror, der ihr unwei­ger­lich wie­der­fah­ren sein muss.

Solveigs Erleb­nisse in der Ein­rich­tung klam­mert die Autorin aus, wohl wis­send, dass eine Schil­de­rung den tat­säch­li­chen Erfah­run­gen nicht gerecht wer­den kann. Sicht­bar sind jedoch die Fol­gen des Auf­ent­halts: Der »Kli­nik« ist es gelun­gen, jedes Leuch­ten oder Fun­keln, das Solveig hatte, zu einem mat­ten Schim­mer abzu­rei­ben. Sie ist ver­än­dert, stellt keine Fra­gen mehr, raucht und trinkt, spricht kaum ein Wort, ver­bar­ri­ka­diert sich in ihrem Schlaf­zim­mer, das sie mit Eier­kar­tons iso­liert hat. Nur ihrem Tage­buch ver­traut sie sich an, doch die­ses hält sie vor den Lesen­den genauso ver­steckt wie vor fast allen ande­ren. Ihr ein­zi­ger mensch­li­cher Ver­trau­ter wird Sören, den Solveig aus der Thea­ter­gruppe kennt. Als er nach dem Lesen ihrer Tage­bü­cher ein Thea­ter­stück schreibt, um ihr Trauma zumin­dest zu benen­nen, erha­schen Lesende flüch­tige Bli­cke in ihre Erfah­run­gen, die bedrü­cken­der kaum sein könnten.

Mona Krassu wen­det sich in Falsch erzo­gen einem schwe­ren Stoff zu, der die Lesen­den in eine Aus­ein­an­der­set­zung mit einem der abgrün­digs­ten Ver­bre­chen der DDR zwingt. Obwohl der Roman nichts beschö­nigt, bie­tet er doch zumin­dest die­sen Licht­blick: Nach all dem Ver­rat und all der Abwei­sung, die Solveig durch­le­ben musste, kann sie frem­den Men­schen viel­leicht noch kein Ver­trauen schen­ken. Doch als am 9. Novem­ber 1989 die Mauer fällt, kann sie zumin­dest deren Umar­mun­gen zulas­sen – ein Ende, das auf Hoff­nung deutet.

 

  • Mona Krassu: Falsch erzo­gen, Edi­tion Out­bird, Gera 2020, 484 S., 9,99€
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