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Jens-Fietje Dwars
Erstdruck in: Palmbaum 2/2022. Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Jens‑F. Dwars
Gründe und Abgründe
Seit Jahrzehnten zieht es Landolf Scherzer an soziale Brennpunkte. Vom Herbst 1991 bis zum Frühjahr 92 lebte er in Kaluga, um sich und seinen Lesern ein eigenes Bild vom Zerfall der Sowjetunion zu machen. Seine Begegnungen mit Litauern, Tataren, Russen, Ukrainern und Wolgadeutschen hielt er in dem Buch Am Sarg der Sojus fest, das der THK-Verlag in Arnstadt 29 Jahre nach seinem Ersterscheinen neu aufgelegt hat. Verlag und Autor widmen es jenen Russen und Ukrainern, die sich gegen Nationalismen auflehnen. Als Motto stellen sie voran: »Wer über das Heute spricht, sollte auch das Gestern kennen.«
Man darf das Buch als Antwort auf den 24. Februar 2022 lesen. Doch inwieweit hilft uns dieses Gestern das Heute zu verstehen? Liegt der Krieg zwischen Russland und der Ukraine im Zerfall der Sowjetunion begründet? Oder hat dieses Auseinanderbrechen nur etwas beschleunigt, was die Sojus wie ein Mantel verdeckt hat: Nationalinteressen und ihre nationalistischen Ideologien?
In westlichen Medien heißt es immer wieder, Putin wolle die Sowjetunion wiederherstellen. Tritt er nicht eher das Erbe der russischen Zaren an? Sodass dieser heiße Krieg nichts mit dem Kalten zu tun hat: es geht nicht mehr um unterschiedliche Systeme, sondern um die Machtinteressen kapitalistischer Imperien, zwischen denen die Ukraine zerrieben wird.
Scherzer berichtet eindrucksvoll vom Erleben russischer Gastfreundschaft: je weniger die Leute besitzen, desto freigiebiger teilen sie es. Sie sprechen von der Geduld und Leidensfähigkeit der Russen, ihrer »großen Seele«, die im Wodka badet, von ihrem Warten auf den »gerechten Staat«, ihrem Erwarten eines neuen Peter, der Große, und eines »russischen Kapitalismus«, in dem alle Brüder sind. Und dann sagt eine GuLag-Überlebende: »Mein russisches Volk ist gut … Aber wenn es an etwas glaubt und denkt, in diesem Glauben zu handeln, ist es grausam wie ein wildes Tier.« Sind das gelebte Klischees oder heimlich unheimlich nachwirkende Ausdrucksformen einer vormodernen Mentalität, die noch immer von dem geprägt sind, was Marx den »asiatischen Despotismus« nannte? Fragen über Fragen, die das spannende Buch aufwirft. Erfahrungsgesättigte Erkenntnisse sind allemal wichtiger als kriegerische Bekenntnisse!
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