Thema
Bärbel Klässner
Alle Rechte bei der Autorin. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
»The Poetry is in the pity« schrieb der Dichter Wilfred Owen. Die deutsche Übersetzung von pity, das Mitleid, hat im vorigen Jahrhundert einen Bedeutungsabsturz erlitten. Wurde zunächst noch echtes von falschem Mitleid unterschieden, wohnt dem Begriff des Mitleids nun per se eine Überheblichkeit und Herabsetzung der Leidenden inne. Schade um das schöne Wort. Also Mitgefühl, Empathie, Anteilnahme, Solidarität mit den Schwächsten – darin liegt, so Owen, die Poesie. Ich wünschte, die Dichterinnen und Dichter von heute sagten einen solchen Satz. Sagten ihn ohne Angst, als »Sozialromantiker« zu gelten oder »Betroffenheitsliteratur« zu erzeugen, nicht »unaufgeregt« genug zu schreiben oder sich als »Gutmensch« verdächtig zu machen. Sagten ihn in Gedenken an den jungen britischen Soldaten, dessen bekannteste Zeile diese ist: »Mein Herz ist so groß wie Deutschland und Frankreich zusammen – durchbohrt von allen Geschossen der Welt.« Es war ein wahrlich großes Herz zu jener Zeit, als zum ersten Mal ein »moderner«, technisierter Krieg geführt, zum ersten Mal mit Maschinengewehren, Granaten, Minen und Gas getötet wurde. Siebzehn Millionen Menschen verloren ihr Leben, darunter auch der Dichter Wilfred Owen.
Anschließend starben in der Grippe-Pandemie von 1918 bis 1920 noch einmal mehr als 20 Millionen Menschen, ja, bis auf 100 Millionen wird die Zahl der Toten geschätzt. Die medizinische Versorgung und Forschung in den vom Ersten Weltkrieg gezeichneten Ländern war längst nicht so fortgeschritten wie die Rüstungsindustrie, die Mobilität, durch das Ende des Krieges bedingt, sehr hoch, Hygienemaßnahmen schwer durchsetzbar. Es starben junge Frauen und Männer, hinterließen Witwer, Witwen und Waisen, verwaiste Alte, für die keine/r mehr sorgen konnte. Millionen Hinterbliebene, Trauernde. Millionen traumatisierte, hungernde, kriegsverletzte, erschöpfte, verstörte, an den Folgen von Krieg und Krankheit leidende Menschen. Wer hätte da nicht sagen wollen, so etwas dürfe nicht noch einmal geschehen? Aber Nazideutschland begann nur zwei Jahrzehnte später den Zweiten Weltkrieg, noch »moderner«, mit Flugzeugen, U‑Booten. Unvorstellbar grausam der industrialisierte Völkermord. Furchtbar, noch nach Generationen, auch die Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Wie groß mussten die Herzen der Dichterinnen und Dichter werden? Wie groß sollten unsere Herzen heute sein – größer als die eigene Wohnung, das eigene Land, größer als Europa, nicht weniger groß als unser gesamter gefährdeter Planet – durchbohrt von allen Katastrophen der Welt?
Glaube ich den Schlagzeilen der großen Medien, leiden die Dichterinnen, Schriftsteller, Künstlerinnen, Schauspieler in Deutschland zur Zeit vor allem daran: An den Einschränkungen, die ihnen zum Schutz vor der Ausbreitung von Corona-Infektionen auferlegt wurden. Kurz nach der Gedenkveranstaltung für die Toten der Corona-Pandemie in Deutschland veröffentlichten über 50 SchauspielerInnen Videoclips, mit denen sie mit dem Mittel des Sarkasmus die Corona-Politik und die ihrer Meinung nach »fehlgelaufene Kommunikation« kritisierten. Dabei schien ihr Herz mindestens so groß wie ihr Ego und füllte höchstens die eigenen vier Wände aus. Durchbohrt von Frust, Unverständnis, Ungeduld, dem überbordenden Bedürfnis nach Aufmerksamkeit. Viele Menschen empfanden die Aussagen zynisch und menschenverachtend. Der Gegenwind blieb nicht aus, zum Glück, sage ich. Auch wenn ich Beleidigungen, Drohungen bis hin zu Morddrohungen als Reaktion ebenso ablehne wie die Aktion selbst. Einige zogen ihre Videos zurück und entschuldigten sich. Der Kommissar-Dupin-Darsteller Paquale Aleardi sagte in der NDR-Sendung »Das«, er sei naiv gewesen, er habe die Leute zum Lachen bringen und niemanden verletzen wollen. Das sei »nach hinten losgegangen«. Chapeau! Die eigene Naivität einzugestehen, vielleicht auch in Hinblick auf einen der Initiatoren von »#allesdichtmachen«, Dietrich Brüggemann und seine Verbindungen zur Querdenkerszene, ist immerhin ein Anfang. Brüggemann, ein Meister der Begriffsverdrehungen, bezeichnet den auf die Aktion folgenden Shit-Storm als »faschistoid«, verlinkt in seinem Twitter-Account zur sogenannten »Freien Linken«, eine Gruppierung, die sich an Querdenker- Demonstrationen beteiligt und deren Äußerungen gut mit der Neo-Nazi-Szene kooperieren. Es ist nicht abwegig zu vermuten, dass sich über 50 mehr oder weniger naive SchauspielerInnen haben instrumentalisieren lassen und im Beifall von rechts auch die Freude über einen aufgegangenen Plan mitklang. Ob unsere Tatort-DarstellerInnen & co das hätten durchschauen müssen oder können, sei dahingestellt, ihre satirisch verbrämte Kritik, ist vor allem eins: mitleidlos. Anders als die inzwischen negative Konnotation des Wortes »Mitleid«, bleibt das Antonym in der ursprünglichen Bedeutung: ohne Mitgefühl, herzlos, kalt. Michael Freitag bringt es in der Leipziger Zeitung vom 6.5.21 in seinem Kommentar »Der rosa Elefant« auf den Punkt: »Nein, keine Verharmlosung der Pandemiefolgen für die Bevölkerung, aber eine gewisse Gelassenheit angesichts der Pandemie-Bilder echter Not, die uns seit Tagen aus Indien in unseren warmen Stuben erreichen.«
Nicht alle der besagten SchauspielerInnen haben sich entschuldigt oder ihren Clip gelöscht. Einer hat sich vehement hinter die Aktion gestellt, sich vom Gesundheitsminister einladen lassen, erzählt, er sei »meschugge« geworden von der Berichterstattung: Corona, Corona, Corona. Er hätte deshalb keine Medien mehr verfolgt, da sei es ihm besser gegangen. Aber noch schlecht genug, um die ignorierten Medien dann pauschal zu kritisieren. Er bekäme so viel Zuspruch von Leuten, die ihn einfach auf der Straße ansprächen und nur weil Reichsbürger und Querdenker das Gleiche sagen, sei es ja nicht falsch. Und er erfuhr etwas ganz Wunderbares: Eine enorme Steigerung seiner ohnehin schon großen Popularität. Eine deutsche Corona-Geschichte, die uns auch in die warmen Stuben flimmert oder per ZEIT auf den Tisch flattert. Ich weiß nicht, ob ich mich schämen oder kotzen soll oder beides.
Es gibt zehntausende SchauspielerInnen in Deutschland, es gibt DichterInnen, KünstlerInnen und auch Menschen »auf der Straße«, die nicht so denken und handeln. Das ist ein Trost. Welchen Stimmen Raum und Aufmerksamkeit zuteil wird, das macht mir Sorgen.
Grenzüberschreitungen
Führt die aus der Querdenker- und rechten Szene stammende und dauernd wiederholte Unterstellung, die Medien würden nicht kritisch genug über die Corona-Politik berichten, dazu, dass diese sich gezwungen fühlen, der Kritik einen übergroßen Platz einzuräumen? In der allgegenwärtigen Floskel »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!« wird die Unterstellung von angeblichen Tabuisierungen immer wieder verstärkt. Das Absurde besteht darin, dass eine Person gerade ausspricht, was sie behauptet, nicht sagen zu dürfen. Dabei wird auch beständig das Narrativ reproduziert, die Meinungsfreiheit und die Demokratie in Deutschland seien in Gefahr oder gar nicht mehr gegeben. Die Meinungsfreiheit ist in Gefahr, wenn JournalistInnen auf Querdenkerdemos attackiert werden.
Mit dem Satz vom Nicht-sagen-dürfen und dem Pendant »eine Demokratie muss das aushalten« testet die AfD beständig die Grenzen der Meinungsfreiheit aus und hat es (weil Deutschland eine Demokratie ist) bis in den Bundestag geschafft. Es ist gut, dass nicht alles gesagt werden darf. Niemand muss faschistische, menschenverachtende, auf Gewalt und Mord zielende Aussagen aushalten oder hinnehmen, dagegen gibt es Gesetze. An der Grenze zwischen Meinungsfreiheit und Straftatbestand laviert die AfD so geschickt, dass diese Grenze durchlässiger wird, zu verschwimmen droht. Das Ungesagte, weil Gesetzwidrige, wird im gerade noch Sagbaren transportiert, wahrgenommen und von AnhängerInnen und SympathisantInnen einer Rechts-Außen-Partei in Gewalt gegen Muslime, gegen Flüchtlinge, gegen Juden und Jüdinnen, gegen Schwule, gegen schwarze Menschen, gegen MigrantInnen, neuerdings auch gegen Polizei und Medienvertreterinnen ausagiert oder im Internet verbreitet, bejubelt und verstärkt. Die Akteure müssen sich nicht eines Bundestagsmandats wegen scheinheilig von Gewalt distanzieren – ein perfides Zusammenspiel.
So behauptete Alice Weidel in der Talk-Show bei Markus Lanz, die AfD habe mit Querdenkern nichts zu tun. Wenn AfD-Abgeordnete auf deren Demos zu finden seien, so nur als »Beobachter«, um zu erkunden, was die Menschen so denken. Auch wenn Herr Lanz beharrlich insistierte, dem Konzept vieler Fernseh-Talk-Shows, möglichst Gäste mit konträren Meinungen einzuladen (Konfliktstoff für die Einschaltquoten), ist es dennoch geschuldet, dass Alice Weidel (AfD) bei ihm am 4.4.21 ihre große Bühne bekam. Sollte wieder einmal bewiesen werden, dass die Medien den »Diskurs« um ein Für und Wider der Corona-Schutzmaßnahmen nicht scheuen? Frau Weidel nutzte ihren Auftritt, beanspruchte ein Übermaß an Redezeit, fiel ins Wort, wiederholte dreiste Lügen mit großer Strahlkraft und Selbstgefälligkeit. Die klugen, wissenschaftlich fundierten Ausführungen des ebenfalls eingeladenen Epidemiologen Prof. Timo Ulrichs verblassten dagegen, mussten verblassen. Beim Ansehen schmerzte es mich. Einen Diskurs kann ich es nicht nennen, wenn die eine Seite mit Expertise und die andere mit Polemik, Lügen und Verdrehungen »argumentiert«. Wer die Sendung mit wachem Verstand verfolgte, dem dürfte dennoch nicht entgangen sein, wie geschickt die Corona-Pandemie und die zum Infektionsschutz geltenden Einschränkungen von der AfD als Katalysator genutzt werden, um im verdrehten Begriff von einer »Merkel-Diktatur«, (Frau Weidel sprach von »verfassungswidrigen Gesetzen« und »planwirtschaftlichen Eingriffen«) die eigenen anti-demokratischen Bestrebungen zu tarnen und gleich noch WählerInnen und AnhängerInnen unter Impfgegnern, EsoterikerInnen und Menschen, die an der Komplexität der Situation »meschugge« geworden sind, einzusammeln.
Gerichte beschäftigen sich nun mit der Frage, ob die Aufschrift »Ungeimpft« oder »Impfjude« in einem gelben Stern, der an das Stigma des sogenannten »Judensterns« im dritten Reich erinnert, verboten werden soll oder nicht. Ich frage, was ist darüber hinaus mit all den auf »Anti-Corona-Demos« gezeigten Plakaten, auf denen Angela Merkel, Prof. Christian Drosten oder Dr. Karl Lauterbach in KZ-Häftlingskleidung dargestellt werden, beschriftet mit mehr oder weniger offenen Drohungen? Was ist mit den Zitaten von Sophie Scholl oder Rosa Luxemburg, die schamlos vereinnahmt und missbraucht werden? Jenseits von Kriminalität und deren immer größer werdender Grauzone gibt es in Gesellschaften auch Regeln und Übereinkünfte, die ich mit dem altmodischen Wort »Anstand« bezeichnen möchte. Wenn die Grenzen von Anstand und Menschlichkeit immer wieder vehement überschritten werden, kann die ohnehin überlastete Justiz nicht mehr als hier und da ein Zeichen setzen.
Das rechtsextreme Gedankengut sei immer da gewesen, jetzt werde es nur sichtbar, höre ich oft. Die Sichtbarkeit und Unüberhörbarkeit aber wirkt in dem »Stresstest«, dem die Gesellschaft durch die Pandemie ausgesetzt ist, wie ein Magnet und Selbstverstärker. Die Gewöhnung an das offene Zeigen von Nazi-Symbolik, an die Begriffsverdrehungen, durch die Holocaust-Opfer verhöhnt und ihre Leiden bagatellisiert werden, wirkt gefährlich auf den Wertekonses, für den wir alle verantwortlich sind. Ich glaube noch immer, dass WIR viele sind, mehr, hoffentlich genug, um zu verhindern, dass rechtsextremes Gedankengut weiter die Gesellschaft vergiftet und unsere Demokratie gefährdet. Ich rechne besonders auch mit dem Einspruch der Künstler und Künstlerinnen, damit die Grenzen, was tolerabel ist und was nicht, wieder klar gesetzt werden. Das wird viel Kraft, viel Engagement kosten und ich hoffe für mich und für Deutschland, es möge gelingen.
Der Einspruch der Künstler
Als DIE ZEIT am 29.4.21 »Der Einspruch der Künstler« titelte, lud sie zwei Schriftstellerinnen und einen Schriftsteller zum Gespräch, deren »Sorgen um Deutschland«, die sie unisono vortrugen, ganz andere sind als meine, und die sich, wenngleich eloquent und in einem veritablen intellektuellen Vokabular ausgeführt, von den »Sorgen« von AfD und Querdenkern nicht so recht unterscheiden lassen.
Also erhebe ich Einspruch gegen den »Einspruch der Künstler«. Ich, Künstlerin, Schriftstellerin, erhebe Einspruch gegen die Vereinnahmung, die diese Schlagzeile impliziert.
Unter der Überschrift »Es geht nicht darum, wer recht hat«, die wohl besser hätte lauten sollen »Es geht nicht darum, wer rechts ist«, werden Juli Zeh, Daniel Kehlmann und Thea Dorn als Personen vorgestellt, die »immer wieder Kritik an der Art der Pandemie- bekämpfung [geübt]« hätten. Ja, das stimmt. Ich erinnere mich an das Interview mit Juli Zeh in der Süddeutschen Zeitung vom 5.4.20, in dem sie sagte, sie sei ja keine Expertin, aber es wäre eine Möglichkeit, »… hochgradig und gezielt die Risikogruppen [zu schützen], während man dem Rest der Bevölkerung erlaubt, sich zu immunisieren.« Diese »Erlaubnis«, so haben Experten bestätigt, hätte viele Todesopfer, schwere Krankheitsverläufe und Folgeschäden auch in der jüngeren Bevölkerung mit sich gebracht, von der Überlastung der Intensivstationen mal ganz abgesehen. Die Bundesregierung habe, so Frau Zeh, überstürzt auf »prominente Berater« gesetzt, anstatt den wissenschaftlichen Diskurs abzuwarten. Den Beweis dafür bleibt sie uns schuldig. Nun ist Frau Zeh tatsächlich weder Virologin noch Epidemiologin und wenn selbst der erfahrene Wissenschaftler Michael Osterholm, Berater des US-Präsidenten Joe Biden, zu bedenken gibt, wie groß, wie außergewöhnlich die Herausforderung ist, vor die uns das SARS-Covid-19-Virus stellt und im ZEIT ONLINE- Interview vom 21.5.21 sagt: »Ich glaube, das ist der Punkt, wo die Demut ins Spiel kommt: Wissen Sie, wir verstehen dieses Virus einfach nicht« – müsste da die Demut einer Nicht- Expertin nicht noch etwas größer sein? Ja, Menschen irren, Menschen können ihre Irrtümer revidieren. Oder in neuer Wortverkleidung wiederholen. Ich weiß nicht, wie viele Studien Juli Zeh inzwischen gelesen hat und wie weit sie den wissenschaftlichen Diskurs verfolgt, sie ist aber sicher, dass es den »Ausnahmezustand« nicht gebraucht hätte: »Impfung bereitstellen, Alten- und Pflegeheime angemessen schützen, die Krankenhäuser großzügig ausstatten.« Natürlich, Frau Zeh, hätten wir ein Vielfaches an Intensivstationen und genug Pflegepersonal, dann hätten wir uns auch ein Vielfaches an Infektionen, an schweren Covid-19-Krankheitsverläufen und Toten pro Tag leisten können, und der Rest hätte nicht auf Theaterbesuche und fröhliches Beisammensein verzichten müssen. Oder würde gar von Ausgangssperren belastet.
Die Forderung von Frau Dorn, über Maßnahmen hätte gestritten werden müssen, was ja durchaus mehr als genug getan wurde und wozu sie selbst auch gerade wieder die Gelegenheit nutzte, wirft doch die Frage auf, in welcher Weise ein solcher Streit hätte geführt werden sollen. Ich hätte mir eine Diskussion darüber, vielleicht noch eine Volksabstimmung, wie viele Tote wir so in Kauf nehmen wollen für unsere »Freiheiten«, nicht gewünscht. Mit Verlaub, ich finde das zynisch. Und der Satz von Frau Zeh, wir hätten »als Menschen immer die Freiheit zu entscheiden, ob wir ein Großproblem als Ausnahmezustand betrachten oder als eine der zahllosen Verwerfungen, die wir zu bewältigen haben«, ähnelt doch sehr dem im Querdenkermilieu verbreiteten Narrativ, die Corona-Pandemie würde, aus welchen Gründen auch immer, schlimmer dargestellt, als sie eigentlich sei. Die »Ausgangssperre«, eine letzte und durchaus selten und unter Abwägungen erfolgte Maßnahme, muss in dem besagten Gespräch immer wieder als Paradebeispiel (oder sollte ich sagen »Schreckgespenst«?) für ein ganzes Bündel von Maßnahmen herhalten, über deren Angemessenheit oder Unangemessenheit die drei geladenen LiteratInnen sich befugt fühlen, urteilen zu können.
Auf die naheliegende, vom Moderator Adam Soboczinsky gestellte Frage, ob die Gäste »böse Absichten bei den Regierenden [vermuten]«, reagiert Daniel Kehlmann ganz empört, es gebe »keinen bösen Plan zur Abschaffung der Demokratie durch Corona.« Zumindest grobe Fahrlässigkeit muss er aber doch für möglich halten, wenn er anschließend sein düsteres Bild von der »stillgelegten Gesellschaft« malt und Prof. Christian Drosten, der (was für ein Zufall!) in Querdenker-Kreisen zur Hassfigur und zum Sündenbock stilisiert wurde, als einen von selektiver Wahrnehmung gesteuerten Despoten darstellt, der demnächst noch die »Ausgangssperre am Tag« wolle.
Worte sind verräterisch. Auf Wissenschaftler »hören«, lese ich, nicht etwa sich beraten lassen, sich hinter der »Wissenschaft verschanzen«, an »Modellierungen glauben«, was in sich völlig absurd ist, ich lese auch »Drohkulisse und Angst als Kommunikationsmittel« und immer wieder den mehr oder weniger subtilen Vorwurf an die Bundesregierung, sie habe auf die WissenschaftlerInnen »gehört«, die immer für die drakonischsten Maßnahmen eingetreten seien. Ein unhaltbarer Vorwurf, denn nach dreizehn Monaten Pandemie- Management musste sich die Regierung ebenfalls sagen lassen, sie hätte im November ’20 schneller handeln müssen, um Menschenleben zu schützen. Hätten sich Kehlmann, Dorn, Zeh gewünscht, auf die Standpunkte der WissenschaftlerInnen sollte »gehört« werden, die einer Mehrheit am besten gefallen, unabhängig von Evidenz und Expertise? Wäre das die Demokratie, für die sie sich angeblich einsetzen?
Im ihrer Meinung nach »unangemessenen« Handeln der Regierenden sieht Zeh Angst als Grund, genauer: »Angst, man könnte ihnen später vorwerfen, dass sie zu wenig getan haben«. Wenn ich Entscheidungen von großer Tragweite treffen müsste, hätte ich vor allem (berechtigte!) Angst, ich müsste mir eines Tages selber vorwerfen, nicht genug getan zu haben, um Menschenleben zu retten. Das wird Gewissen genannt. Dass auch in einer Demokratie gewählte PolitikerInnen ein solches haben könnten, zieht Frau Zeh nicht in Erwägung. Angstgesteuerte, hörige, entscheidungsscheue, mit Drohungen und Schuldzuweisungen arbeitende PolitikerInnen – das ist das Bild, das mir gezeigt wird. Auf der anderen Seite die vielen, die sich »Gängelungen verordnen lassen« (Dorn), die angeblich »Gehorsamen«, die bei Querdenkern, die sich ja auch vehement gegen »unangemessene« Maßnahmen einsetzen, als »Merkel-Jünger« diffamiert werden.
Menschen wie ich und viele andere, die Aufklärung nicht mit Drohung verwechseln, die den Zusammenhang von steigenden Infektionszahlen (Krankheitsverläufen, Toten) und der Mobilität in der Bevölkerung und ebenso das Präventionsparadox verstanden haben, die Freiheit nicht als »Hauptsache ich« verstehen, sondern als einen Wert, der Verantwortung und Solidarität mit Schwächeren einschließt – solche Menschen kommen in dem Deutschland-Bild, das uns die drei SchriftstellerInnen vorführen, nicht vor. Für wen sprechen sie, für wessen »Freiheit« setzen sie sich ein? Frau Zeh, so beginnt sie das Gespräch, mache sich Sorgen, weil eine »Rhetorik des Ausnahmezustands um sich greife«. Ich, Bärbel Klässner, mache mir Sorgen, dass eine Rhetorik rechter bis rechtsextremer Polemik um sich greift. Das »Fischen am rechten Rand«, das gern als Strategie von Parteien befürwortet wird, um Menschen mit rechten Standpunkten in der »Mitte« der Volksparteien einen Platz zu geben und damit das Erstarken rechtsextremer Parteien zu verhindern (ob das klappt, sei dahingestellt), scheint auch für SchriftstellerInnen von Bedeutung. Nur werden nicht WählerInnen »gefischt«, sondern LeserInnen, Aufmerksamkeit, gut honorierte Talk-Show-Auftritte. Um was zu verhindern? … ??
Beim »Fischen am rechten Rand« sollte gehörig aufgepasst werden, dass der Rand als solcher noch stabil bleibt, sich nicht verschiebt oder der Fischer gleich selbst mit über Bord geht. Da sehe ich sehr viel Diskussionsbedarf.
Verzeihen oder nicht verzeihen
»Wir werden einander viel verzeihen müssen«, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn zu Anfang der Pandemie, und was immer es für berechtigte Kritik an seinem Handeln und seiner Person gibt, bleibt dieser Satz wahr.
Wir alle, die ganze Welt, ist in eine Situation geraten, die sie in dieser Art noch nicht erlebte, für die es keinen Masterplan gab (hätte es geben müssen, kritisieren einige, nun ja, »hätte« half nicht weiter). Eine Situation von hoher Komplexität, die weltweit EntscheiderInnen, WissenschaftlerInnen und auch die »einfachen« Menschen vor hohe Herausforderungen stellt, deren Dynamik noch immer Überraschungen bereithalten kann, die ein Ausmaß an Dilemmata produziert und offenlegt, dem wir uns sonst kaum bewusst sind und durch die die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, weltweit gesehen, bisher nicht eben am schlechtesten durchmanövriert wurde. Fehler, wie überall, inbegriffen. Eher wäre unserer Regierung vorzuwerfen, sie habe ein paar Mal zu oft nach dem Grundsatz »Germany first« gehandelt als zu selten. Was ist mit den Zuständen in den Lagern auf den griechischen Inseln, in denen Menschen unvorstellbar leiden müssen und »vergessen« werden? Was mit den Menschen in Ländern, die sich Impfstoff nicht leisten können? Werden sie uns eines Tages unser zu kleines Herz verzeihen? Oder wir uns selbst?
Viel verzeihen heißt nicht alles verzeihen
Ist zum Beispiel die Dummheit verzeihlich, über der die SchriftstellerInnen Zeh, Dorn, Kehlmann im Gespräch mit Adam Soboczinsky in der ZEIT einen riesengroßen intellektuellen Ballon aufgeblasen haben?
Na gut, ich verzeihe erst einmal Herrn Daniel Kehlmann den Blödsinn, den er seit Beginn der Pandemie kontinuierlich in Interviews von sich gegeben hat, wobei natürlich nicht alles Blödsinn war. Ich verzeihe sogar die Eitelkeit, sich immer wieder als »Prominenter« zu äußern (wenn man halt angefragt wird, nunja, Bücher verkaufen sich nicht von selbst). Ich verzeihe ihm, sich einer Floskel bedient zu haben, die wirksam wie die vom »Nicht sagen dürfen« die eigene Aussage verstärkt: »Ich weiß, dass es in Deutschland einen Reflex gibt, den schwedischen Weg als falsch zu betrachten.« Und da wir ja nicht Reflexen unterliegen wollen, lasen wir das Plädoyer Kehlmanns für den »schwedischen Weg« mit Respekt vor seinem großen Mut. Ich verstehe und verzeihe, dass er uns an seinen Horrorphantasien vom »ewigen Lockdown« teilhaben ließ: »eine radikale Dystopie, eine brachliegende Gesellschaft, in der wir massenhafte Verarmung sehen und ständig sorgenvoll auf das nächste Briefing des Robert-Koch-Instituts warten, in dem man uns mitteilt, ob man irgendwelche »Lockerungen« womöglich wieder zurücknimmt.« Soll ich ihm auch verzeihen, dass er aus einer tiefen emotionalen Ablehnung von »Beamtentum« den MitarbeiterInnen des Robert-Koch-Instituts unterstellte, sie würden uns in die Irre führen mit undurchschaubaren, selbst modellierten Zahlen, weil »diese grauen Hüter über die Zahlen Beamte [sind], sie müssen die Folgen einer stillgelegten Gesellschaft nicht fürchten.«? Kultur sei ihnen (den MitarbeiterInnen des Robert-Koch-Instituts) fremd, behauptet Kehlmann an anderer Stelle. Das muss ich nicht verzeihen. Darauf hat er von Patrick Bahners in dessen Kommentar »Der Dichter ist vermessen« in der FAZ vom 9.5.20 schon Paroli bekommen: »Lothar Wieler, dem Präsidenten des RKI, unterstellt Kehlmann, dass er ohne Zögern eine Versammlung von Opernbesuchern auseinandertreiben würde, und er bringt diese Unterstellung ohne Zögern vor, obwohl er doch gar nicht wissen kann, ob bei diesem höchstqualifizierten Naturwissenschaftler im Ministerialdienst nicht sein Schmöker über Gauß und Humboldt im Regal steht.« Es wäre jetzt an Lothar Wieler zu verzeihen. An seiner Stelle würde ich das nicht tun.
An dieser Stelle möchte ich aber Folgendes tun: Prof. Dr. Lothar H. Wieler und dem Team vom Robert-Koch-Institut danken für mehr als ein Jahr unermüdlicher Arbeit, für schlaflose Nächte, für das Aushalten und Wahrnehmen von Verantwortung, für den Dienst an uns allen. Dazu sei gesagt, dass weder WissenschaftlerInnen, egal ob Virologinnen, Intensivmediziner oder Modellierer, noch die Beamten vom Robert-Koch-Institut dazu befugt sind oder waren, Maßnahmen im Sinne des Infektionsschutzgesetzes zu beschließen, zu verhängen, zu kontrollieren. Der Vorwurf geht, wie gesagt, an die Politik, die falschen BeraterInnen gewählt zu haben.
Ich frage mich, ob dieser Kritik an Politik und PolitikerInnen nicht auch etwas sehr Reflexhaftes anhängt. Ist das verzeihlich? Der Reflex reicht von Gesprächen an den sogenannten »Stammtischen« bis zu Artikeln in unseren einflussreichsten Printmedien, die sich als intellektuelle Orientierungshilfen definieren (oder tun sie das gar nicht mehr?). Nun sind die echten Stammtische Pandemie- oder »Maßnahmen«-bedingt in den virtuellen Raum gewandert, wo ihre Funktion aufgehoben ist, mal jenseits der Öffentlichkeit, im kleinsten bierseeligen Kreis, einfach den Frust und das Bauchgefühl rauszulassen, mal bar jeden Sachverstands hemmungslos auf »die da oben« zu schimpfen. Ihre Funktion ist aufgehoben, nicht ihr Niveau. Ich möchte sagen: Stammtisch ist nun überall.
Stammtisch kann auch Kehlmann, wenn er in besagtem Gespräch in DIE ZEIT auf Dorns Frage, »was überhaupt noch das genuine Feld von Politik« sei, einwirft: »Na ja, das genuine Feld der Politik wäre vielleicht, zu wenig Impfstoff zu bestellen.« Dorn nennt dies »Sarkasmus« , ich nenne es Stammtisch. Stammtisch bleibt Stammtisch. Da kann es noch so brillant formuliert sein, wie es Frau Dorn ausführt: »Heute glaubt man, dass nur derjenige einen wachen Realitätssinn hat, der an Modelle und Prognosen glaubt.« Dorn kann auch die verdrehte Opfer-Inszenierung, wenn sie von der »Gefahr« spricht, »als irrational, als Leugner bezeichnet zu werden, wenn man Skepsis an Modellierungen anmeldet.« Nun sind Modellierungen eben keine Prognosen, keine Orakel aus Glaskugeln, an die zu glauben wäre. Kein Modellierer, kein/e ernst zu nehmende WissenschaftlerIn behauptet dies.
Modellierungen zeigen, was unter welchen Bedingungen passieren kann und eröffnet die Möglichkeit, die Bedingungen so zu ändern, dass nicht eintritt, was wir nicht wollen. Es ist einer der weit verbreitetsten und gröbsten Denkfehler, der uns in dieser Pandemie begleitet: Es ist ja gar nichts passiert, also waren die Maßnahmen überflüssig – oder noch mal Kehlmann: »Zum Beispiel sind einige apokalyptische Voraussagungen von Virologen bei uns gottlob nie eingetreten.« Statt Gott zu loben, was ja auch nie schaden kann, wäre Dank für Warnungen, wäre Anerkennung für die Arbeit von ModelliererInnen und das kluge Reagieren darauf an dieser Stelle angemessen gewesen. Gibt es im »Land der Dichter und Denker« wirklich keine SchriftstellerInnen, die in der Lage gewesen wären, mit diesem Denkfehler aufzuräumen? Wo liegt die Verantwortung der ZEIT-Redaktion diesen mangelnden Sachverstand unter dem Motto »Der Einspruch der Künstler« zu reproduzieren und ihn somit, ob gewollt oder ungewollt, »salonfähig« zu halten? Stattdessen greift die Verdrehung vom Nicht-sagen-Dürfen auch hier, wenn Adam Soboczinsky, der Moderator des Gesprächs, bemerkt »Wissenschaftsskepsis ist nicht sehr populär« und zugleich der angeblich zu Unrecht verunglimpften Wissenschaftsskepsis den breitesten und zudem einen sehr exklusiven Raum einräumt am Stammtisch DIE ZEIT.
Was als Stammtischdummheit durchgehen kann und womöglich noch verzeihlich ist, hört für mich auf, wo Vergleiche nicht nur hinken, sondern den Beifall von der Querdenker- und Reichsbürgerszene geradezu befeuern. Wenn der Ausnahmezustand, der einer Pandemie wegen in Kraft getreten ist, mit dem Ausnahmezustand, den die Bush-Regierung nach den Anschlägen vom 11.9.2001 verhängte, verglichen wird, und Kehlmann resümiert »Guantanomo steht noch«, und Zeh ihm beipflichtet »Auch eine Art Ausnahmezustand«, dann hört für mich die Dummheit auf. Die Folgen des Ausnahmezustands 2001 in den USA, die Errichtung des Straflagers Guantanamo, die Jagd auf unter Generalverdacht gestellte Muslime, letztlich der Irak-Krieg, werden mal eben im Vergleich den »Maßnahmen« wie Schulschließungen, Maskentragen usw. gleichgesetzt. Wo ist noch der Unterschied zu den Schreien von »Merkel-Diktatur« und dem Sich-Selbst-Gleichsetzen von Querdenkern mit WiderstandskämpferInnen in einer der schlimmsten Diktaturen, die die Welt erlebt hat, der Nazi-Diktatur in Deutschland?
Wenn Thea Dorn munter zu einem ihrer Lieblingsthemen philosophiert, dass »der Tod eben nicht abschaffbar« sei, auch ein Einspruch gegen die »Unangemessenheit« der Corona- Schutz-Maßnahmen, dann frage ich mich, was sich die Menschheit unter diesem Diktum alles hätte ersparen können. Dann wäre es nicht nötig gewesen, Insulin und Penizillin zu entwickeln, das Tuberkulose-Bakterium zu entdecken, Impfungen möglich zu machen, ja überhaupt so etwas Absurdes wie Krankenhäuser zu bauen, Operationen durchzuführen, Hygienemaßnahmen zu etablieren, Intensivstationen einzurichten, gar noch Beatmungsgeräte zu erfinden. Wir könnten einander einfach fröhlich sterben lassen, so wie es ja im »goldenen Mittelalter« war, wo der Tod noch allgegenwärtig und nicht »tabuisiert« war. Auch Kehlmann findet es beruhigend, dass die Menschen während der Pest- Epedemien einfach ungehindert ihrem Alltag nachgegangen seien. Wir haben in manchen Teilen der Welt zusehen müssen, wie Menschen ohne medizinische Versorgung an Covid- 19 gestorben sind, wir sehen die Bilder von Menschen in Indien, die vor überfüllten Krankenhäusern auf der Straße ersticken. Auch wenn Frau Dorn nach dem nun schon bis zum Überdruss strapazierten Muster für sich behauptet, in »Gefahr zu sein«, »als kaltherzig zu gelten«, weil sie »nach Freiheit« rufe, so frage ich dennoch: Wie klein, wie kalt muss ein Herz sein, sich angesichts dessen, was in der Welt passiert, als missverstandene Philosophin zur Schau zu stellen? Ist es zu viel verlangt, bei allem, was man/frau unbedingt meint, in die Öffentlichkeit posaunen zu müssen, mitzubedenken, wie es den Angehörigen der an Covid-19 gestorbenen Menschen dabei geht? Oder den an den Langzeitfolgen der überstandenen Erkrankung Leidenden?
Viel verzeihen, ja, einander viel verzeihen müssen. Nein, aber nicht alles verzeihen. Nein, weil es gefährlich ist, wenn sich solche Muster weiter etablieren, weil die Grenze zur Unmenschlichkeit irreparabel geschädigt sein könnte. Weil es unsere Kraft kosten wird, unseren Mut, unseren Einspruch, sie wieder stark zu machen.
Ich fürchte anders als Juli Zeh nicht, dass der Ausnahmezustand und die zum Schutz vor Infektionen eingeführte Beschränkung von Bürgerrechten nach dem Ende der Pandemie von dieser oder der nächsten Regierung Deutschlands nicht vollständig zurückgenommen werden könnten. Es sei denn, die AfD wäre an der Regierung beteiligt. Aber ich fürchte, dass sich eine Esoteriker‑, Impfgegner- und AFD-konforme »Wissenschaftsskepsis« breit machen könnte, die auch den für die bereits anwesende Klimakrise gesprochenen Satz »follow the science« partout als »Gläubigkeit« missverstehen will und nicht als Aufforderung zu klugem, vorausschauenden komplexen Handeln. Den Verstand zu schulen und zu nutzen statt dem Kritikreflex zu folgen. Danken, anerkennen, relativieren, einfühlen, mitfühlen statt sich in größter Eitelkeit als ach so ungehörtes Pendant zu einer angeblich von Angst regierten, autoritätsgläubigen, zu »Gehorsam« bereiten Mehrheit zu inszenieren.
The poetry is in the pity
Wir sind da, es gibt uns, wir sind viele. Wir erheben Einspruch!
Künstlerinnen und Künstler, Dichterinnen, Schriftsteller, Theaterleute, Komikerinnen, Sänger und Songtexterinnen, Schauspieler, Malerinnen, Performer, die Verantwortung annehmen, die ihre Kunst auf Leiden und Mitleiden hin befragen, die sich für ein buntes, weltoffenes Deutschland, für ein respektvolles Miteinander einsetzen, die die Fähigkeit der Selbstreflexion und die Tugend der Gelassenheit in sich tragen … und wodurch sonst, wenn nicht durch die Kunst, ist es möglich, Widersprüche zugleich zu benennen und aufzuheben, den Menschen die Augen zu öffnen und den »Verdrängungsknoten platzen zu lassen« (Dennis Meseg, Installationskünstler), was nötig ist, um zu fühlen, zu trauern und Mensch zu sein.
Wir sind da. Wir sind viele.
Über mein Schreiben dieses Textes, dieser Streitschrift, ist es Ende Mai geworden, im Jahr 2021, an das wir uns sicher alle noch lange erinnern werden. Einiges scheint schon jetzt wie »Schnee von gestern«. Es hat keine Verschärfungen von Ausgangssperren gegeben.
Weil die Infektionszahlen sanken, wurden sie zurückgenommen. Mit dem Impfen geht es gut voran. Wir alle atmen etwas auf, auch wenn wir wissen, dass die Pandemie noch nicht ganz zu Ende ist. Auch wenn wir nicht wissen, welche Gefahren durch das Corona-Virus und seine Mutanten noch lauern. Es fühlt sich dennoch an, als käme eine Zeit zurückzublicken. Ich habe über so Unerfreuliches geschrieben, gestritten, polemisiert.
Mitten im Schreibprozess bekam ich Angst, »der Stoff« würde mich auffressen und ich könnte den Bogen zu Mitgefühl und Trauer nicht mehr hinbekommen. Aber ich musste es schreiben, nicht, weil ich Menschen anprangern, sondern weil ich Strukturen aufdecken will. Dass sie uns nicht (noch) gefährlicher werden.
In der »stillgelegten Gesellschaft« ist es nicht still gewesen. In der Stille wuchsen wunderbare Projekte, die obwohl nicht schrill und laut, doch groß und großartig sind.
Es gibt uns. Wir sind da.
In Hamburg: Sängerinnen und Sänger von der Staatsoper arbeiten mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf zusammen und unterstützen PatientInnen, die an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung leiden. Die Atemübungen, die sie selbst vor Proben und Auftritten machen, vermitteln sie den PatientInnen, damit diese ihre Atemmuskulatur stärken und ihre Lungenkapazität wieder vergrößern können.
In mehreren Städten Deutschlands: Gastronomen, die selbst von wirtschaftlicher Notlage bedroht waren, kochten ehrennamtlich für MitarbeiterInnen in den Krankenhäusern oder für Obdachlose.
In Berlin, Barcelona und dem virtuellen Raum: Während des ersten Lockdowns erfand Kathrin Schadt die Poesiewerkstatt für Kinder – »Poedu«! Immer freitags stellten LyrikerInnen und Lyriker den Kindern Aufgaben wie »Was sagt dein Tier?« »Schreibe ein Lügengedicht!« oder einen »Zauberspruch«… Kinder zwischen 4 und 14 Jahren luden ihre Gedichte in den virtuellen Raum und tauschten sich darüber aus. Inzwischen ist daraus auch ein wunderbares Buch entstanden…
In Washington: Die Künstlerin Suzanne Brennan Firstenberg stellt für jedes Opfer der Pandemie in den USA einen weißen Wimpel auf. Die Toten sollen nicht vergessen sein.
In Gotha, Weimar, Dresden und im virtuellen Raum: Unter dem Titel »mindestnähe« führen die SchriftstellerInnen Nancy Hünger und Stefan Petermann und die bildende Künstlerin Dana Berg mit einfühlsamen, tiefgründigen, poetischen Texten und Bildern durch die Zeit der Pandemie.
Ich bin sicher, es wird mehr und mehr Erzählungen, Gedichte, Romane, Theaterstücke geben, die nicht allein das Leiden an geschlossenen Opernhäusern und Cafés, an Home- Schooling und Home-Office in den Mittelpunkt stellen. Es wird Literatur geben, die keine Zweifel daran lässt, dass auch dieses durchaus reale Leiden nicht unangemessenen Maßnahmen, sondern einer Naturkatastrophe, einem Virus geschuldet war. Es wird LiteratInnen geben, deren Herzen groß genug sind, um verschiedenen Leiden ihren Platz einzuräumen, ihrer respektvoll zu gedenken ohne sie gegeneinander ausspielen zu müssen.
Die Aufgaben warten auf uns. Wir sind da.
Danke an alle, die so verantwortlich wie möglich versucht haben, Entscheidungen zu treffen. Danke an alle, die gegen Querdenker demonstriert haben. Danke an die Pfarrerin Frau Pfitzer aus Bad Urach, die in ihrer Predigt so klare Worte gegen Rechtsextremismus gefunden und mir damit bestätigt hat, dass sich die »Spaltung der Gesellschaft« nicht zwischen Stadt und Land, nicht zwischen Gläubigen und AtheistInnen vollzieht, sondern dort, wo Liebe, Mitleiden und Menschlichkeit enden. Danke an alle, die mehr und härter arbeiten mussten, unter erschwerten Bedingungen für andere da waren. Danke an alle, die es geschafft haben, ihr eigenes Leiden nicht über alles zu stellen. Danke an alle, die unvermeidliche Folgen von Kontaktbeschränkungen versucht haben zu lindern, die Lebensmittel zu bedürftigen Familien gebracht, die Nottelefone eingerichtet, die für gefährdete, infektionsanfälligere Menschen Einkäufe erledigt, die vor Altenheimen musiziert und via Internet Kinder zu Sport und Spaß animiert haben. Danke an die Angehörigen, die den Mut und die Kraft fanden und über ihren Verlust, ihre Trauer und die furchtbaren Umstände an Covid-19 zu sterben, berichtet haben. Danke an alle, die sich über die Grenzen Deutschlands hinaus für menschenwürdige Zustände einsetzen. Danke an alle, die unermüdlich nach bestem Wissen und Gewissen informiert, aufgeklärt und Fake News entlarvt haben. Danke an alle, die uns mit nicht verletzendem Humor die Situation ein wenig erleichtert haben. Danke an alle, die den virtuellen Raum genutzt haben, um andere zu unterstützen, zu erfreuen und ihnen über trübe Stunden hinwegzuhelfen. Danke an alle, die das dokumentiert haben. Danke an alle, die es nicht vergessen.
Quellen
Danke an die Kunststiftung NRW, die mich mit einem Stipendium für mein Projekt »Zeitlos – die Zukunft in der Krise« bedacht hat, in dessen Rahmen dieser Text entstand.
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