Landolf Scherzer – »Die Kämpfs. Eine Thüringer Familiengeschichte oder Die große Kraft der kleinen Leute«

Personen

Dietmar Jacobsen

Landolf Scherzer

Ort

Dietzhausen

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Dietmar Jacobsen

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstdruck in: Palmbaum, Heft 1/2025.

Diet­mar Jacobsen

»Schreib’s auf, Scherzer!«

 

Warum in die Ferne schwei­fen? Wir alle wis­sen natür­lich, wie das an Goe­thes Vier­zei­ler »Erin­ne­rung« sich anleh­nende Zitat wei­ter­geht. Für Lan­dolf Scher­zer, der im April sei­nen 84. Geburts­tag fei­ert, ging es im letz­ten Jahr­zehnt – nur ein­mal unter­bro­chen durch sein Buch »Der Rote« (2015) über die ers­ten hun­dert Amts­tage des Thü­rin­ger Lin­ken-Minis­ter­prä­si­den­ten Bodo Rame­low – immer weit hin­aus. China, Grie­chen­land, Kuba und die Krim hie­ßen die Rei­se­ziele des rasen­den Repor­ters aus Dietz­hau­sen. Für sein neues Pro­jekt ist der gebür­tige Dres­de­ner nun in der Nähe geblie­ben. Gerade ein­mal zehn Kilo­me­ter Land­straße tren­nen die Gemeinde, in der Scher­zer seit mehr als vier Jahr­zehn­ten zuhause ist, von Bens­hau­sen, in dem die Fami­lie Kämpf ihre Wur­zeln hat. Zu Fuß übern Berg ist es noch näher.

Auf­merk­sam auf die Sippe der Schnei­der von Bens­hau­sen machte Scher­zer ein Zufall. Ein ver­reg­ne­ter Tag ließ den Wan­de­rer im Thü­rin­ger Grenz­ge­biet Unter­schlupf suchen. Hier, in der Gast­stätte und Pen­sion »Thier­ba­cher Hof«, begeg­nete ihm mit der ehe­ma­li­gen LPG-Bäue­rin Mari­anne Stra­cke eine Frau, die seit Jah­ren die Geschichte ihrer Fami­lie erforschte und auf­schrieb, der Kämpfs aus Bens­hau­sen. Das erzählte sie Scher­zer frei­lich erst bei einem spä­te­ren Besuch. Und noch spä­ter, Mari­anne Stra­cke war inzwi­schen im Februar 2004 ver­stor­ben, erreich­ten den Schrift­stel­ler »zwei bis zum Rand gefüllte Kar­tons«, die alles ent­hiel­ten, was die gebo­rene Mari­anne Kämpf über ihre Fami­lie gesam­melt hatte. Und dazu die Auf­for­de­rung des­je­ni­gen ihrer Söhne, der das Mate­rial über­bracht hatte: »Schreib’s auf, Scher­zer!« Frei­lich muss­ten von da an noch fast 20 Jahre ver­ge­hen, ehe Lan­dolf Scher­zer die Zeit fand, die­ser Auf­for­de­rung tat­säch­lich nachzukommen.

Er tut es nun in sei­nem Buch »Die Kämpfs«. Und er tut es so, wie man es seit Jahr­zehn­ten von ihm gewohnt ist: mit viel Empa­thie für die Men­schen, kennt­nis­reich, was die his­to­ri­schen Para­me­ter betrifft, die Ein­fluss auf deren Leben hat­ten, und unterm Strich weit mehr lie­fernd als nur eine Thü­rin­ger Fami­li­en­ge­schichte, die über hun­dert Jahre zurück­reicht. Denn dass es bei der Fami­lie, um die das Buch kreist, um soge­nannte »kleine Leute« geht, ist ihm von Anfang an bewusst. Aber was macht das Leben von »unhel­di­schen Hel­den« eigent­lich aus? Wodurch unter­schei­den sich die klei­nen Leute von den großen?

Um diese Frage zu beant­wor­ten, hat sich Scher­zer an mehr als 30 Freunde, Bekannte und Pro­mi­nente gewandt und lässt sie zwi­schen den ein­zel­nen Kapi­teln sei­ner Fami­li­en­ge­schichte zu Wort kom­men. Gün­ter Wall­raff und Stef­fen Men­sching sind dar­un­ter, Hans-Die­ter Schütt und Jens-Fietje Dwars, Alte und Junge, im Berufs­le­ben Ste­hende wie Rent­ner, Wis­sen­schaft­ler, Künst­ler, Kir­chen­leute. Und so unter­schied­lich im Detail deren Ant­wor­ten auch aus­fal­len, eint sie doch eine Über­zeu­gung: Ohne diese soge­nann­ten »klei­nen Leute« geht nichts. Sie sind die, die die Dinge am Lau­fen hal­ten. Und in der Regel wenig Dank dafür ern­ten. Man nimmt für selbst­ver­ständ­lich, was sie tun. Obwohl das oft viel mehr ist, als man eigent­lich von einem Men­schen in sei­nem kur­zen Leben erwar­ten kann.

Die Fami­lie Kämpf jeden­falls – ange­fan­gen bei den bei­den Groß­müt­tern, der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen »roten Anna« und der vor allem auf ihren Herr­gott ver­trau­en­den »schwar­zen Anna«, und (zumin­dest in Scherzers Buch) endend mit Mari­anne Stra­cke und ihren fünf Kin­dern – steht exem­pla­risch für diese Spe­zies der »klei­nen Leute«. Obwohl sich auch in ihr Men­schen fin­den lass­sen, deren Leis­tun­gen sich in den Zei­tun­gen wie­der­fan­den. Trotz­dem hat kei­ner von der Sippe, deren Weg durch das zwan­zigste Jahr­hun­dert das Buch ver­folgt – aus dem Kai­ser­reich in die Wei­ma­rer Repu­blik und anschlie­ßend durch die Nazi­jahre bis zur deut­schen Zwei­staat­lich­keit und deren Ende 1989/90 sowie die Jahre des Neu­an­fangs nach dem Ende der DDR – sich über sein Schick­sal beklagt. Die Män­ner der Fami­lie haben in zwei Welt­krie­gen gekämpft und ansons­ten haupt­säch­lich in Bens­hau­sen auf dem Schnei­der­tisch geses­sen. Die Frauen haben ver­sucht, die Daheim­ge­blie­be­nen so gut wie mög­lich durch oft schwie­rigste Zei­ten zu bringen.

Das ging nicht immer ohne Zank und Zagen – aber ver­zwei­felt ist wohl kei­ner der Kämpfs. Nicht die früh­zei­tig gelähmte »schwarze Anna«, die trotz ihres Lei­dens vier Kin­dern das Leben schenkte; nicht ihr Sohn Artur, der sei­nen Kind­heits­traum, Leh­rer zu wer­den, gegen allen Wider­stand durch­setzte und als Ers­ter der Fami­lie 1951 die DDR ver­ließ, weil der sozia­lis­ti­sche Staat dem Kriegs­heim­keh­rer Steine in den beruf­li­chen Weg legte; nicht Mari­anne, Arturs geliebte Toch­ter, die der Fami­lie nicht nach Forch­heim folgte, son­dern als enga­gierte Bäue­rin in der Gemeinde Barch­feld ihr beschei­de­nes Glück suchte.

Lan­dolf Scher­zer lässt, so oft es geht, seine »Hel­den« selbst zu Wort kom­men, flicht lange Pas­sa­gen aus Mari­anne Stra­ckes Vor­ar­bei­ten zu ihrer Fami­li­en­ge­schichte ein, zitiert ganze Briefe und reka­pi­tu­liert Begeg­nun­gen mit ein­zel­nen Fami­li­en­mit­glie­dern. Unterm Strich ist ihm mit »Die Kämpfs« damit tat­säch­lich ein Hohe­lied auf die, wie es im Unter­ti­tel heißt, »große Kraft der klei­nen Leute« gelun­gen, das man mit Span­nung ver­folgt, selbst wenn die vie­len Feh­ler, die der Text ent­hält, die Lek­türe gele­gent­lich ein wenig ärger­lich machen.

 

  • Lan­dolf Scher­zer: Die Kämpfs. Eine Thü­rin­ger Fami­li­en­ge­schichte oder Die große Kraft der klei­nen Leute. Edi­tion Orna­ment im quar­tus Ver­lag, Jena 2024, 280 Sei­ten, 25,00 Euro.
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