Mario Osterland – »Die Übergabe. Erinnerungen in Polaroid. Fragmente. Vorbereitungen«

Person

Mario Osterland

Ort

Erfurt

Thema

Von Heimat zu Heimat

Autor

Mario Osterland

Text und Fotos © Mario Osterland, 2022.

1 – Auf die­sen Glei­sen kam ein Teil mei­ner Fami­lie ins Dorf. Von den ande­ren erzähle ich später.

 

»Der Januar war bit­ter­kalt, aber unsere Mut­ter hat uns immer warm­ge­hal­ten. Da waren viele Kin­der im Zug, die oft krank waren oder zu schwach. Es gab ja nicht immer was zu essen. Die Erfro­re­nen haben sie an den Bahn­hö­fen weg­ge­ben. Man­che Müt­ter stie­gen mit aus, andere blie­ben sit­zen und fuh­ren wei­ter. Als wir hier am Bahn­hof stan­den, fragte uns der Schaff­ner, wohin wir eigent­lich wol­len. Da haben wir bloß mit den Schul­tern gezuckt und frag­ten, wohin der Zug noch fährt. Im nächs­ten Dorf ist Schluss, sagte der Schaff­ner, dann müs­sen Sie sowieso aus­stei­gen. Oder sie stei­gen eben schon hier aus. Da sagte unsere Mut­ter, dann stei­gen wir eben hier aus. Unser Onkel und unsere Tante sind mit ihren Kin­dern schon in Dres­den aus­ge­stie­gen, weil sie dort jeman­den kann­ten, bei dem sie unter­kom­men konn­ten. Aber von denen haben wir spä­ter nie wie­der was gehört.«

 

2 – Als ich ein Kind war, war die Über­gabe längst auf­ge­ge­ben wor­den und ver­wan­delte sich lang­sam in einen ver­lo­re­nen Ort.

 

Das Haupt­ge­bäude der alten Anlage stand damals noch, mit dem Büro des Fahr­dienst­lei­ters, sei­nem Schreib­tisch, dar­auf ver­streut lau­ter Papiere, Hefte, Bücher und ein Stem­pel­ka­rus­sell. In mei­ner Erin­ne­rung ist der Raum ange­füllt mit Schub­la­den und ein Büro­stuhl liegt zer­schlis­sen auf der Seite, mit in der Luft hän­gen­den Rol­len. Ich könnte heute nicht mehr genau sagen, wie es damals an der Über­gabe aus­sah. Aber ich weiß noch, dass wir in dem Häus­chen oder davor einen Feu­er­lö­scher fan­den, des­sen Schlag­knopf voll­kom­men ver­ros­tet war. Zu zweit ver­such­ten wir das Ding nach unten zu drü­cken, aber es gelang ein­fach nicht. Das Teil war also voll­kom­men nutz­los für uns und für jede andere Situa­tion. Doch wir kamen nicht gegen die Neu­gier an, was wohl gesche­hen muss, um den unter Druck ste­hen­den Zylin­der zum plat­zen zu brin­gen. Also schmis­sen wir das Ding mit vol­ler Wucht auf den Boden, sam­mel­ten Steine aus dem nahen Gleis­bett und pfef­fer­ten sie, so derb wir konn­ten, gegen das Metall. Der Feu­er­lö­scher wand sich unter die­sem Stein­ha­gel, rollte ein wenig zur Seite und tat uns kei­nen ande­ren Gefal­len, als ein biss­chen Lack von sei­nem Gehäuse abplat­zen zu las­sen. Ich sehe das noch immer deut­lich vor mir. Auch wie einer der Steine einen bestimm­ten Punkt am Kopf des Löschers getrof­fen haben musste, denn er begann ganz deut­lich zu zischen und ich bekam Schiss, dass uns das Ding jeden Moment um die Ohren flie­gen könnte. Wäh­rend ich in Deckung ging, griff mein Freund nach dem Ende des Schlauchs, das bis dahin schlaff an dem gestei­nig­ten Zylin­der hing und aus­sah, als wolle es die Tor­tur so unbe­tei­ligt wie mög­lich über sich erge­hen las­sen, da der geeig­nete Moment ins hohe Gras davon­zu­krie­chen ver­passt war. Dann aber schien der Schlauch ein Eigen­le­ben zu füh­ren. Lösch­schaum spritzte unkon­trol­liert nach allen Sei­ten und bedeckte mei­nen Freund in Sekun­den von den Schu­hen bis zur Schul­ter. Er hatte Glück, dass ihm die Lösch­pis­tole, die er mit sei­nen Kin­der­hän­den nicht kon­trol­lie­ren konnte, nicht gegen den Kopf knallte, denke ich heute. Damals gröl­ten wir beide vor Lachen und als wir uns wie­der beru­higt hat­ten, sahen wir ganz stumm auf das Gras, das Gestrüpp und die Gleise, die mit einem ganz fei­nen Schnee über­zo­gen waren, der nach ein paar Minu­ten in der Sonne schon wie­der geschmol­zen war.

Ich hatte nie davon gehört, dass das alte Haupt­ge­bäude der Über­gabe abge­ris­sen wurde. Seit eini­gen Jah­ren schläft ver­steckt im Gestrüpp nur noch ein Sei­ten­ge­bäude. Ein völ­lig ver­wahr­los­tes Sofa steht darin, ein Ofen, der schein­bar nur noch von Ruß zusam­men­ge­hal­ten wird und eine Flagge an der Wand. Borus­sia Dortmund.

 

3 – Nur ein paar Monate nach ihrer Ankunft stand die Über­gabe unter Beschuss. Von Nord­os­ten her rück­ten ame­ri­ka­ni­sche Sol­da­ten auf das Dorf vor.

 

Sie beschos­sen mit Pan­zern von einer Anhöhe aus den klei­nen Güter­bahn­hof und die Gleise. Auch mit Flug­zeu­gen soll die Über­gabe bom­bar­diert wor­den sein. Oder ver­wech­sel ich das? Womit? Auf dem Krie­ger­denk­mal am Fried­hof sind auf schwar­zen Tafeln die Namen deren auf­ge­lis­tet, die meist in Russ­land geblie­ben sind oder noch jahr­zehn­te­lang ver­misst wur­den. Unter ihnen befin­det sich eine ein­zige Frau, viel­leicht der ein­zige weib­li­che Name, den ich je auf einem Krie­ger­denk­mal in der Gegend gele­sen habe. Und diese Frau starb nicht in Russ­land oder Ita­lien, Jugo­sla­wien oder Frank­reich. Sie starb auf den Glei­sen. Aus einem Flug­zeug her­aus erschos­sen, sagt meine Erin­ne­rung. So haben sie es im Dorf erzählt, meine ein­zige Beglau­bi­gung. Erleb­tes, Erin­ner­tes, Erzähl­tes. Es ist alles so lange her.

 

4 – Pola­roid ist ein magi­sches Mate­rial. Die Filme soll­ten daher mög­lichst kühl gela­gert werden.

 

Am bes­ten gelin­gen Außen­auf­nah­men mit Pola­roid bei gemä­ßig­ten Tem­pe­ra­tu­ren. Andern­falls kön­nen sich die Bil­der ver­fär­ben. Ist es käl­ter als 10 °C, kön­nen sie in ver­schie­dene Töne von Blau-Grau glei­ten. Ist es aber hoch­som­mer­lich heiß, deut­lich über 30 °C, wer­den die Fotos sehr oft rot­sti­chig. So geben Pola­roids nicht nur den gewähl­ten Bild­aus­schnitt wie­der, son­dern las­sen mit­un­ter die Bedin­gun­gen ihrer Ent­ste­hung erken­nen. Die Resul­tate wer­den fehl­far­big wie Erin­ne­run­gen. Wie an die­sem Tag, an dem ich den alten Über­ga­be­bahn­hof süd­lich des Dor­fes umkreise. Über ihn ver­lief nicht nur die Bahn­stre­cke Greu­ßen-Keula, son­dern er bil­dete auch den Abzweig zur Gru­ben­bahn des Kali­berg­werks Vol­ken­roda. Das Salz, das Unter­tage geför­dert und auf Loren abtrans­por­tiert wurde, wurde an die­sem klei­nen Bahn­hof ver­la­den und zum Wei­ter­trans­port über­ge­ben. Daher der Name.

Ich frage mich, ob die Kin­der, die heute im Dorf leben, sich manch­mal fra­gen, warum hier zwi­schen den Fel­dern lau­ter Licht­mas­ten ste­hen. Ich frage mich, ob die Kin­der noch immer aben­teu­ernd ums Dorf strom­ern. Warum soll­ten sie nicht?

 

5 – Von der Über­gabe führt ein Gleis wei­ter nach Nor­den ins Dorf. Dort steht der Bahn­hof, an dem die Flucht mei­ner Oma endete, die ihrer Schwes­ter und ihrer Mutter.

 

Der Krieg führte sie von einem Dorf in ein ande­res. Das klingt wie ein kur­zer Weg, doch zwi­schen den bei­den Orten lagen fünf­hun­dert Kilo­me­ter Gleise, Stra­ßen und Fel­der. Das ist heute noch so, doch die Ent­fer­nung ist nicht mehr die glei­che. Das Spre­chen über Schle­sien klang bei uns trotz­dem bis zuletzt nach einem Spre­chen über ein sehr fer­nes Land, das sich von hier aus nicht mehr errei­chen lässt. Hier, irgendwo in Thü­rin­gen, lernte meine Oma ihren Mann ken­nen, mei­nen Opa, mit dem sie anfangs lange Spa­zier­gänge unter­nahm. Ent­lang der Gleise sind sie gegan­gen, die sich über die Dör­fer zogen, in Rich­tung der Über­gabe oder in Rich­tung der End­sta­tion, bis zu der sie nicht mehr fah­ren woll­ten. Wäre die Mut­ter mit ihren Töch­tern noch etwas wei­ter gefah­ren oder wären sie etwas frü­her aus­ge­stie­gen… aber so kam ein Teil mei­ner Fami­lie in die­ses Dorf. Das Gegen­stück dazu liegt am Rand einer Groß­stadt. Der Bahn­hof, von dem aus sie sich auf den Weg mach­ten, ist noch erhal­ten, noch in Betrieb. Er wurde mehr­fach restau­riert, erneu­ert und umbe­nannt. Wenn ich meine Oma fragte, woher sie kam, sagte sie immer Loh­brück. Dabei hieß der Ort eigent­lich Groß Moch­bern. Erst im Jahr ihrer Geburt wurde er umbe­nannt. Warum, das hatte sie nie so ganz ver­stan­den und konnte es mir nicht erklä­ren. Groß Moch­bern klang ein­fach nicht deutsch genug und so wurde dar­aus Loh­brück und blieb es nicht. So wie aus allen Dör­fern der Gegend andere wur­den und es nicht blie­ben. Aus Loh­brück wurde Mucho­bór Wie­kli, aus sei­nem Bahn­hof Wro­cław Zachodni, Bres­lau West.

 

6 – Als ich ein Kind war, gab es im Dorf schon lange kei­nen Bahn­be­trieb mehr. Auf­ge­ge­ben wurde der Bahn­hof des­we­gen aber nicht.

 

Ein Freund mei­nes Opas hatte »Zum alten Bahn­hof« eine Kneipe ein­ge­rich­tet, die viel mehr als eine Kneipe war. An einem der Sei­ten­fens­ter ver­kaufte die Frau des Wirts den Som­mer über Soft­eis. Man konnte Bock­wurst essen, Bil­lard spie­len und es sich einen Nach­mit­tag lang gut­ge­hen las­sen. Der Bahn­hof mei­ner Kind­heit war eine Gast­stätte, die Bahn­hof hieß. Gleise oder ein Bahn­steig waren nicht mehr zu sehen und darum brachte ich das Gebäude lange nicht mit Zügen in Ver­bin­dung, son­dern mit Cola für mich und Bier für mei­nen Opa. Bis mir irgend­wann ein­mal erklärt wurde, dass die Ter­rasse der Bahn­steig, der Gast­raum die Schal­ter- und War­te­halle war, der fla­che Anbau dane­ben ein Lok­schup­pen und, guck mal da oben, da hängt noch die alte Bahn­hofs­uhr. Aber in mei­ner Erin­ne­rung steht sie da schon lange still, wurde zwar immer mal wie­der auf­ge­zo­gen oder sonst­wie zum Lau­fen gebracht, um sich kurze Zeit spä­ter wie­der schla­fen zu legen, wie Gleise im Gebüsch. Das hat kei­nen Wert mehr, ist der Satz des Resi­gnie­rens, der nega­tiv aus­ge­fal­le­nen Rech­nung von Auf­wand und Nut­zen, der in mei­nem Gedächt­nis dazu abge­wun­ken wird. Nach­dem der Freund mei­nes Opas in den Wes­ten der Repu­blik zog, haben andere ihr Glück mit dem Bahn­hof als Kneipe ver­sucht, das wir, inzwi­schen Jugend­li­chen, darin fan­den. Statt Soft­eis leck­ten wir Salz und Zitrone vom Hand­rü­cken, der Bil­lard­tisch blieb erhal­ten, die Uhr stand wei­ter still.

Ich folge dem Gleis nach Nor­den und wo es nicht mehr zu sehen ist, folge ich der noch immer erahn­ba­ren Trasse zum alten Bahn­hof am Dorf­rand. Ein Bild steckt noch in der Kas­sette, der letzte von acht Wün­schen, die jeder Pola­roid­film gewährt. Nicht alle gehen in Erfül­lung. Ver­wende ihn weise. Ich umrunde die alten Back­steine zwei­mal. Die Kneipe hat nicht geöff­net, ist aber auch noch nicht geschlos­sen. Das hätte sich sogar bis zu mir her­um­ge­spro­chen. Der aktu­elle Knei­per hält noch immer durch, aber nicht aus wirt­schaft­li­chem Inter­esse. Seine kleine Stamm­kund­schaft ist loyal, also ist er es auch. Andern­falls wür­den sie ein­an­der wohl kaum noch begeg­nen. Je län­ger ich durch den Sucher schaue, um den rich­ti­gen Bild­aus­schnitt zu fin­den, desto weni­ger achte ich auf das Zif­fer­blatt. Das Foto schnurrt schließ­lich her­vor und ent­wi­ckelt sich lang­sam in mei­ner Hand. Sobald sich das Motiv zu erken­nen gibt, sehe ich auf mein Hand­ge­lenk, dann hoch zur Uhr und, um ganz sicher­zu­ge­hen, noch ein­mal auf das Foto. Fünf­zehn bis zwan­zig Minu­ten braucht ein Pola­roid, um sich voll­stän­dig zu ent­wi­ckeln. Die Abwei­chung auf dem Foto stimmt genau. Zum ers­ten Mal, so lang ich mich erin­nern kann, läuft die alte Bahn­hofs­uhr am alten Bahn­hof in mei­nem alten Bahn­hofs­dorf kor­rekt. Der jet­zige Knei­per hat sie in Stand set­zen lassen.

 

***

»Von Hei­mat zu Hei­mat – eine lite­ra­ri­sche Spu­ren­su­che« ist eine Reihe des Thü­rin­ger Lite­ra­tur­ra­tes e.V. mit freund­li­cher Unter­stüt­zung der Kul­tur­stif­tung des Frei­staats Thüringen.

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