Martin Debes – »Deutschland der Extreme. Wie Thüringen die Demokratie herausfordert«

Person

Dietmar Jacobsen

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Dietmar Jacobsen

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstdruck in: Palmbaum, Heft 2/2024.

Diet­mar Jacobsen

Poli­tik als Amateurveranstaltung
»Über­durch­schnitt­lich alt – und unter­durch­schnitt­lich ver­mö­gend« seien die Thü­rin­ge­rin­nen und Thü­rin­ger, deren wen­dungs­rei­chen Weg durch die ers­ten gut 30 Jahre nach dem Ende der DDR der 1971 in Jena gebo­rene Jour­na­list und Sach­buch­au­tor Mar­tin Debes in Deutsch­land der Extreme nach­er­zählt. Er hat sein Buch in 10 Haupt­teile unter­glie­dert, denen ein Pro­log voran- und ein Epi­log, in dem ein kur­zer Blick vor­aus ins Wahl­jahr 2024 gewor­fen wird, nach­ge­stellt sind. Jedes der zehn Kapi­tel beginnt mit einem repor­ta­ge­haf­ten Ein­stieg, für den der Autor offen­sicht­lich bereits vor­lie­gende eigene Texte und Inter­views genutzt hat.

Diese »per­sön­li­che Anwe­sen­heit« im Text weicht anschlie­ßend einem fak­ten­ba­sier­ten Erzäh­len. Abschnitts­weise wird die Thü­rin­ger Poli­tik-Geschichte von Josef Duchač über Bern­hard Vogel, den unglück­li­chen Ski­fah­rer Die­ter Alt­haus, die bis­her ein­zige Frau im Minis­ter­prä­si­den­ten­amt, Chris­tine Lie­ber­knecht, bis hin zu dem Son­der­fall eines über zwei Wahl­pe­ri­oden die Thü­rin­ger Geschi­cke len­ken­den Bodo Rame­low, einem ehe­ma­li­gen »west­deut­schen Gewerk­schaf­ter mit Popu­lis­mus­po­ten­tial und rhe­to­ri­schem Talent«, abge­ar­bei­tet. Das ist durch­aus inter­es­sant, ver­führt häu­fig zum Kopf­schüt­teln, erschlägt gele­gent­lich aber auch durch das geballte Fak­ti­sche. Den Grund dafür, dass Poli­tik im nach­so­zia­lis­ti­schen Thü­rin­gen oft den Ein­druck einer »Ama­teur­ver­an­stal­tung« gemacht hat und in der Gegen­wart wei­ter­hin macht, sieht Debes übri­gens zu einem nicht uner­heb­li­chen Teil darin, dass in der Nach­wende-Geschichte Thü­rin­gens unbe­las­tete, qua­li­fi­zierte und macht­be­wusste Men­schen Man­gel­ware waren und Per­so­nal des­halb zu erheb­li­chen Tei­len aus den soge­nann­ten alten Bun­des­län­dern »zuwan­dern« musste.

Wenn der Autor in den Kapi­teln 1 und 2 einen kur­zen Rück­blick in die Geschichte des Frei­staats unter­nimmt, so hat das sei­nen Grund darin, dass die Thü­rin­ger Klein­staa­te­rei für ihn nicht nur eine große kul­tu­relle Viel­falt – Luther, Bach, Goe­the, Schil­ler, die Jenaer Roman­ti­ker und das Wei­ma­rer Bau­haus wer­den u.a. als Zeu­gen auf­ge­ru­fen – her­vor­ge­bracht hat, son­dern auch nach­hal­tige, das Land von Zeit zu Zeit zer­rei­ßende Kon­flikte. So betei­lig­ten in Thü­rin­gen bereits 1924 – Hit­ler saß nach sei­nem geschei­ter­ten Putsch zu der Zeit noch in Fes­tungs­haft – Bür­ger­li­che erst­mals in Deutsch­land Extre­mis­ten an der Macht. Zwei Jahre spä­ter, 1926, tagte der erste Reichs­par­tei­tag der NSDAP im Wei­ma­rer Natio­nal­thea­ter. Thü­rin­gen wurde fortan zu Hit­lers »Macht­la­bor«, in dem man im Klei­nen vor­be­rei­ten konnte, was für ganz Deutsch­land geplant war. Und mit dem Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Buchen­wald auf dem Wei­ma­rer Etters­berg – errich­tet ab Juli 1937 – war in Thü­rin­gen in unmit­tel­ba­rer Nähe zu den dem huma­ni­tä­ren Erbe ver­pflich­te­ten Klas­si­ker-Gedenk­stät­ten auch die ahu­mane Kehr­seite des Hit­ler­re­gimes früh­zei­tig präsent.

Sicher­lich ist die Lage zu Beginn des drit­ten Jahr­zehnts des 21. Jahr­hun­derts nicht direkt ver­gleich­bar mit jenen poli­ti­schen Kon­stel­la­tio­nen, die gut 100 Jahre zuvor Thü­rin­gen zu Adolf Hit­lers »Mus­ter­gau« wer­den lie­ßen, und der umstrit­tene Thü­rin­ger AfD-Chef Björn Höcke alles andere als ein zwei­ter »Füh­rer«, auch wenn er sich noch so mar­tia­lisch gebär­det. Aber dass der im letz­ten Jahr­zehnt zu beob­ach­tende rasante Zuwachs der Rechts­au­ßen-Par­tei – deren Thü­rin­ger Lan­des­ver­band übri­gens am 27. April 2013 in Her­ren­hof, nicht Her­ren­berg, wie Debes schreibt, gegrün­det wurde – etwas mit dem durch »Selbst­sucht, Intri­gen und ekla­tante Füh­rungs­schwä­che« gepräg­ten Umgang des poli­ti­schen Per­so­nals mit der ihm ver­lie­he­nen Macht zu tun haben, ist sicher nicht von der Hand zu wei­sen. Und so las­sen Ereig­nisse wie das mehr­ak­tige Trauer- (für man­che auch Lust-) Spiel der letz­ten Minis­ter­prä­si­den­ten­wahl fatal an Ent­wick­lun­gen den­ken, wie sie der Demo­kra­tie in Deutsch­land bereits ein­mal schwer gescha­det haben.

Als erfah­re­ner Jour­na­list und renom­mier­ter Buch­au­tor weiß Debes natür­lich, wie man auch als Ver­fas­ser eines Sach­buchs seine Lese­rin­nen und Leser bei der Stange hal­ten kann. Aller­dings wäre die eine oder andere der den Text auf­lo­ckern sol­len­den Anek­do­ten – etwa jene des nach dem unge­wohn­ten Genuss rus­si­schen Wod­kas sich aus dem Auto­fens­ter auf die Thü­rin­ger Auto­bahn erbre­chen­den jun­gen Gewerk­schafts­funk­tio­närs bei einer der ers­ten Dienst­rei­sen des zukünf­ti­gen Minis­ter­prä­si­den­ten in den (noch sozia­lis­ti­schen) Osten – durch­aus ent­behr­lich gewe­sen. Zum Thema des Buches jeden­falls tra­gen die nur begrenzt unter­halt­sa­men Ein­spreng­sel in der Regel wenig bei.

Für die Tat­sa­che, dass mit dem Bünd­nis Sahra Wagen­knecht (BSW) seit Kur­zem eine in den aktu­el­len Umfra­gen vor der Wahl um die 20 Pro­zent der Thü­rin­ger Wäh­ler über­zeu­gende neue Alter­na­tiv­kraft die poli­ti­sche Bühne des Frei­staats betre­ten hat, bleibt Debes gegen Ende sei­nes Anfang 2024 abge­schlos­se­nen Buches dann lei­der nur noch zu wenig Platz. Immer­hin kann der Autor den Hin­weis plat­zie­ren, dass mit dem BSW plötz­lich ein Akteur exis­tiert, der »die unfrei­wil­lige Quer­front von AfD und Linke auf­bre­chen und neue Mehr­hei­ten ermög­li­chen« könnte. Dass es am 1. Sep­tem­ber nun tat­säch­lich so gekom­men ist und die kom­pli­zierte Bil­dung einer Regie­rung, die das Land durch die nächs­ten fünf Jahre füh­ren soll, auf der Agenda steht, bie­tet schon jetzt genug Stoff für einen Folgeband.

 

  • Mar­tin Debes: Deutsch­land der Extreme. Wie Thü­rin­gen die Demo­kra­tie her­aus­for­dert. Ber­lin: Ch. Links Ver­lag 2024, 278 S., 20 EUR
Diesen Artikel teilen:

Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio

Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2024 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]

URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/martin-debes-deutschland-der-extreme-wie-thueringen-die-demokratie-herausfordert/]