Lutz Rathenow – »Die Türen im Identitätskalender: Heimat entdecken«

Person

Lutz Rathenow

Ort

Jena

Thema

Von Heimat zu Heimat

Autor

Lutz Rathenow

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Denke ich an Hei­mat, spült die Erin­ne­rung Ver­traut­hei­ten her­bei. Momente, in die sich einer zurück­füh­len will. Andere ver­blas­sen im nicht nur Ange­neh­men, im Dif­fu­sen. Sätze, Bil­der, Ereig­nis-Sze­nen, Gerü­che, der Geschmack kann Hei­mat sein. Oder spä­ter zu einer wer­den, wenn etwas an etwas erin­nert: zum Bei­spiel an das Ur-Essen aus der Kind­heit. Das, wovon man nie genug bekom­men konnte: Mehl­klümp­chen­suppe, von Oma her­bei­ge­zau­bert. In bläu­li­cher Zwetsch­gen­soße schwim­men unre­gel­mä­ßig geformte weiße Bro­cken: Mehl­klümp­chen­wol­ken. Mehl plus kochen­des Was­ser plus reich­lich Pflau­men erge­ben diese Soße, die zucker­frei diese Klümp­chen­welt erzeu­gen. Nicht ganz kochend, viel­leicht lag es an der geheim gehal­te­nen Tem­pe­ra­tur, dass diese Speise bei ande­ren Fami­li­en­mit­glie­dern spä­ter nie so recht zustande kam. Gekochte Zwetsch­gen mit reich­lich Soße füg­ten sich nur bei der einen Oma zu einem Klum­pen­uni­ver­sum, lie­ßen dies lang­sam auf dem Tel­ler ent­lang glei­ten. Wenn der Löf­fel für Bewe­gun­gen sorgte. Der dann Stück für Stück aus der Ord­nung her­aus­löste und in einem kau­en­den Mund ver­schwin­den ließ. Was für ein Nichts, das kos­mi­sche Gedan­ken her­vor­rief, nur eine zweite Spe­zia­li­tät von Oma hielt mit: Fleckensuppe.

Süß­sauer stank die ganze Küche, merk­wür­dige Teile von klei­ne­rem Getier fan­den sich auf dem Tel­ler wie­der. Das regte den Erkennt­nis­drang an. Das Essen als Puz­zle. Was gehört wozu. Ein­mal waren lau­ter Hälse auf dem Tel­ler. Es musste etwas statt­ge­fun­den haben, das ich jetzt nicht mehr beschrei­ben möchte, auch wenn ich es schon als mut­maß­li­ches »Mas­sa­ker« lite­ra­ri­siert habe. Warum hatte ich vor drei­ßig, vier­zig Jah­ren Ver­gnü­gen an solch nicht sanf­ten Bru­ta­li­sie­rungs­de­tails, auch in eini­gen Gedich­ten? Hei­mat­fin­dung oder eher De-Sen­si­bi­li­sie­rung ihr gegen­über? Um sich bes­ser abzuna­beln? Wäh­rend Omas Zwetsch­gen­suppe heute jeder­zeit das Prä­di­kat »vegan« stolz bean­spru­chen könnte, ist das mit den säu­er­lich zube­rei­te­ten Fleisch­fet­zen, den Inne­reien und Häl­sen wirk­lich eklig. Es war ein bil­li­ges Essen. Weil wir in den Fünf­zi­gern und Sech­zi­gern an vie­lem spa­ren muss­ten, sollte am Essen eigent­lich nicht gespart wer­den. Die Spei­sen als Ein­ver­ständ­nis­er­klä­rung an die Umwelt? Ein Thema, über das die Eltern gern rede­ten: das Thü­rin­ger Brat­wurst­uni­ver­sum. Den lecke­ren Blech­ku­chen der Kind­heit und Jugend, die von mir nicht so geschätz­ten Thü­rin­ger Klöße blei­ben unzu­be­rei­tet in die­sem Text, der zu den Häl­sen zurückkehrt.

Wie kam der Tel­ler­in­halt zustande, bitte ganz kon­kret: wer köpft wo und wann und wie. Lese ich meine frü­hen Texte, auch die aus­sor­tier­ten für den Sam­mel­band »Trot­zig lächeln und das Welt­all strei­cheln« fällt die Lust auf Unan­ge­neh­mes, Ver­dräng­tes, Gewalt­tä­ti­ges auf. Als wollte ich es berüh­ren, um sich schnel­ler ent­fer­nen zu kön­nen. Habe ich den Kanon-Ver­le­ger als ers­ten für meine Idee eines Sam­mel­ban­des ange­schrie­ben, weil er in Jena gebo­ren wor­den ist? Ver­mu­tete Gemein­sam­keit zur Hei­mat­in­sel im Thü­rin­gen­meer? Erfah­rungs­ge­bor­gen­heit. Unzu­frie­den­heits-behag­lich­keit? Ein­mal sah ich im Gar­ten wie Opa einem Huhn ohne Kopf  hin­ter­her­lief: in der einen Hand noch das Beil, sicher ver­län­gere ich die Blut­spur des ster­ben­den Tie­res in mei­ner Ein­bil­dung, in der es noch den Nach­bar­gar­ten erreichte. Kann nicht sein, da stand ein Zaun. Oder sollte der erst gesetzt wer­den? Jeden­falls löcherte ich die Eltern wegen der Hälse. Mut­ter­Va­ter beschwich­tig­ten mür­risch. »Küm­mere Dich lie­ber nicht darum, son­dern iss«. Den Satz hörte ich häu­fi­ger. Essen als Ver­drän­gungs­akt gegen­über dem, worum zu küm­mern es kei­nen Zweck hat. Das Wort GROBSCHMECKER könnte für die­sen Zustand erfun­den wer­den. Je dürf­ti­ger die Erklä­run­gen schei­nen, desto mehr wuchs die Neu­gier auf die Tat­sa­chen hin­ter den Erklä­run­gen. Die Details.

Jahre spä­ter im Kul­tur­haus Nord beim ein­zi­gen Tref­fen unse­res selbst­ge­grün­de­ten, wenige Wochen arbei­ten­den Jugend­klubs mit einem Staats­an­walt, der bei unse­rer klei­nen Cli­que wirk­lich vor­bei kam und mit uns zwang­los aber offi­zi­ell redete. Wor­über eigent­lich? Was mit sozia­lis­ti­scher Rechts­spre­chung und Straf­voll­zug. Wir strit­ten nicht, ein Abend ohne Empö­rungs­an­lass, erin­ne­rungs­blass – bis auf mein freund­lich trick­rei­ches Drän­gen, mehr über die kon­krete Durch­füh­rung der Todes­strafe in der DDR wis­sen zu wol­len. Denn dass es sie gab hatte ich gehört. Er lächelte das Thema hin­weg, ver­bale Aus­weich­be­we­gun­gen, ich ver­suchte seine Eitel­keit zu kit­zeln. Bis er schließ­lich die Pis­tole als aktu­el­les Mit­tel der Hin­rich­tung zugab, um pri­vi­le­gier­tes Extra-Wis­sen zu bewei­sen und nicht wie ein ahnungs­lo­ser Funk­tio­när dazu­ste­hen. Kein Fall­beil, kein Strick, keine Giftspritze.

Thü­rin­gen als ein Moti­va­tor für Unzu­frie­den­heits­lust. Das Land ist zu klein, um ganz ernst genom­men zu wer­den, selbst seine größ­ten Städte set­zen sich schon für Dres­den oder Leip­zig einem Nied­lich­keits­ver­dacht aus. Bei einem Weih­nachts­markt in Dres­den hörte ich zwei Thü­rin­ger strei­ten, ob eine Thü­rin­ger Brat­wurst eine Thü­rin­ger Brat­wurst bleibt, wenn sie außer­halb Thü­rin­gens gebra­ten wird. Es gibt Fra­gen, die wol­len keine Ant­wort, son­dern ein­fach immer wie­der gestellt wer­den. Die Sucht nach klei­nen Dau­er­pro­ble­men stärkt die Grund­be­hag­lich­keit, nach der es nicht nur Thü­rin­ge­rIn­nen dürs­tet. Ich habe jetzt Lust zu gen­dern, nie­mand zwingt mich, das Hono­rar wird nicht erhöht. Ich finde das Stern­chen aber nicht auf der Tas­ta­tur, schade. Ich könnte Thüringer:innen schrei­ben, warum nicht. Ab und zu. Einen Drei­fach­punkt dazwi­schen set­zen wäre eigen­wil­li­ger. Ich brau­che neue Satz­zei­chen, die meine Diver­si­täts­lust aus­zu­drü­cken ver­mö­gen. Die Spra­che als Hei­mat sollte dehn­bar, beweg­lich, ände­rungs­be­reit sein. Brat­wurst­durst, Brat­wurst­lust, was trifft es genauer. Die Iden­ti­täts­par­ti­kel duf­ten, das Par­füm der jewei­li­gen Her­kunft. Der böseste Thü­rin­gen­satz im neuen Sam­mel­band: »Von mir aus hätte sich damals meine Geburts­stadt in eine Rakete ver­frach­ten und ins Uni­ver­sum schie­ßen kön­nen.« Es ist auch der lie­be­vollste, ich wollte alle und alles mitnehmen.

Meine Igno­ranz gegen­über der Land­schaft ging davon aus, dass sie immer in der Nähe war und zur Ver­fü­gung stand und dis­krete Gebor­gen­heit anbot: der Wald, seine Wege im mild Ber­gi­gen. Immer mit der Chance, ver­schwin­den zu kön­nen, doch nicht hin­rei­chend wild, um sich ver­ir­ren zu müs­sen. Der Staat mischt sich erst spät in die Hei­mat ein. Oder früh, ganz früh, wenn es einer noch nicht bemerkt. Er kann Land­schaf­ten beschä­di­gen und Gerü­che ver­än­dern, durch Indus­trie oder einen Ver­zicht dar­auf. Zum Thü­rin­gen-Puz­zle im fort­wäh­ren­den Hei­mat­ka­len­der gehört der Zement im Haus mei­nes Opas, die Fabrik war in der Nähe. Die Dächer wur­den per Wind ver­putzt, die Wäsche musste vom Zement befreit wer­den. Erin­nere ich mich daran oder ließ ich mir die Erin­ne­run­gen ein­re­den. Kürz­lich bei einem Spa­zier­gang der Blick von der Ammer­ba­cher Platte, schon von Ernst Heckel gerühmt, ver­blüfft mich. War die Land­schaft schon immer der­art reiz­voll aus­ge­brei­tet wor­den? Bei Aus­lands­rei­sen ab 1990 stoße ich auf Per­spek­ti­ven, Blick­win­kel, die an Thü­rin­ger Spa­zier­gangs­land­schaf­ten erin­nern. Bin ich in so schö­ner Umge­bung aufgewachsen?

Ähn­li­che Land­schaf­ten, unter­schied­li­che Reso­nanz­räume. Vor drei Jah­ren besuchte ich den klei­nen Ort hin­ter Son­ne­berg noch ein­mal, mit einem Fern­seh­team, wo ich den als beklem­mend erleb­ten Armee­dienst 1972/73 ableis­ten musste. Am Rande Thü­rin­gens, der viel­leicht frän­kisch war, diese Iden­ti­täts­gren­zen sind schwer durch­schau­bar und flie­ßend. Die Staats­grenze war hyper­real, bru­tal geschützt, durch Leute wie mich. Ein­mal stand ich neben einem, der dar­auf war­tete, jemand erschie­ßen zu dür­fen, weil es ihm lang­wei­lig ihm Dienst war – sagte er. Viel­leicht, fällt mir jetzt ein, sagte er es aus Angst vor mir und wollte Schieß­be­reit­schaft signa­li­sie­ren. Um nicht als unzu­ver­läs­sig ins Wach­re­gi­ment ver­setzt und durch dau­ernde 24-Stun­den-Dienste zer­mürbt zu wer­den. An der rich­ti­gen Grenze gab es den trös­ten­den Wald, fri­sche Luft, betö­rende Aus­bli­cke. Die Bäume seien viel grü­ner, weni­ger ange­krän­kelt als in Bran­den­burg – meinte der unser Team beglei­tende Kame­ra­mann. Beim Anblick der kon­kre­ten Grenze damals wurde mir klar: nie­mals würde ich abhauen in die­sen Wes­ten, der so vor sich hin­lebte, sich kaum küm­merte, wer ihn vom Osten aus beob­ach­tete. Ich würde das Land nicht los­wer­den, wenn ich es ver­ließ. Oder suchte meine Feig­heit nur Gründe, sich hin­ter denen zu ver­ste­cken? Spä­ter ana­ly­sierte ich Thü­rin­gen his­to­risch: Es begann nach 500 unse­rer Zeit­rech­nung mit einem Auf­stand Thü­rin­ger Fürs­ten gegen Karl den Gro­ßen, Rechts­frage bei einer Hoch­zeit. Wie heißt es so schön frei­heits­träu­mend in einem Geschichts­buch »Dar­auf­hin ver­schwor sich Hard­rad mit zahl­rei­chen ande­ren Thü­rin­ger Adli­gen gegen den Kai­ser.« Um ihn zu töten. Es ging kom­plex und unüber­sicht­lich wei­ter, am Schluss wur­den die Ver­schwö­rer geblen­det, ihre Besitz­tü­mer ver­wüs­tet, dann ent­eig­net. Die Jahr­hun­derte danach ent­wi­ckelte Thü­rin­gen kaum eige­nen mili­tä­ri­schen Ehr­geiz, sehr sym­pa­thisch. Ab und zu diente es als Schlacht­feld, eine der größ­ten im Bau­ern­krieg fand bei Mühl­hau­sen statt – die Bau­ern wur­den dahin­ge­met­zelt. Napo­leon trickste sei­nen Geg­ner bei Jena-Auer­stedt aus, gewann den Kampf tri­um­phal, was Ein­hei­mi­sche und Gäste nicht hin­dert, die Nie­der­lage alle paar Jahre auf­wen­dig nach­zu­in­sze­nie­ren. Nicht nur die Städte Erfurt, Jena, Wei­mar inspi­rie­ren und berei­chern die Kultur‑, Wis­sen­schafts- und Indus­trie­ge­schichte. Ab 1920 ver­geht einem die Lust an der spöt­ti­schen Beschrei­bung, wie die Nazis sich 1930 in die erste Lan­des­re­gie­rung kata­pul­tie­ren konn­ten. Geschichte sollte kein Selbst­be­die­nungs­la­den sein, bei der sich jeder her­aus­greift, was ihm an Ver­glei­chen passt, bei der Hei­mat­fin­dung ist der Zufalls­ge­ne­ra­tor eige­ner Erleb­nisse unver­meid­bar. Aber ein his­to­ri­scher Fakt lässt sich nicht aus­klam­mern oder weg ver­glei­chen. Ich besuchte die Gedenk­stätte zum KZ Buchen­wald häu­fi­ger und schrieb in den Nuller­jah­ren ein Fea­ture. Erst bei die­ser hörte ich ein Ton­do­ku­ment aus dem Jahr 1930, das mei­nen Hei­mat­be­griff in Frage stellte. Zwei füh­rende Nazis in Thü­rin­gen reden über ihre Visio­nen, um »aus dem thü­rin­gi­schen Lande mehr und mehr einen Trutz­gau und im Rah­men des Rei­ches gese­hen eine Zelle höchs­ter idea­lis­ti­scher Gesin­nung und aktivs­tem Kampf­geis­tes zu schaf­fen der sich auf das schwarz-rot-gol­dene Sys­tem­reich heil­sam aus­wir­ken sollte. Die demo­kra­tisch-jüdi­sche Welt Euro­pas und der ande­ren Erd­teile tobte mit all ihren Gazet­ten gegen die neue natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Gesin­nung von Wei­mar.« Ent­setz­lich, das Bau­haus war ja schon ver­trie­ben wor­den. Nein, es war nicht so sehr die Ein­sicht, dass vor den Ver­bre­chen die Pla­nung der Ver­bre­chen exis­tiert. Und die­ses unter Gemüt­lich­keits­ver­dacht ste­hende Thü­rin­gen in die­ser Zeit ein poli­ti­sches Welt­zer­stö­rungs­la­bo­ra­to­rium erzeu­gen wollte und auch schuf.

Wäre ich jetzt in einem Film, gäbe es einen Schnitt und einen Zeit­sprung. Thü­rin­gen bie­tet sich heute als Wett­be­werb sei­ner Mög­lich­keits­for­men an. Nur wer die Hei­mat ändert, bleibt ihr zukunfts­treu. Ich schließe mit einer Tage­buch­no­tiz (9.2.1990): »Das Wehr an der Saale, ein Fluss, der Jena teilt. Ich beob­achte die Holz­stü­cke, die sich aus dem Sog befreien wol­len. Immer wie­der wer­den sie an den Beton gedrückt, klat­schen gegen das Was­ser, von dem sie längst durch­tränkt sind. So rasch ver­fau­len sie nicht, zu che­mie­hal­tig dürfte die Brühe sein. Unbe­irrt kämpft das Holz gegen die Strö­mung. Dazwi­schen bunte Bälle, die tan­zen im Radius des Soges. Jeder Gegen­stand wirkt anders, je län­ger man ihn betrach­tet. Jeder weicht anders dem Druck aus, neues Was­ser kippt über das Wehr hin­ein. Was nor­ma­ler­weise dazu führte, weg­zu­spü­len, sta­bi­li­siert den Sog, fes­selt alles Weg­stre­bende an ihn. Sym­bol für eine aus­weg­lose Situa­tion. Da sich etwas bewegt, keimt die Hoff­nung, genau in die­sem Moment könnte die Befrei­ung gelin­gen. Und mit­un­ter gelingt sie, unvor­her­seh­bar, plötzlich.«

 

 

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