Katrin Bibiella – »Raue Nächte. Gedichte«

Personen

Katrin Bibiella

Dietmar Ebert

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Dietmar Ebert

Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Gele­sen von Diet­mar Ebert

 

Kat­rin Bibi­ella ist 1964 in Wei­mar gebo­ren. Sie stu­dierte zunächst Kir­chen­mu­sik und Orgel in Leip­zig und Bre­men, danach All­ge­meine und ver­glei­chende Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, Phi­lo­so­phie und Geschichte in Bie­le­feld und Mainz. Pro­mo­viert hat sie mit einer Arbeit über Peter Huchel und René Char. Sie ist Her­aus­ge­be­rin von sechs Bän­den Das ver­ges­sene Wort. Vom Reich­tum der deut­schen Spra­che, die von 2006 bis 2012 in Mainz erschie­nen sind. Atmende Umar­mung und Der Gei­ger in der Woge, so hei­ßen ihre bei­den ers­ten Gedicht­bände, die 2014 und 2016 in Ober­hau­sen ver­öf­fent­licht wurden.

Nun liegt mit Raue Nächte ihr drit­ter Gedicht­band vor, der 91 Gedichte ver­eint, die in sechs Abtei­lun­gen unter­glie­dert sind. Der schön gestal­tete Band ist mit einer Radie­rung des 1934 gebo­re­nen Bil­der­poe­ten Horst Hus­sel ver­se­hen. Die drei­ßig Jahre jün­gere Kat­rin Bibi­ella hat Gedichte von gro­ßer Anmut, Musi­ka­li­tät und Schön­heit geschrie­ben. Mag sein, sie wir­ken in unse­rer sich extrem beschleu­ni­gen­den Welt wie aus der Zeit gefal­len. Doch ist es weni­ger das Inne­hal­ten, die Lang­sam­keit, das Zurück­füh­ren des Lesens und Spre­chens auf ein natür­li­ches Maß; was ihre Gedichte so anzie­hend macht, es ist viel­mehr das, was der Sozio­loge Hart­mut Rosa das Gegen­stück zur Beschleu­ni­gung nennt: die Reso­nanz. Die Dich­tung ergreift und erhebt uns, sie ver­setzt uns in Schwin­gun­gen. Kat­rin Bibi­ella schreibt Sonette, als sei es das Natür­lichste auf der Welt. Für Wil­liam Shake­speare, Johann Wolf­gang Goe­the, Hein­rich Heine und August Wil­helm Schle­gel, ja noch für Rai­ner Maria Rilke und Hugo von Hof­manns­thal, Georg Trakl, Georg Heym und Johan­nes R. Becher, selbst noch für Karl Mickel und Rai­ner Kirsch gehörte das Schrei­ben von Sonet­ten zum lite­ra­ri­schen Handwerk.

In der Lite­ra­tur der Gegen­wart ist das Sonett zur Sel­ten­heit gewor­den. Ein Groß­teil der Leser­schaft kennt es nicht mehr. In der Lyrik hat sich das freie Metrum fast voll­stän­dig durch­ge­setzt, und in einer Viel­zahl der Gedichte wird auf Reim­sche­mata ver­zich­tet. Kat­rin Bibi­ella ver­fügt über die wun­der­bare Bega­bung, ihre Betrach­tun­gen der Natur- und Kul­tur­land­schaf­ten, auch der Kunst­räume, ganz natür­lich in die Sonett-Form flie­ßen zu las­sen. Viel­leicht hat sie ihre Aus­bil­dung als Kir­chen­mu­si­ke­rin und Orga­nis­tin für diese strenge lyri­sche Form sen­si­bi­li­siert, viel­leicht auch ihre Wie­der­ent­de­ckun­gen ver­ges­se­ner lite­ra­ri­scher Ausdrucksformen.

In Flie­hen­des Sonett, Überm Nebel, Gewit­ter-Sonett, Dräu­en­des Gewit­ter-Sonett, Wüs­tes Gewit­ter-Sonett, Apfel-Gedicht und Buchen im Früh­ling gelingt es der Dich­te­rin, Natur­stim­mun­gen im Sonett zu beschrei­ben. Wenn Kat­rin Bibi­ella sich in Kunst­werke, Bil­der und Plas­ti­ken ver­tieft, so scheint dafür das Sonett die ange­mes­sene Form zu sein, wie Ange­lika Kauf­mann I und II, Win­ter-Sonett, Stadt-Sonett, Im März II, Vio­li­nist, Hor­nist und Tri­an­gel­tän­zer den Lesern ein­dring­lich vor Augen füh­ren. Beson­ders ein­drucks­voll setzt die Lyri­ke­rin den Zusam­men­klang von Archi­tek­tur und Land­schaft in wech­seln­den Tages­zei­ten ins Bild. Orvieto, Hän­gen­der Gar­ten von Man­tua, Santa Maria Dei Mira­coli Vene­dig, Dorn­bur­ger Schlös­ser, Dorn­burg im Nebel sowie Kreuz­gang I und II zei­gen, wie vor­züg­lich das Sonett geeig­net ist, Kul­tur­land­schaf­ten poe­ti­schen Aus­druck zu verleihen.

Das Sonett ist nicht die ein­zige Gedicht­form, die Kat­rin Bibi­ella meis­ter­haft beherrscht, auch kleine, schlanke, reim­lose Gedichte wie Herbst­zeit­lose, Eine Art, den Regen zu beschrei­ben und Frü­her Schnee sind gelun­gene lyri­sche Minia­tu­ren, denen eine große Musi­ka­li­tät inne­wohnt. Dank ihrer Dop­pel­be­ga­bung als Musi­ke­rin und Dich­te­rin fin­det Kat­rin Bibi­ella zu immer neuen Varia­tio­nen über Wort und Klang, wie in Klang­ge­dicht I und II und Klang­stein und Stimme.

Viel­leicht fin­det diese Dop­pel­be­ga­bung ihren schöns­ten Aus­druck in Gros­ses Regen­stück, in dem die Dich­te­rin erzählt, wel­che Bil­der Felix Men­dels­sohn-Bar­thol­dys Ora­to­rium Elias bei ihr aus­lö­sen: Das ganze Orches­ter, Kör­per im Ein­klang. Traum der Menschheit.

Sei es die Musik, sei es Goe­thes Gar­ten­haus oder die von ihm so gelieb­ten Schlös­ser in Dorn­burg, seien es die Fens­ter Marc Chagalls in der Main­zer Ste­phans­kir­che, sei es eine Win­ter­land­schaft oder nur eine Apfel­blüte, alles wird Kat­rin Bibi­ella zur berüh­ren­den Dich­tung, selt­sam fern der geschäf­ti­gen Welt. Ihre Gedichte wer­den es nicht leicht haben, eine grö­ßere Leser­schaft zu errei­chen. Doch wer ein­mal diese Lese­früchte gekos­tet hat, der wird immer wie­der nach ihnen ver­lan­gen, weil sie einen unver­zicht­ba­ren poe­ti­schen Kern ber­gen. Sie lösen wie ein Spa­zier­gang am Meer, der Besuch einer Kathe­drale, die Betrach­tung eines Gemäl­des, das Hören von Bach oder Men­dels­sohn ein Gefühl der Reso­nanz aus.

So sind sie auch Medi­zin gegen den Beschleunigungswahn.

  • Kat­rin Bibi­ella: Raue Nächte. Gedichte, Die Weiße Reihe, Band 12, quar­tus-Ver­lag Bucha bei Jena 2017.
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