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Jan Volker Röhnert
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Wiedergelesen von Jan Volker Röhnert
»Wo der Salat süße schmeckt – Mit Jürgen Beckers Aus der Geschichte der Trennungen durch Erfurter Erinnerungslandschaften«
»Da saß ein Mann im Zug und fuhr in die verloren geglaubten Provinzen der Kindheit hinein, begleitet von der Angst, es könnte wiederum nur der Traum sein, der jahrzehntelang wie ein Film durch seine Nächte gelaufen war, der Film vom Verlassen der hohen Bahnhofshalle und vom langsamen Gehen über den Bahnhofsvorplatz; gegenüber breitet sich das Gebäude des Hotels Kossenhaschen aus; seit er in den Fernsehnachrichten den Platz und das Gebäude wiedergesehen hatte mit dem im Fenster erscheinenden Willy Brandt, wußte er auch im Traum, daß sich das Hotel jetzt Erfurter Hof nannte; der Traum wiederholte sich ja jedes Jahr mindestens einmal, und mit jeder Wiederholung schien er an Realität zuzunehmen und die Passage der Bahnhofsunterführung, die Brücke über die Gera, die breite Treppe hoch in den Park der Daberstedter Schanze, die beiden links und rechts einbetonierten Bunkereingänge, den vor dem Parkgemäuer aufgegabelten Verlauf der Straßen und Straßenbahnschienen mit einer Deutlichkeit wiederkehren zu lassen, daß in jedem folgenden Traum der Träumende sich sagte: jetzt träume ich nicht mehr, jetzt bin ich wirklich wieder da.«
Von wem stammt dieser Satz? Vom namenlosen Ich-Erzähler des Romans, dem Schatten seines eigentlichen Protagonisten Jörn, von diesem, der wiederum ein fiktives Double seines Autors Jürgen Becker repräsentiert, oder vom Autor Jürgen Becker selbst? So, wie die erzählende Figur sich in verschiedene Instanzen aufspaltet, um als reale Person hinter der Imagination von »ich«, »er« und »wir« zu verschwinden, spaltet sich die Zeit in verschiedene Ebenen auf, die wiederum von einem Absatz zum nächsten springen, sich gegenseitig überlagern und bis zur Unkenntlichkeit durchdringen können: Was ist in Aus der Geschichte der Trennungen heute, was damals, was ist Erinnerung, was ist Chronik, historische Wahrheit und was subjektiver Erlebnisbericht, was Zeitzeugenschaft? Die Wahrheit dieses 1999 erschienenen Romans ist, dass das objektiv Getrennte zusammengehört, zumindest in den Zwielichtzonen des Traums und Tagtraums immer schon zusammengehörte, nun auch äußerlich ›zusammenwächst‹, wie Helmut Kohl sich zur Jahreswende 1989/90 ausdrückte, aber auf eine geradezu unheimliche, die Protagonisten mit ihren schlimmsten Traumata einholende Weise: Nur der Zurückhaltung des Autors und seines Erzählers ist es zu verdanken, dass Aus der Geschichte der Trennungen nicht eine Reise ans Ende der Nacht geworden ist.
Es ist der 3. Oktober 1990, an dem sich »Jörn« – Beckers autobiographisches Alter Ego – spontan entschließt, mit der Bahn nach Erfurt, dem er als Fünfzehnjähriger im Sommer 1947 zusammen mit dem Vater den Rücken gekehrt hatte, zu fahren, um dort nach Spuren seiner Kindheit zu suchen; aus dem Rheinland war die Familie im Sommer 1939 wegen des Berufs des Vaters nach Thüringen umgezogen. Die Befremdung, gezuckerten Salat vorgesetzt zu bekommen (»bei uns, da muß er ehm sieße sein«) und von den Klassenkameraden seines Kölschen Akzents wegen ausgelacht zu werden, weicht der Identifikation mit diesem großen Abenteuerspielplatz, zu dem die Stadt für den Jungen während der Kriegsjahre wird: der nahe Steigerwald mit der Kaserne der ersten Panzerdivision – mein Zeitgefühl verwirrt sich vollends, wenn ich mir dabei vorstelle, der junge Jürgen Becker könne meinem eigenen Großvater, der in dieser Kaserne Panzer reparierte, begegnet sein –, die Weite des Erfurter Beckens, Mühlhausen, Nordhausen, das Harzvorland. Dann gibt es den alternden Jörn, der Ende der Neunziger Jahre in einer verlassenen Siedlung des niederen Fläming mit den verbliebenen Dorfbewohnern beim Nordhäuser sitzt und all das zu rekonstruieren versucht, was dem kleinen Jörn die Welt und das Leben bedeutete, bis sich mit einemmal alles schlagartig änderte… Das Erinnern ist kein konstanter Strom, es schweift ab, kehrt zur Gegenwart zurück, macht beim Segelfliegen Bekanntschaft mit jener Perspektive, welche einst den »Bomberverbände aus dem Raum Braunschweig« gehörte, hört sich Englisch und Russisch reden und umkreist immer den Fixpunkt Erfurt, das ihm wie die Mitte der Welt – als solche galt es dem anderen großen Exil-Erfurter Reinhard Lettau ohnehin – phantomartig überallhin folgt; und als er es wiedergewonnen zu haben scheint, wird es ihm nur umso fremder als zuvor und das Geländefahrzeug seiner Erinnerung schiebt sich durch bekannt-unbekannte Straßen, um sich den Geistern, die die Namen heraufbeschwören, gegenüberzusehen:
»In all diesen Jahren, sagte Jörn, lebte der Junge mit dem Gelände, als gehörte es ihm. Die Landschaft vor unseren Fenstern, es war die Kindheit im Krieg. Uniformen und Kasernen, Gärten und brennende Gartenlauben, Kübelwagen und Rodelschlitten, Liegewiesen, Luftangriffe, Zwetschgenbäume, Flaksplitter und Hagebutten, Schüsse, Fallobst, Sperlinge und Flugabwehr, Stiefelspuren im Sand, Hasenspuren im Schnee.«
Wer mit Jürgen Becker in dieses Aus der Geschichte der Trennungen in der Erinnerung erstehende Erfurt zurückgeht, erhält nicht nur eine ungeschönte, schulbuchwürdige Lektion über den Alltag Heranwachsender in Deutschland direkt vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch einen Eindruck davon, wie wir mitten in der Gegenwart von unseren Vergangenheiten eingeholt werden – jener Zeit, die nie vergeht, weil sie unser Gedächtnis ist.
Taschenbuchausgabe des Suhrkamp Verlages von 2001 / Suhrkamp Verlag.
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